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Mit den Beatles im Plattenstapelhochhaus

Ein opulenter Bildband lässt die Geschichte von Capitol Records Revue passieren. Und er verrät nebenbei, dass Geiz gut für Experimente sein kann.

Von Andy Dallmann
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Die Beatles 1964 als Attraktion einer Gartenparty der Schwiegermutter von Capitol-Boss Alan Livingston. Ein Jahr zuvor hatten sie bei Capitol unterschrieben. Foto: Capitol
Die Beatles 1964 als Attraktion einer Gartenparty der Schwiegermutter von Capitol-Boss Alan Livingston. Ein Jahr zuvor hatten sie bei Capitol unterschrieben. Foto: Capitol © Capitol

Allein schon das Gewicht ist ein Statement: Fast vier Kilo bringt der Band auf die Waage, der das älteste Plattenlabel der amerikanischen Westküste feiert. Die auf den Titel geprägte goldene Schallplatte stellt endgültig klar: Hier geht es um keinen Szenebetrieb für Nischenmusik. Von Benny Carter in den 40er-Jahren über Bing Crosby, Fats Domino, Judy Garland, Frank Sinatra, Nancy Wilson, Gene Vincent, Beach Boys und Beatles, Joe Cocker, Jimi Hendrix, Pink Floyd, Bonnie Raitt, Bob Seger, The Specials, The Stranglers, die Beastie Boys, Duran Duran, Billy Idol, Pet Shop Boys, Queen, Red Hot Chili Peppers, R.E.M., Tina Turner, Radiohead, Snoop Dogg, Robbie Williams sowie Katy Perry und Sam Smith in der Gegenwart reicht vielmehr die Kolonne der gefeierten Künstler, die sich respektive ihre Musik Capitol Records anvertrauten.

Rare Fotos von Beatles, Beach Boys und Co.

Klar, dass eine Plattenfirma, die über Jahrzehnte die Musik von Weltstars verlegt, wenn auch seit 1955 unterm Dach des englischen Labels EMI und seit 2011 als Teil der Universal Music Group, viel Erzählstoff zu bieten hat. Daraus wurde nun diese offizielle Chronik mit anekdotischen Skizzen, Hintergründen und vor allem raren Fotos von Musikern aller Epochen der Labelgeschichte – eigens aus den firmeneigenen Archiven hervorgekramt – gestrickt. Herausgegeben von Reuel Golden, ehemaliger Chefredakteur des British Journal of Photography und seit Längerem beim Verlag Taschen für die Entwicklung von spektakulären Bildbänden zuständig. Den Haupttext verfasste Barney Hoskyns, ein britischer Musikjournalist, der zudem Bücher über Tom Waits und Led Zeppelin schrieb. Im Buch selbst ist die englische Originalfassung abgedruckt. Ein beiliegendes Heft vereint die deutsche und die französische Übersetzung, bietet außerdem noch weitere interessante Fotos von Capitol-Künstlern.

Ein Star bei den Sternen: Jazzsängerin Nancy Wilson 1963 auf dem Hollywood-Boulevard in Los Angeles, wo das Coverfoto für ihr Album „Hollywood – My Way“ gemacht wurde. Die mehrfache Grammy-Gewinnerin war von 1960 bis 1980 bei Capitol Records unter Vertrag
Ein Star bei den Sternen: Jazzsängerin Nancy Wilson 1963 auf dem Hollywood-Boulevard in Los Angeles, wo das Coverfoto für ihr Album „Hollywood – My Way“ gemacht wurde. Die mehrfache Grammy-Gewinnerin war von 1960 bis 1980 bei Capitol Records unter Vertrag © K. Veeder/Capitol Archives

Einer von ihnen ist Beck Hansen alias Beck, der 1993 mit „Loser“ seinen größten Hit landen konnte, seither regelmäßig gefeierte Alben mit ambitioniertem wie extrem facettenreichem Pop veröffentlicht. Und Beck schrieb das sehr persönlich gefärbte Vorwort, das vor allem die besondere Architektur des Firmensitzes würdigt: „Als Heranwachsender in Los Angeles stellte ich mir immer vor, was für geheimnisvolle Dinge sich in diesen abgerundeten Räumen wohl abspielten. Wenn dann zum Ende des Jahres auf dem Dach ein Weihnachtsbaum aufgepflanzt wurde, der sieben Stockwerke hoch aufragte, zeigte das im ansonsten ewigen Sommer an, dass eine neue Jahreszeit angefangen hatte.“

