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Sprachforscher: "Das Sächsische ist das Deutsche schlechthin"

Der Autor Thomas Böhm erklärt, warum ein Gendersternchen viele aufregt und was er von der Goldenen Hausnummer hält. Und wie die AfD mit der Sprache umgeht.

Von Karin Großmann
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Fast alles ist mit diesen Buchstaben möglich: Die deutsche Sprache kennt mehr als fünfzig Tiere, die keine sind wie Warteschlange, Pleitegeier, Angsthase, Bordsteinschwalbe, Immobilienhai, Partylöwe, Schnapsdrossel, Wandervogel…
Fast alles ist mit diesen Buchstaben möglich: Die deutsche Sprache kennt mehr als fünfzig Tiere, die keine sind wie Warteschlange, Pleitegeier, Angsthase, Bordsteinschwalbe, Immobilienhai, Partylöwe, Schnapsdrossel, Wandervogel… © Agentur

Nicht alle Menschen sind froh mit ihrem Kosenamen. Thomas Böhm bietet mehr als hundert Alternativen: Blubsibär, Hasenschmatz, Sahneperle, Zimtfischchen... In seinem Buch betrachtet er auch Grabinschriften und den Wortschatz der DDR, erklärt die Fachsprache der Jäger und Seeleute, listet Namen von Kräutern und Enten auf. Wie reich ist die deutsche Sprache! Wie gefährdet! Dafür hat Böhm als Moderator bei Radio Eins, Kritiker und Literaturvermittler ein besonderes Gespür. Mit Freunden gründete er 2017 den Verlag Das kulturelle Gedächtnis. Kürzlich las er in Dresden in Richters Buchhandlung.

Herr Böhm, die deutsche Sprache und der Fußball haben eines gemeinsam: Jeder ist ein Experte, jeder kann mitreden. Aber warum immer so erregt?

Sprache ist mit Emotionen verbunden. Wir lernen sie meistens von unseren Nächsten, pauken in der Schule die Regeln und glauben, dass wir unsere Muttersprache beherrschen. Dann kommt jemand und sagt: So, wie du es gelernt hast, machen wir es nicht mehr, wir machen es anders. Auf Veränderungen reagieren wir emotional, auch bei Rechtschreibreform oder Genderstern. Zudem erleben wir bei Veränderungen der Sprache, dass wir den Kontakt zur Gegenwart verlieren. Ich bin 55 und merke, dass mir bestimmte Ausdrücke oder Modewörter nicht automatisch zugänglich sind. Damit meine ich gar nicht nur die Jugendsprache. Man spürt, dass man alt wird. Das darf man empörend finden.

Thomas Böhm bei seinem Auftritt beim Literaturfestival Lit Cologne 2023.
Thomas Böhm bei seinem Auftritt beim Literaturfestival Lit Cologne 2023. © www.imago-images.de

Was halten Sie vom Vorschlag der AfD, die deutsche Sprache im Grundgesetz festzuschreiben?

Das widerspricht dem Wesen der Sprache – sie ist das Veränderliche schlechthin, das Lebendigste, Flexibelste, Emotionalste. Gerade das macht den Zauber der deutschen Sprache aus. Wollte man sie festschreiben, wäre man bei George Orwells Roman „1984“. Er beschreibt einen fiktiven totalitären Staat, der den sprachlichen Ausdruck einschränken will und damit die Freiheit des Denkens. Eindeutigkeit soll die Mehrdeutigkeit ersetzen, „Neusprech“ die Bewohner manipulieren.

Politiker der AfD loten die Grenzen des Sagbaren aus, wollen in Wörtern wie völkisch, Schuldkult oder Lügenpresse nichts Verwerfliches erkennen. Verschiebt das die Sprache nach rechts?

Wenn jemand ein Wort wie völkisch benutzt und auch nur den Anschein erweckt, das hätte nichts mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Vergangenheit zu tun, finde ich das schwer erträglich. Denn dahinter steckt auch eine Taktik, die sogenannte „Hundepfeifen-Politik“, die sich an die eigene Anhängerschaft richtet. Jeder, der das Geschichtsbewusstsein beiseiteschiebt und Wörter der NS-Zeit benutzt, tut das mit einer bestimmten Absicht. Wenn die Sprache dazu dient, Vergangenheit zu übertünchen, Unrecht zu verdecken, Verbrechen nicht zu benennen, wird sie missbraucht. Wörter lassen sich nicht aus dem historischen Zusammenhang lösen.

Das Wissen um den Zusammenhang schwindet. Nur sehr alte Menschen schauen irritiert, wenn es heißt, jemand sei am Boden zerstört. Sie kennen die Redewendung noch aus der deutschen Kriegsberichterstattung.

Als Jugendliche in den Achtzigern haben wir behauptet, wir hätten uns angestrengt „bis zur Vergasung“ – ohne uns etwas dabei zu denken. Ohne zu merken, dass es für das Wort Vergasung nur einen Zusammenhang geben kann. Eine geschichtsbewusste Gesellschaft bemüht sich, solches Wissen zu vermitteln und die Erinnerung wachzuhalten. Aber es gelingt nicht in jedem Fall und wird immer schwerer: Wir selbst sind nur noch Zeugen von Zeugen.

Die Sprache kann Menschen beleidigen, verhöhnen, ausgrenzen. Kann sie mehr verletzen als körperliche Gewalt oder ist das eine Überschätzung?

