Wie ein Nieskyer die Stunde Null 1945 erlebte

Drei Bücher liegen auf dem Wohnzimmertisch von Karin Pätzold im Nieskyer Ortsteil See. Die beiden Notizbücher sind akurat mit der Hand geschrieben und beinhalten die Kinder- und Jugenderinnerungen ihres Mannes Horst. Das größere Büchlein mit dem Foto ist die gedruckte Zusammenfassung der Ereignisse - und Karin Pätzolds Werk.
"Die Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit ließen meinen Mann nicht los. Er hat davon immer wieder erzählt", sagt Karin Pätzold. Aber erst mit Siebzig, also 2005, begann Horst Pätzold sein fotografisches Gedächtnis in zwei kleinen Büchlein niederzuschreiben. "Auf Drängen der Familie", fügt die Frau hinzu. Aus heutiger Sicht eine kluge Entscheidung, denn in den weiteren Jahren verschlechterte sich der Gesundheitszustand des ehemaligen Lehrers für Geografie, Geschichte und Mathematik, 2017 starb er.
Karin Pätzold ist ebenfalls Lehrerin und wird vielen Nieskyern als Leiterin der "Weißen Schule", der Oberschule in der Bahnhofstraße, in Erinnerung sein. Mit 18 und mit der Ausbildung einer Unterstufenlehrerin ist sie 1961 nach Niesky gekommen, um zu unterrichten - an der Weißen Schule. Nach der Wende wurde Karin Pätzold von dem Lehrerkollegium zur Schulleiterin gewählt. In dieser Funktion arbeitete sie bis zur Rente 2004 an der Oberschule.
Eine große Familie
Mit der Weißen Schule verbinden sich für die heute 78-Jährige viele Erinnerungen - darunter eine ganz besondere: "Meinen Mann habe ich sozusagen auf Arbeit kennengelernt, aber so richtig gefunkt zwischen uns hat es erst viel später", erzählt sie. 1966 heiratete der Horst seine Karin, und das Jahr darauf kam bereits der erste Sohn zur Welt: Ingolf. 1968 folgte Tochter Katrin und 1974 Sohn Michael. Heute freut sich Karin Pätzold über ihre große Familie mit sieben Enkeln und dem ersten Urenkel, einem Mädchen.
So eine unbeschwerte Kindheit, wie sie seine Kinder und Enkel erlebten, hatte Horst Pätzold nicht. 1935 in Niesky geboren, wuchs er in einem Staat der Nationalsozialisten auf und musste ziemlich schnell erleben, was Krieg mit und aus den Menschen macht. Ostern 1941 begann seine Schulzeit in dem Haus, in dem er zwei Jahrzehnte später seine künftige Frau kennenlernen sollte - der Weißen Schule. Damals trug sie den Namen von Reichsminister Hermann Göring.
Der Putz fiel von den Wänden
Besonders die letzten Kriegswochen haben sich in Horst Pätzolds Gedächtnis eingebrannt. Er schreibt: Ende März oder Anfang April 1945 heulten wieder einmal rechtzeitig die Sirenen. Wir, meine Eltern, meine Schwester und ich, aßen gerade das Mittagessen. Flugs begaben wir uns in die Kellerräume und warteten ängstlich auf die heranbrausenden todbringenden Luftungeheuer. Diesmal wurde mit Bordkanonen auch auf unser Haus geschossen. Beim Haus neben uns explodierten die Geschosse im Keller, nachdem sie Fenster und Kellerdecke durchschlagen haben. Es knallte und krachte entsetzlich, der Putz fiel von den Wänden. Uns war der Schreck gehörig in die Glieder gefahren!
Horst Pätzold lebte mit seiner Familie in jenen Tagen nicht nur in einer Frontstadt, sondern auch in einer Geisterstadt. Immer mehr Nieskyer flüchteten vor der herannahenden Front aus ihrer Heimatstadt. Pätzolds aber blieben in Niesky, umgeben von in aller Eile errichteten Panzersperren aus Baumstämmen und Stahlschienen. Vater Gerhard Pätzold wurde sogar zum Panzersperrenkommandanten an der Bautzener Straße berufen. Welche Aufgabe, welche Ehre, vermerkt ironisch der Sohn in seinen späteren Aufzeichnungen. Dass Pätzolds in ihrer Werkswohnung auf dem Betriebsgelände von Christoph & Unmack bleiben durften, hatten sie zwei Buchstaben in den Papieren vom Vater zu verdanken: "uk" steht für unabkömmlich. Als Heizer und Lokführer arbeitete er bei C&U.
Ein Drahtseilakt am Rande der Hölle
Für seine Eltern ist diese Zeit ein Drahtseilakt am Rande der Hölle gewesen, schreibt Pätzold. Doch als zehnjähriger Junge hat er diese Gefahren nicht erkannt: Im Gegenteil, für mich waren alle Vorkommnisse im Frühjahr des letzten Kriegsjahres spannend und interessant, wenn auch hier und da manchmal Angst und Furcht vor den "bösen Russen" da war, notierte Pätzold. Mit seinen Eltern erlebte er mit, wie am 16. April 1945 gegen 3 Uhr nachts ein mächtiges Trommelfeuer an Oder und Neiße begann. Die Rote Armee startete ihre Offensive in Richtung Berlin.
