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Sachsens Kultur kann aus der Corona-Krise lernen

Bühnen und Museen öffnen wieder. Doch die Krise ist auch hier nicht vorbei. Es wird Zeit, dass der Kulturbetrieb seine Rolle neu findet. Ein Kommentar.

Von Marcus Thielking
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Der Vorhang auf - und alle Fragen offen...
Der Vorhang auf - und alle Fragen offen... © E+

Dänemark und Sachsen kann man kaum vergleichen. Doch heute gibt es eine interessante Gemeinsamkeit – und einen wichtigen Unterschied. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass hier wie dort von diesem Wochenende an wieder Theater, Konzerthäuser, Kinos und Museen öffnen. Der Unterschied: In Dänemark ist die Spitze der Omikron-Welle schon durchgerauscht. In Sachsen geht es jetzt erst los.

Realisten ziehen deshalb die Möglichkeit in Betracht, dass hier bald wieder Schluss sein könnte mit Bühne, Film und Kunst. Musiker würden sagen: Schlechtes Timing. Dänemark hatte erst im September die Corona-Verbote aufgehoben. Dann kam Omikron, im Dezember der nächste Lockdown.

Kleiner Unterschied auch hier: Die Dänen konnten damals mit der hochansteckenden Virusvariante nicht rechnen. Die Sachsen hingegen können wissen, was da kommt. Von den unterschiedlichen Impfquoten ganz zu schweigen.

Ingenieure und Künste

Sachsen preist sich gern als Land der Ingenieure und schönen Künste. Pragmatischer Realismus und kultivierter Feingeist könnten hier Hand in Hand gehen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Seit dem Jahreswechsel wurde das Murren der Kulturbranche über die Corona-Beschränkungen immer lauter.

Zuletzt forderte sie in einem offenen Brief sogar, Kultureinrichtungen künftig selbst dann offen zu halten, wenn die Auslastung von Krankenhäusern mit Covid-Patienten wieder den Grenzwert überschreitet. Kein Zweifel: Die Nerven liegen blank.

Das ist verständlich, denn die Kulturszene hat sich lange Zeit in bewundernswerter, manchmal zähneknirschender Geduld und vorbildlicher Disziplin geübt. Zu Recht verweisen die Häuser auf ausgefeilte Hygienekonzepte. Und es ist wirklich absurd, wenn sich bei Ikea Menschenmassen an Polstermöbeln vorbeischieben, die Alten Meister jedoch nicht mal mit strengen Auflagen öffnen dürfen.

Radikale Kulturkritik

Dass Beschränkungen für die Kultur jetzt, wo die Inzidenzen in Sachsen niedrig sind, aufgehoben werden, ist legitim – und für alle Kulturliebhaber ein Grund zur Freude. Aber offen bleiben um jeden Preis, auch wenn Krankenhäuser wieder volllaufen sollten? Mit dieser Forderung bricht der verbreitete Dünkel hervor, der Kulturbetrieb schwebe über den Dingen.

Nach zwei Jahren Pandemie und mehrfachem Lockdown wäre etwas Demut angebracht. Man muss es nicht so extrem sagen wie der Philosoph Jean-Jacques Rousseau, für den Theater nichts als „Zeitvertreib“ war. Das Wohl der Menschheit sah er in der Begegnung an der frischen Luft. Er polemisierte gegen Schauspielhäuser, „bei denen eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend“.

Radikale Kulturkritik aus dem 18. Jahrhundert. Womöglich ist aber an Rousseaus Gedanken etwas dran, dass öffentliche Kulturveranstaltungen mitnichten das allein Seligmachende für eine Gesellschaft sind.

Die Freiheit der Kunst

Voller Pathos wird jetzt wieder die Bedeutung der Kultur für die Menschheit im Allgemeinen, die Gesellschaft im Besonderen und die Demokratie im Speziellen betont. Das ist alles richtig, deshalb ist die Freiheit der Kunst ein Grundrecht, deshalb fördert der Staat Kultur mit Milliarden, in Sachsen pro Kopf sogar mehr als in jedem anderen Bundesland.

Aber versinkt schon die Bevölkerung in Barbarei, weil Museen, Theater und Konzerthäuser wegen Corona längere Zeit geschlossen waren? Wobei ja niemandem verboten war, Bücher zu lesen, Filme zu schauen oder Musik zu hören.

Für Teile des Kulturbetriebs und viele Künstlerinnen und Künstler ist die Situation existenzbedrohend. Doch genau darin unterscheidet sich die Kultur gar nicht von Sportvereinen, Hotels und Kosmetikstudios. Für die Beschäftigten der Kulturindustrie ist es eine ernüchternde Erkenntnis, dass all die großen Worte vom besonderen gesellschaftlichen Stellenwert der Künste nur Sonntagsreden waren. Wenn es Knall auf Fall kommt, setzt die Politik ganz andere Prioritäten. Das könnte sich künftig auch in der Kulturförderung bemerkbar machen.

Mut zu Experimenten

Ist das eine Katastrophe? Theaterleute wissen: Der Begriff „Katastrophe“ entstammt der Dramentheorie des Philosophen Aristoteles. Er bedeutet wörtlich so viel wie Umkehr oder Wendung. Im Drama führt die Katastrophe dazu, dass sich der Konflikt auflöst – zum Schlimmen oder zum Guten. Für den Kulturbetrieb liegt in der Krise die Chance, sich von alten Selbstgewissheiten zu verabschieden und so zu einem neuen Selbstbewusstsein zu finden.

Das ist ein Prozess, bei dem andere schon weiter sind. Kirchen, Volksparteien, Gewerkschaften, übrigens auch Zeitungen: Sie alle mussten und müssen lernen, dass die Zeiten der Massenwirksamkeit vorbei sind, weil die Gesellschaft, von der Digitalisierung beschleunigt, sich weiter ausdifferenziert.

Die Kultur kann von diesen Branchen lernen. Einige Einrichtungen tun das längst: keine Scheu vor privaten Geldgebern, mehr Kooperation der Häuser, Mut zu Online-Experimenten und immer den Spagat wagen, junges Publikum zu locken, ohne altes zu vergraulen. Es ist auch befreiend, sich von Strukturen aus früheren Jahrhunderten zu lösen, die Sicherheit geben, aber selbstgefällig und träge machen können. Die Katastrophe ist da. Aber nicht der Untergang.