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Als ein Schulbus von der Brücke der Jugend in Löbau stürzte

Vor 35 Jahren durchbrach in Löbau ein Ikarus-Bus die Begrenzungsmauer und überschlug sich auf der Böschung. Über 30 Schulkinder hatten mehrere Schutzengel.

Von Bernd Dreßler
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Nicht weit vom ersten Bogen der 1926/1927 erbauten Brücke stürzte der Ikarus-Bus in die Tiefe. Das Foto entstand erst vier Jahre später, als das Unglück für die RTL-Fernsehserie „Notruf“ nachgestellt wurde.
Nicht weit vom ersten Bogen der 1926/1927 erbauten Brücke stürzte der Ikarus-Bus in die Tiefe. Das Foto entstand erst vier Jahre später, als das Unglück für die RTL-Fernsehserie „Notruf“ nachgestellt wurde. © Stadtarchiv Löbau

Es ist Mittwoch, der 2. November 1988. Gegen 7 Uhr rollt der Berufsverkehr über die Brücke der Jugend wie immer stadteinwärts nach Löbau. Eigentlich rollt die Autokarawane nicht, sie kriecht. Der Rückstau aus der Innenstadt ist unübersehbar. Fußgänger laufen stadteinwärts zur Arbeit, vorbei an einem Ikarus-Bus, der Schüler der Löbauer Sonderschule (DDR-Bezeichnung für Förderschule) zum Unterricht bringt. Einige merken nach einer Weile, dass der Bus verschwunden ist – von der Brücke in die Tiefe gestürzt, nachdem er die Begrenzungsmauer durchbrochen hat. Der Ikarus überschlägt sich und bleibt auf dem Dach auf dem steilen Böschungshang liegen, zum Glück abgebremst von Bäumen und Sträuchern.

Blick auf das ehemalige Krankenhaus Löbau, heute Sitz der Arbeiterwohlfahrt. Etwa auf Höhe des Busses, aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite stürzte 1988 der Schulbus ab.
Blick auf das ehemalige Krankenhaus Löbau, heute Sitz der Arbeiterwohlfahrt. Etwa auf Höhe des Busses, aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite stürzte 1988 der Schulbus ab. © B. Dreßler

Für viele Passanten gibt es kein Zögern. Sie eilen sofort zu dem Wrack, um Erste Hilfe zu leisten und die Kinder aus dem Bus zu holen. Riesiges Glück im Unglück: Direkt an der Unfallstelle liegt das Krankenhaus Löbau (heute Sitz des Awo-Kreisverbandes „Oberlausitz“), in dem vor 35 Jahren Entbindungsstation und Gynäkologie untergebracht waren. Im Nu sind Ärzte und Schwestern zur Stelle, untersuchen die Unfallopfer, bringen die Leichtverletzten zur Weiterbehandlung in den Speiseraum der Klinik. Notärzte veranlassen den Transport der Schwerverletzten mit der SMH (Schnelle Medizinische Hilfe) ins Krankenhaus Ebersbach.

Die „Sächsische Zeitung“ meldet am nächsten Tag auf Seite 2, dass bei dem Unfall sechs Schüler schwer verletzt wurden. Bei einem Mädchen musste zunächst sogar von lebensgefährlichen Verletzungen ausgegangen werden. Es war zwischen Haltestangen eingeklemmt und bekam keine Luft mehr. Erst in letzter Minute gelang es eine Befestigungsschraube zu lösen und das Mädchen zu befreien.

So berichtete die SZ 1988.
So berichtete die SZ 1988. © SZ-Archiv

Außerdem kamen 13 Mädchen und Jungen zur Beobachtung ins Krankenhaus Ebersbach. 13 Schüler blieben unverletzt und gelangten mit Unterstützung der Sonderschule unverzüglich in die Obhut ihrer Eltern. Löbaus Kreisschulrat Dieter Haupt dankte am Tag darauf in einem SZ-Interview allen Beteiligten für ihr umsichtiges Handeln.

Und der Busfahrer? Er trug lediglich leichte Verletzungen davon. Wie sich laut RTL-Fernsehen herausstellte, hatte er den Unfall verursacht. Aus falsch verstandener Pflichterfüllung begab er sich am Morgen jenes Tages zum Dienst, obwohl ihn starke gesundheitliche Probleme plagten. Als sich auf der Brücke der Jugend die im Stau stehenden Fahrzeuge wieder in Bewegung setzten, muss er das Steuer verrissen und den Ikarus so beschleunigt haben, sodass er die Mauer durchbrach und abstürzte.

Helmut Plewa (85), der damals für die SZ Löbau fotografierte, schüttelt heute noch den Kopf, wenn er an den auf einem steilen Wiesenhang liegenden arg demolierten Bus denkt. „Die Kinder haben ein Riesenschwein gehabt. Wäre der Bus nur wenige Meter eher abgestürzt, hätte es eine Katastrophe gegeben, denn die Brücke überquert die Talsohle in schwindelerregender Höhe“, beschreibt er die Situation.

Umstrittener Fernseh-Dreh

Dieser spektakuläre Unfall sollte sich vier Jahre später nochmal genauso ereignen. Er wurde für die Reality-Show „Notruf“ des Fernsehsenders RTL nachgestellt. Im September 1992 gab es dazu aufwendige Dreharbeiten an der Brücke der Jugend. Das Team der von Hans Meiser moderierten Sendung verzichtete dabei nicht einmal auf den Busabsturz. „Nachdem die Bremse gelockert und der Bus angeschoben war, nahm das Schicksal für den alten Ikarus unwiederholbar seinen Lauf“, berichtete die SZ Löbau am 22. September 1992.

In Löbau war dieser mit viel Technik verbundene Fernseh-Aufwand umstritten. Immerhin vier Tage, von Freitag bis Montag, blieb deshalb die Straße der Jugend als wichtige Durchgangsstraße gesperrt. Am 6. November 1992 wurde die „Notruf“-Folge ausgestrahlt. Detailliert wurde der Unfallhergang nachgestellt, „mit den tatsächlich betroffenen Personen, da diese die Situation selbst erlebt hatten und diese so auch am besten zeigen konnten“, wie RTL informierte. Durch die bis 2006 laufende RTL-Reihe sollten die Zuschauer nach Senderangaben dazu animiert werden, in Notsituationen nicht wegzuschauen, sondern zu helfen.

Dieses Anliegen griff auch das MDR-Fernsehen mit seiner von Sven Voss moderierten Sendereihe „Lebensretter“ auf und rief am 12. März 2015 erneut den Löbauer Busunfall in Erinnerung. Dabei stützte sich der Sender im Wesentlichen auf die RTL-Aufnahmen, die 1992 von der niederländischen TV-Firma Endemol für „Notruf“ produziert worden waren.

In dem MDR-Beitrag schilderte Ulrich Pilz, langjähriger Tourismus-Verantwortlicher der Stadtverwaltung Löbau, detailliert seine Erlebnisse als Unfallzeuge und Ersthelfer. Von der SZ vor wenigen Tagen befragt, wie er seinen Einsatz heute bewertet, sagte er bescheiden, dass er als einer von vielen nur seine Pflicht getan habe. Die Hauptakteure seien neben Feuerwehr und Polizei die Ärzte und Rettungssanitäter gewesen, die mit Umsicht alles für die Bergung und Behandlung der verunglückten Schüler taten.