Knallte und krachte es besonders grausam in Niesky, dann suchte der junge Horst mit seinen Eltern Zuflucht bei seinen Großeltern in See. Dort lebte auch die damals erst dreijährige Karin. Nach See gelangten Pätzolds mit dem Fahrrad entlang der Gleise. Sie durchquerten dabei die Brücke der Umgehungsstraße, der heutigen B115. Unter der Straßenbrücke sahen wir, dass das Bauwerk zur Sprengung vorbereitet war. Von der nahen Ziegelei aus jagte das Sprengkommando am folgenden Tag die Konstruktion aus Stahl und Beton in die Luft. Wir waren vermutlich die letzten Zivilisten, welche vor der sinnlosen Zerstörung unter dem Bauwerk hindurchfuhren. Erst 13 Jahre später, 1958, wurde die Lücke auf der Fernverkehrsstraße mit einer neuen Brücke wieder geschlossen. Und diese musste nach 60 Jahren dem Bahnausbau samt Elektrifizierung weichen.
Mit dem Lähmungszug auf der Flucht

Nach dem Tod ihres Mannes hat sich Karin Pätzold nicht nur mit seinen beiden Notizbüchern beschäftigt, sondern auch mit dem Nachlass an Dokumenten aus der Familie ihres Mannes. Dabei ist sie auf einen 13-seitigen Reisebericht, sauber mit Schreibmaschine getippt, vom 22. April 1945 gestoßen. Dieses Original berichtet vom Geräte-und Lähmungszug der Firma Christoph & Unmack, Abteilung Waggonbau.
Die Russen näherten sich mit der Zweiten Polnischen Armee Niesky und bei C&U hieß es: Rettet, was noch zu retten ist! Also wurde ein Zug zusammengestellt, mit dem wichtige Unterlagen, Dokumente und Maschinen beziehungsweise Teile davon gen Westen geschafft werden sollten. C&U hatte zur damaligen Zeit auch noch ein Werk in Bayern. Mit dem Ausbau von wichtigen Maschinenteilen wollte man verhindern, dass der Feind die Geräte in Betrieb nehmen kann. Die Produktion sollte damit "gelähmt" werden. Daher rührt der Begriff Lähmungszug.
Aber nicht nur Maschinen und Akten wurden im April 1945 in den dafür umgerüsteten Waggons verladen, auch Menschen. Horst Pätzold schreibt: Auf sehr engem Raum lebten im Lähmungszug fünf Familien friedlich nebeneinander in dem Flakwagen. Zu den "Flakwagenfamilien" gehörten insgesamt sechs Kinder. Meine Schwester Monika war die Jüngste. Sie war zu der Zeit knapp drei Jahre. Pätzolds teilten sich mit anderen Werksfamilien die vier Doppelstockbetten im Flak-Mannschaftswagen. Was eine Reise über mehrere Tage werden sollte, steigerte sich auf eine Odyssee über drei Monate, an deren Ende rund 70 Personen in dem Zug hausten.
Geplündert von Russen und aufs Abstellgleis geschoben
Der unbekannte Autor des Reiseberichts kommt zu dem Fazit: "Jeder einzelne von uns hatte sich den Abschluß am Ziel anders vorgestellt." Denn statt in Bayern endete die Reise am 8. Juli 1945 wieder in Niesky. Weggesprengte Schienen, Plünderungen durch die Russen und schließlich ein wochenlanger Zwangshalt im hiesigen Ebersbach machten die Reise zur Tortur für alle Beteiligten. Karin Pätzold fand in den Unterlagen sogar noch Passierscheine, die der russische Stadtkommandant von Ebersbach den Zugfamilien ausstellte, damit sie vom Bahnhof aus in die Stadt durften.
Das weckte in ihr den Ehrgeiz, weiter nach dem geheimnisvollen Zug zu recherchieren, der über Monate das Zuhause ihres Mannes und seiner Familie war. Aber sie fand weder Nachkommen von den im Reisebericht genannten Personen noch gab das Archiv des Waggonbaus Niesky weiterführende Hinweise. In der Stadtverwaltung Ebersbach konnte oder wollte man ihr nicht so recht helfen und auch angesprochene Heimatforscher war der Lähmungszug unbekannt.
Damit ist für Karin Pätzold das Kapitel Geräte- und Lähmungszug abgeschlossen. Nicht die erlebte Geschichte ihres Mannes. Gerade an einem Tag wie der 8. Mai, der zur DDR-Zeit groß als Tag der Befreiung gefeiert wurde, lohnt es sich, auf die Ereignisse vor 76 Jahren zurückzublicken. Interessierte können das mit dem Buch von Horst Pätzold "Ein Blick zurück". Einzelne Exemplare sind im Raschkehaus am Zinzendorfplatz für zwölf Euro noch erhältlich. Das Museum als Einrichtung der Stadt Niesky unterstützte und förderte die Herausgabe dieses Buches, das jetzt wohl eine Nachauflage braucht.
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