Sie sprechen sie immer wieder, diese neun Buchstaben. Vor Tagen standen Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Donald Tusk auf einer Bühne und beschworen, dass sie gemeinsam handeln werden. Es kommt vor, dass der Kanzler das Wort als Adverb in jedem Satz einmal spricht. Damit ist er aber nicht allein. Mit seinen Ampelmännern und -frauen macht er gemeinsame Sache. Auf der Internetseite der Bundesregierung sind deren Reden verzeichnet. Bei Suche habe ich das Schlagwort eingegeben. Es erschienen 4.590 Ergebnisse.
Eine Phrase wird zum Gemeinplatz
Da heißt es „gemeinsam stark“, „gemeinsam Schwerpunktthemen festlegen“, „Solidarität und gemeinsames Handeln sind unverzichtbar“. Als Olaf Scholz kürzlich den Premierminister von Malaysia traf, brach er „gemeinsam mit Anwar Ibrahim zu Beginn des Ramadans das Fasten“. Es werde „gemeinsam abgeschoben“, es gehe „gemeinsam voran“ oder „gemeinsam gegen den Klimawandel“. Klingt für mich nach Inflation im Phrasenschatz der Politik. Das Wort könnte tatsächlich Bedeutung besitzen, verliert sie aber durch übermäßigen Gebrauch und wird so zum Gemeinplatz.
So etwas kann nicht wertvoll sein
Das erinnert mich an Ausflüge im Kindergarten, wo alle Hand in Hand in Zweierreihe miteinander zum nächstgelegenen Spielplatz spazierten. Zusammenhalten ist etwas sehr Schönes. Aber natürlich latschte ein Mädchen von hinten auf einen Schuh des Vorderjungen und der verlor seinen Treter und den Halt. Da begriff ich, dass in „gemeinsam“ der Wortstamm „gemein“ steckt.
Historisch betrachtet hieß es althochdeutsch „gimeini“, was auch „allgemein“ bedeutete. Das Herkunftswörterbuch erklärt den Zusammenhang so: „Da das, was vielen gemeinsam ist, nicht wertvoll sein kann, erhielt das Wort den abwertenden Niedersinn unheilig, alltäglich, gewöhnlich, roh, niederträchtig.“ Ein Synonym von gemeinsam heißt zusammen. Allerdings kann man auch Menschen zusammenfalten.
Gemeinschaft statt Individualisierung
Dass der Kanzler das mit „gemeinsam“ meint, wäre gemein zu meinen. Er beschwört vielmehr den Gemeinsinn und die Gemeinschaft, um gegen die fortschreitende Individualisierung, viel mehr die Atomisierung oder Spaltung der Gesellschaft anzureden. Denn gegen gemeinsame Interessen, Initiativen, Gefühle, Wohnungen, Aufgaben, Autos, eine Währung, ein gemeinsames Europa, Gemeinnützigkeit und Gemeinwohl ist nichts einzuwenden. Nur der permanente Hinweis darauf nervt mich. Noch Fragen, liebe Gemein(d)e?