Das Telefon läutet und Holger Neubert, der an einem aufgebockten Mountainbike hantiert, spitzt die Ohren. Eigentlich hat er geschlossen. Zum Hörer greifen würde er trotzdem gern. Aber wenn er das macht, verliert er Zeit. Zeit, die er braucht, um dieses Rad und zwei Dutzend andere durchzusehen und zu reparieren. Also lässt er das Telefon dudeln. "Es blutet einem das Herz", sagt er. "Aber anders ist es nicht zu händeln."
Seit über neunzig Jahren verkaufen und reparieren die Neuberts in Dohna Fahrräder. Der Laden an der Müglitztalstraße ist eine Institution. Willi hat ihn 1932 eingerichtet, Helfried führte ihn ins neue Jahrtausend. Nun ist Holger Neubert schon 21 Jahre der Chef. Gut zu tun war immer. Nie hat er Däumchen gedreht, sagt er. Aber auch nie die Lust verloren. An der Werkstatt-Türe hängt sein Leitspruch: "Such' dir einen Job, den du liebst, und du wirst nie mehr arbeiten müssen!"
Holger Neubert liebt seinen Job nicht nur, weil er Fahrräder liebt. Er liebt auch den Umgang mit denen, die sie ihm bringen. Den Kundenkreis schätzt er momentan auf siebenhundert, siebenhundertfünfzig Leute, davon etwa siebzig Prozent Stammkunden. Als er anfing, waren noch viele darunter, die hatten ihre Räder und Mopeds schon beim Opa in Pflege.
Trekkingrad kommt Hund in die Quere
An diesem Mittwochnachmittag ist es, abgesehen vom gelegentlichen Telefongebimmel, still im Geschäft. Und das ist neu. Seit Mai macht Holger Neubert mittwochnachmittags nicht mehr auf. Statt hinter der Ladentafel steht er in der Werkstatt und lässt die Hände kreiseln. Aktuell hat er mehr als dreißig Räder zu bearbeiten. Rekord sind 45.
Im Arbeitsraum steht grade ein halbes Dutzend Fälle, vom Kinderrad bis zur Rennmaschine: Inspektionen, Umbauten, Unfallschäden. Einem ist im Wald ein Hund ins Trekkingrad gerannt. Kurbel, Sattel, Griffe haben beim Sturz gelitten. Daneben das Mountainbike, das wohl ein Problem mit dem Tretlager hat. Und dem E-Bike einer Dame wurde nicht bloß der Akku geklaut, sondern die Bremsanlage gleich mit.
Die Tage, die der Kfz-Schlossermeister Neubert zwischen Fahrradschraubstock und der über und über mit Equipment und Ersatzteilen beladenen Werkbank zubringt, sind lang. Gegen halb acht steigt er morgens die Treppe von der Wohnung herunter und abends um acht oder um neun steigt er sie wieder rauf. "In der Saison muss das mal gehen", sagt er. "Sonst kommst du nicht mehr um den Ring."
Dass die Arbeit sich türmt, liegt teils am Helfersyndrom, das Holger Neubert bei sich konstatiert. Auf die Fragen "Hast du mal...?" und "Kannst du nicht...?" kann er kaum nein sagen. Alte Fahrradteile, die noch funktionieren, hebt er immer auf für den Fall, einer könnte sie brauchen, auch wenn ihm eigentlich der Platz dafür fehlt. "Es macht Spaß, jemandem geholfen zu haben." Die Kundenpflege zahlt sich aus. "Dann kommen die Leute auch mal mit was anderem wieder."
Deutsche kaufen immer mehr Fahrräder
Doch die Arbeit wird sowieso mehr. Weil es immer mehr Fahrräder gibt. Der Zweirad-Industrie-Verband meldet für 2022 ein Allzeithoch in Deutschland produzierter Bikes von 2,6 Millionen Stück. Im Land verkauft wurden 4,6 Millionen Fahrräder. Insgesamt sei der deutsche Fahrradbestand auf 82,8 Millionen angewachsen, ein Plus von beinahe zwölf Millionen binnen zehn Jahren. Der Trend gehe zum Zweitrad.
Das "stabile Hoch" am Fahrradmarkt, das der Industrieverband meldet, spürt Holger Neubert nicht unbedingt. Gewöhnlich sind bei ihm die großen Verkäufe bis Juni durch. Doch dieses Jahr läuft das Geschäft eher mau. Der Händler vermutet die Ursache in den Unsicherheiten, hier und in der Welt. "Seit ein paar Jahren wird man mit Horrormeldungen in Schach gehalten", sagt er. Die Leute hielten ihr Geld lieber beisammen.
Job-Räder brauchen Inspektionen
Doch wer ein Rad gekauft hat, muss es pflegen. Weil die Technik immer ausgefeilter wird, braucht man mehr Sachverstand dafür als früher. Zudem nutzen immer mehr Leute ein Job-Rad. Bei diesem Leasing für Diensträder sind Inspektionen durch die Fachwerkstatt in der Regel Pflicht.
Holger Neubert beobachtet, wie Leute, die ihre Räder bei Großhändlern gekauft haben, den Service des Kleinbetriebs in Anspruch nehmen. Er vermutet, dass sich die Ketten gern einen schlanken Fuß machen. "Es ist schön, wenn man Geld beim Verkauf verdienen kann und sich dann nicht mehr drum kümmern muss." Er nimmt die Fremdräder an, solange seine eigenen Kunden dadurch nicht das Nachsehen haben. "Wenn man helfen kann, dann hilft man."
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Gibt es genug dieser Helfer? Die Industrie- und Handelskammer Dresden verzeichnet in ihrem Bezirk 143 Einzelhändler für Fahrräder, Fahrradteile und Zubehör. Lars Fiehler, IHK-Geschäftsführer für Standortpolitik, sagt, dass diese Zahl tendenziell etwas abnimmt, jedoch nicht wesentlich. Ein Rückgang würde nicht zum neuen Fahrradtrend passen, "von dem man durchaus sprechen kann, nicht erst seit Corona".
Dass sich die Großen aus dem Wartungsgeschäft zurückzögen, könne man bei der Kammer nicht belegen. "Serviceleistungen sind als Einnahmequelle wichtiger denn je." Zudem stammten die Job-Bikes mehrheitlich von den Großanbietern, weshalb diese auch in der Pflicht seien, den Service zu erbringen.
Handelskammer: Druck auf Werkstätten wächst
Allerdings rechnet auch Lars Fiehler mit steigendem Druck auf bestehende Geschäfte und Werkstätten, namentlich durch den Online-Fahrradhandel, der nach seiner Überzeugung beachtliche Größenordnungen angenommen hat. "Da diese Händler gar keine Filialbetriebe unterhalten, sind die Käufer per se darauf angewiesen, sich am Markt Werkstätten zu suchen."
Ob das die Betriebe überfordert, weiß Lars Fiehler nicht abzuschätzen. Denkbar sei, dass Reparaturen teurer würden, da sich hohe Nachfrage im Preis spiegele. Andererseits könne dies ein Anreiz sein, sich in der Branche selbstständig zu machen. "Dass perspektivisch viele nicht mehr mit ihren Rädern fahren können, weil sie defekt im Keller stehen, ist eher nicht anzunehmen."
Erst recht nicht in Dohna, bei Holger Neubert. Wie die Dinge liegen, wird einmal Christian, sein Sohn, den Laden übernehmen. Bis dahin darf man sich wohl auf das Helfersyndrom des Altmeisters verlassen: "Ich schicke prinzipiell keinen weg."