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Ohne Russlands Zar kein Großer deutscher Zapfenstreich

Ex-Verteidigungsministerin Lambrecht wird mit großem Zeremoniell verabschiedet. Einst war das für Schlachten bedeutsam, weiß man im Dresdner Militärhistorischen Museum.

Von Bernd Klempnow
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Ohne Trommler geht kein Großer Zapfenstreich, wie man ihn seit dem 19. Jahrhundert auch in Deutschland kennt.
Ohne Trommler geht kein Großer Zapfenstreich, wie man ihn seit dem 19. Jahrhundert auch in Deutschland kennt. © Bundeswehr

Befehl ist Befehl. Mag ja Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin eine wohl denkbar schlechte Besetzung gewesen sein, auch sie wird wie alle Minister und Ministerinnen vor ihr mit militärischen Ehren verabschiedet. Obwohl schon Mitte Januar nach massiver Kritik zurückgetreten, wird sie nun Ende März mit einem Großen Zapfenstreich geehrt. Ihr Nachfolger Boris Pistorius hätte vorher keine Zeit gehabt, heißt es.

Die rund 100 Musiker und Musikerinnen des Stabsmusikkorps der Bundeswehr werden den Zapfenstreich im Fackelschein feierlich gestalten. Er ist das protokollarisch höchstrangige militärische Zeremoniell der Bundeswehr und gilt als höchste Auszeichnung. Scheidende Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Verteidigungsminister und Generäle werden derart verabschiedet. Es gibt Rituale und eine klare Struktur etwa mit Anmarsch, Serenade und dann verschiedenen Musikstücken und Befehlen. Die Nationalhymne beschließt das Zeremoniell. Die Gesamtdauer beträgt etwa 20 Minuten.

Wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) Staatsgäste wie hier Petr Pavel, Präsident von Tschechien bei dessen Antrittsbesuch in Deutschland mit militärischen Ehren vorm Schloss Bellevue begrüßt, ist stets auch Militärmusuik dabei.
Wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) Staatsgäste wie hier Petr Pavel, Präsident von Tschechien bei dessen Antrittsbesuch in Deutschland mit militärischen Ehren vorm Schloss Bellevue begrüßt, ist stets auch Militärmusuik dabei. © dpa/Bernd Von Jutrczenka

Merkel wollte Nina Hagen in Blech

Flexibel ist der sogenannte Serenaden-Teil. Hier dürften sich die Geehrten etwas wünschen. Bundeskanzlerin Angela Merkel beispielsweise wählte im Dezember 2021 für diese Stelle unter anderem Nina Hagens DDR-Song „Du hast den Farbfilm vergessen“. Dafür mussten die Noten für das gesamte Orchester und seine besondere, blechdominierte Besetzung neu geschrieben werden. Und auswendig müssen die Musiker die jeweiligen Stücke auch kennen. Wer absichtlich falsch spielt, wird mit einer Geldbuße bestraft.

Große öffentliche Aufmerksamkeit finden die Großen Zapfenstreiche zur Verabschiedung der aus einem Amt Scheidenden. Tatsächlich aber findet das Zeremoniell jährlich etwa 20- bis 30-mal statt. Damit hält die Bundeswehr an einer langen Tradition fest. Denn der Große Zapfenstreich geht auf den Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon zurück. Nach der Schlacht von Großgörschen im Jahre 1813 besichtigte der preußische König Friedrich Wilhelm III. zusammen mit dem russischen Zaren Alexander I. am Abend das russische Lager. Wie es im russischen Heer üblich war, sangen die Soldaten nach dem Zapfenstreich einen Choral. Beeindruckt und ergriffen befahl der König per Kabinettsorder für die preußischen Truppen die Einführung eines Gebetes nach dem Zapfenstreich. Damit erlangte der Zapfenstreich – wenn auch zunächst nur in Preußen – seine erste zeremonielle Bedeutung.

Den Zapfenstreich an sich kennt man viel länger. Er ist die militärische Bezeichnung für den Zeitpunkt, ab dem ein Soldat im Quartier zu verbleiben hat. Seit den Landsknechten im 16. Jahrhundert, den Berufskriegern der Frühneuzeit, ist der Beginn der Nachtruhe derart überliefert. „Bei den immer größer werdenden militärischen Organisationen wurde auch die militärische Disziplin immer wichtiger“, sagt der Historiker Gerhard Bauer vom Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. Der Zeitpunkt dürfte die Dämmerung gewesen sein. „Er war keine Schikane, sondern für die Sicherheit und Übersicht, den Kampferhalt und die Einsatzbereitschaft bedeutsam.“ Das Signal zur Nachtruhe bis zum Wecken wurde mit der Trommel, dem Horn oder der Trompete gegeben. Es galt in der Regel nur für Gemeine und Unterführer. Offiziere sollten nur Ruhe bewahren, durften aber sogar weiter Alkohol konsumieren.