Die Sprache kann tiefe Wunden schlagen. Diese Erfahrung hat wahrscheinlich jeder in der Kindheit gemacht, der als Brillenschlange oder Bohnenstange verspottet wurde. Mit Sprache kann man sich unglaubliche Macht aneignen. Ich erinnere mich, wie mich meine Mutter zu Realschule anmelden wollte und die Lehrerin sagte: Sie können froh sein, wenn Thomas die Hauptschule schafft. So ein Satz trifft einen. Heute leiden viele Kinder und Jugendliche unter Attacken im Internet.

Das Internet verändert die Sprache. Ist sie stärker gefährdet als früher?

Sie kann vor allem auf Gefährdungen hinweisen. Ein Beispiel: In unserem Buch gibt es ein Kapitel über alle Entenvögel in Deutschland. Viele stehen auf der Roten Liste. Mit den Tieren werden die Begriffe dafür verschwinden. Oder wer kennt noch all die essbaren Kräuter wie Gundermann oder Knoblauchsrauke? Ob die Sprache selbst in Gefahr ist, kommt auf den Standpunkt an. Manche mögen etwa das Gendersternchen als bedrohlich empfinden. Für andere ist es wichtig.

Wie halten Sie es damit?

Als ich vor zwanzig Jahren Rundbriefe an die Freunde des Kölner Literaturhauses schickte, machte mich eine Dame darauf aufmerksam, dass sie eine „Freundin“ des Hauses sei. Da war von Gendern noch keine Rede. Seitdem achte ich darauf, dass ich die Menschen, die ich erreichen will, richtig anspreche. Als Radiojournalist signalisiere ich mit dem Knacklaut: Ich bin mir der passenden Anrede bewusst. Aber ich verwende das Knacken nicht durchgehend. Es hat ja auch etwas Anstrengendes.

Das Deutsche verändert sich schon immer durch den Einfluss von anderen Sprachen. Ist der Gewinn größer oder der Verlust?

Der Austausch mit anderen Sprachen ist ein natürlicher Prozess. Früher hatte das Französische einen starken Einfluss. Jetzt ist es das Englische. Die Vielzahl von Anglizismen kommt nicht von ungefähr in die deutsche Sprache. Wo wären wir, wenn wir keine „Computer“ hätten!

Wir würden Rechner sagen.

Oder Rechen-Hexe, wie es in Island heißt. Um die Reinhaltung der deutschen Sprache wurde schon im 17. Jahrhundert gestritten. Philipp von Zesen, einer der ersten Berufsschriftsteller, machte Vorschläge zur Verdeutschung von Fremdwörtern. Manche bewährten sich: Bücherei statt Bibliothek, Abstand statt Distanz, Grundstein statt Fundament. Andere haben sich nicht durchgesetzt. Hätte man Pistolen – wie von Zesen vorgeschlagen – als Meuchelpuffer bezeichnet, wäre die Krimi-Gattung vielleicht gar nicht entstanden.

Was sagt es über uns, wenn wir Wörter wie Handy, Hometrainer und Oldtimer verwenden, die es im Englischen nicht oder mit anderer Bedeutung gibt?

Dass wir dem Zauber der Sprache erliegen. In Wörtern wie Showmaster oder Entertainer schwingt etwas mit, eine bestimmte Aura, da denke ich sofort an Frank Sinatra. Oder nehmen wir ein Beispiel aus dem Französischen: Bei Praliné haben wir gleich den Geschmack von Schokolade, Nougat, Marzipan oder Trüffel im Mund. Wie fade klingt dagegen die Übersetzung mit Süßigkeit. Sie trifft es ja auch nicht ganz.

In Ihrem Buch bringen Sie Beispiele für den Wortschatz in der DDR. Sie listen Speisen auf wie Broiler und Würzfleisch, erinnern an Spottbegriffe wie Arbeiterschließfach. Was interessiert Sie an den Auszeichnungen und Medaillen der DDR?

Die schiere Menge. Die Zahl geht in die Hunderte. Das finde ich höchst interessant. Beinahe jede Berufsgruppe, jede gesellschaftliche Einrichtung wurde gewürdigt: verdiente Züchter, junge Neuerer, vorbildliche Nachbarschaftshelfer, hervorragende Volkskunstkollektive … Darin zeigt sich eine gesellschaftliche Wertschätzung für Leistungen auf allen Gebieten. Die bundesrepublikanische Gesellschaft hat sich mit einer solchen Wertschätzung immer schwergetan. Aber freilich gab es auch manches Skurrile in der DDR wie die „Goldene Hausnummer“, mit der sich Hausgemeinschaften schmücken durften.

Die beiden Verkäuferinnen im Eckkonsum wechselten sich als „Beste Mitarbeiterin der Woche“ mit ihrem Foto ab.

Das nennt man heute: „gesehen werden“. Jemand bemüht sich, und die Gemeinschaft sagt: Das finden wir gut.

Sie kommen aus dem Ruhrgebiet, leben in Berlin – mögen Sie das Sächsische?

Das Sächsische ist das Deutsche schlechthin. Wäre die geschichtliche Entwicklung anders verlaufen, würden wir heute alle so sprechen, wie wir schreiben: im Meißner Kanzleideutsch. Johann Christoph Adelung, später Oberbibliothekar an der Kurfürstlichen Landesbibliothek in Dresden, hat mit seinem fünfbändigen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart ein legendäres Nachschlagewerk geschaffen. Doch die Machtverhältnisse änderten sich, und die Preußen hatten das Sagen, als im 19. Jahrhundert die einheitliche Aussprache des Deutschen offiziell geregelt wurde. Bei einer Konferenz in Berlin wurde 1898 das Bühnendeutsch zum Maßstab erhoben. Im Grunde sind wir also alle Schauspieler.

Das Gespräch führte Karin Großmann.

Buchtipp: Die Wunderkammer der deutschen Sprache. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, 304 Seiten, 28 Euro