Als Musiker auf der Suche nach einem Label habe er später das Innere sehen können. „Das Bauwerk hatte eine besondere Ausstrahlung“, schreibt Beck. „Man spürte nicht nur, was für großartige Musik hier entstand, sondern bekam auch ein Gefühl für die Ära, in der es gebaut worden war, im Nachkriegskalifornien der Jahrhundertmitte, als man fest davon überzeugt war, dass die Zukunft sehr viel besser sein würde als alles zuvor.“

Das Gebäude von Capitol Records in Los Angeles.
Das Gebäude von Capitol Records in Los Angeles. © Wikipedia

Der Firmensitz von Capitol Records zählt zu den herausragenden Gebäuden in Hollywood. Der vom Architektenbüro Welton Beckett entworfene 13 Stockwerke hohe erdbebensichere Turm war zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung 1956 das erste runde Bürogebäude der Welt und beherbergte mehrere Aufnahmestudios.

Doch fast wäre der Bau ähnlich unspektakulär wie viele seiner Nachbarn geraten. Hoskyns verrät in der Labelchronik, dass in diesem Fall Geiz der Kreativität auf die Sprünge half. Glenn Everett Wallichs, einer der drei Gründer von Capitol Records und in den Fünfzigern Boss des Ganzen, konnte sich zunächst überhaupt nicht für Welton Becketts Entwurf erwärmen. Die Anlehnung an einen Stapel Schallplatten habe Wallichs als einen zu billigen Werbegag bezeichnet.

Lou Naidorf, der ausführende Architekt, skizzierte also einen alternativen Bau, legte aber clevererweise beide Pläne den Geldgebern von einer Versicherungsgesellschaft vor. Denen war die Optik einerlei, für sie zählte, dass ein Gebäude mit rundem Grundriss deutlich kostengünstiger zu realisieren war. Sie bedrängten Wallichs, er lenkte ein und so bekam Capitol Records doch noch sein Plattenstapelhochhaus. Noch ein Clou des Turms: Neun Meter unter der Erde wurden einzigartige Echokammern eingebaut, deren Schallisolierung und Akustik Ton-Aufnahmen mit besonderem Nachhall möglich machen.

Gesonderte Kapitel zur Architektur, zur Planung wie zum fertigen Haus sowie über die Arbeit an und in den Studios, die einen ähnlich legendären Ruf wie die in der Londoner Abbey Road erlangten, sind jeweils etwas für speziell interessierte Leser. Die eigentliche Chronik dagegen fasst all die Aufs und Abs in 75 Jahren gut lesbar zusammen.

„Wir sollten selbst Platten machen!“

Originelle szenische Beschreibungen machen die Fakten, die weit über das bei Wikipedia gespeicherte Grundwissen hinausgehen, zu einer kurzweiligen Lektüre. Ein Beispiel: der Gründungsmoment. Da kamen am 7. Februar 1942 ein „trinkfester Südstaatler mit Zahnlücken, der als Sänger und Songwriter ein paar Hits“ vorweisen konnte (Johnny Mercer), mit einem „abstinenten Geschäftsmann aus dem Mittleren Westen, der in Hollywood kurz zuvor einen Musikladen eröffnet hatte“ (Glenn Everett Wallichs) und einem Filmproduzenten, einem „Italo-Amerikaner, der in New York mit George Gershwin Songs geschrieben hatte“ (George Gard „Buddy“ DeSylva) zusammen. Beim Mittagessen kristallisierte sich eine Idee heraus: „Wir sollten selbst Platten machen!“

Kurz danach stand das Unternehmen Liberty Records, das allerdings wegen der bereits etablierten New Yorker Plattenladenkette Liberty flugs einen neuen Namen brauchte. Den erfand Mercers Frau Ginger, Wallichs selbst entwarf danach das Logo mit der Kuppel das Capitols in Washington – der Beginn einer aufregenden Geschichte.Die wird in diesem Bildband natürlich vor allem zu einem Anguckvergnügen. Schnappschüsse diverser Stars – bei der Arbeit, beim Posen für Plattencover, beim bloßen Rumhängen – stehen exemplarisch für die jeweiligen Epochen und bieten dennoch viele überraschende Einsichten. Dieses Buch ist nichts zum schnellen Durchblättern, es bietet langfristig eine anregende Unterhaltung.

Reuel Golden, Barney Hoskyns: Capitol Records. Taschen, 488 Seiten, 60 Euro

Cover des Buchs "75 years of Capitol Records".
Cover des Buchs "75 years of Capitol Records". © Taschen