Der Militärmusiker konnte ohne Angst desertieren

Der Name selbst soll sich davon ableiten, dass zu einer bestimmten Stunde ein Kreidestrich über den Zapfen der Fässer gemacht wurde, um das Verbot des weiteren Getränkeverkaufs kontrollieren zu können. Eine andere Erklärung ist, dass der Wachhabende zum Zeichen des Feierabends mit dem Schwert oder Degen über den Zapfen der Bierfässer strich.

Auch interessant: In den napoleonischen Kriegen kam Musik hinzu. Die Signalgeber an Trompete und Trommel waren vollwertige Soldaten. Die anderen Militärmusiker hingegen waren meist nur Zivilisten – freilich welche, die in prächtigen Uniformen Eindruck schinden sollten. Diese wiederum „waren so wertvoll, weil so gut ausgebildet, dass sie, wenn sie desertierten, um woanders besser zu verdienen, nach der Ergreifung nicht wie desertierte Soldaten hingerichtet, sondern wieder eingereiht wurden“, so Bauer, der der Sachgebietsleiter für Uniformen und Feldzeichen im Dresdner Museum ist und eben auch der inoffizielle Militärmusik-Beauftragte.

Und als solcher weiß er, welche Bedeutung einst die Militärmusik im Leben der Menschen gespielt hatte. Längst war die militärische Funktion der Kapellen auf dem Exerzierhof und Schlachtfeld verloren. Im 19. und 20. Jahrhundert avancierten sie mit ihren regelmäßigen öffentlichen Auftritten als Kulturvermittler fürs Volk, das sich andere Konzerte nicht leisten konnte. Ihr Repertoire aber war sehr vielfältig mit der Aufnahme von Chorälen, Volksliedern, Folklore und Klassik, inzwischen ist es noch facettenreicher mit Einflüssen von Jazz, Pop und Rock. Musikmeister und Inspizienten sorgten einst für Ordnung und Vielfalt, die Musiker waren Studierte. Selbst Richard Wagner hat für ein in Bayreuth stationiertes Regiment Fanfaren komponiert. „Zivile Orchestermusiker waren zuweilen neidisch auf die Militärmusiker, weil diese sehr gut ausgebildet waren und in den Uniformen schick aussahen“, sagt Gerhard Bauer. Und weil sie recht schnell den Jazz in Europa draufhatten. In Dresden gab es im Musikkorps nach dem Ersten Weltkrieg eine eigene Jazz-Kapelle.

Das Saxofon der "Negermusik" selbst in der Leibstandarte

Wieso gibt es eine Verbindung von Militärmusik und Jazz? Eine Erklärung: Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg nahm die Armee auch ehemalige Sklaven auf. Sie brachten Arbeitslieder, Blues und Spirituals ein. Und da der Blechanteil am Instrumentarium von Militärkapellen relativ groß ist, entstand aus der Symbiose eine ganze neue, so ungemein farbige Musik.

Zudem waren die Militärmusiker offen für Neuerungen. Deshalb gehörte das Saxofon als Vermittler zwischen dem „wärmend-biegsamen“ Klang der Klarinette und dem eher durchdringenden, näselnden Sound der Oboe alsbald zum Bestand – schon beim deutschen Kaiser.

Kurios: Obwohl der Jazz und sein wohl wichtigstes Instrument, das Saxofon, laut Nazi-Ideologie als „Negermusik“ verboten waren, legte Hermann Göring als Chef der deutschen Luftwaffe Wert darauf, dass sein Luftwaffenmusikkorps Saxofon spielte. Selbst im Musikkorps der Leibstandarte war das schöne Instrument gewünscht.„Heute treten Militärkapellen eher in geschützten Räumen oder bei Repräsentationsterminen auf, um Armee-Gegnern keine Stör- und Angriffsmöglichkeiten zu bieten“, sagt Gerhard Bauer. Dabei hat diese Musik viele Fans und füllt Arenen. „Die 14 Marine-, Gebirgs- und Heeres-Musikkorps plus die Big Band der Bundeswehr sind das ganze Jahr über ausgebucht.“

Allein das Stabsmusikkorps leistet protokollarische Ehrendienste für alle Staatsgäste der Bundesrepublik. Dabei spielt es jährlich über 70 verschiedene Nationalhymnen. Zudem präsentiert es sich in den großen Konzertsälen in und um Berlin. Zu hören ist es regelmäßig in der Berliner Philharmonie, dem Konzerthaus am Gendarmenmarkt und im Berliner Dom.

Und der Reim auf Christine Lambrecht? In der immer wieder lohnenden Ausstellung im Militärhistorischen Museum in Dresden grüßt eine sinnstiftende Formel eingangs der Musikabteilung: „Militärmusik feuert an, sie unterdrückt Angstgefühle. Sie verhöhnt den Feind und untermalt Trauer und Triumph.“

Der ARD- und ZDF-Kanal Phoenix berichtet am 28. März, ab 20.15 Uhr vom Großen Zapfenstreich für die ehemalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD).