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Die Stimme des Pirnaer Lesekreises ist verstummt

Christel Kraeft war Lehrerin, Stadtführerin, Literatur-Kennerin, Vorleserin und ein bisschen Grand Dame. Ihr Lesekreis erinnert sich an sie.

Von Heike Sabel
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Mit ihren Kenntnissen über Literatur, ihrer Sprache und ihrer positiven Art begeisterte Christel Kraeft die Menschen.
Mit ihren Kenntnissen über Literatur, ihrer Sprache und ihrer positiven Art begeisterte Christel Kraeft die Menschen. © privat

Wenn Christel Kraeft durch Pirna lief, schaute man sich unweigerlich nach ihr um. Auch noch, als sie längst über 80 war. Sie war groß, kleidete sich nicht wie man denkt, dass sich 80-Jährige kleiden sollten und trug schon mal Hut und langen Rock und auffälligen Schmuck und hatte das, was man Ausstrahlung nennt. Sie sprach Hochdeutsch und es klang nicht theatralisch. Am 10. Februar ist ihre Stimme für immer verstummt. Christel Kraeft wurde 90 Jahre.

Viele werden sie vermissen. Jahrelang führte sie Touristen durch die historische Altstadt und zeigte ihnen die Schönheiten Pirnas. Sie war Lehrerin und wurde immer noch von ihren Schülern gegrüßt. Nach der Wende gab sie Rhetorikkurse. In der Weihnachtszeit bereitete sie regelmäßig den Bewohnern des Seniorenzentrums Einsteinstraße einen schönen Nachmittag mit der Rezitation von Gedichten. "Darin war sie unübertroffen", sagt Ursula Stauche, die auch zum Lesekreis gehört. "Trotz schwerer Schicksalsschläge blieb sie ein aufgeschlossener und aktiver Mensch, der rege und vielseitig interessiert am Leben teilnahm." Zu den Schicksalsschlägen sorgte der tödliche Arbeitsunfall ihres Mannes in den 1990er-Jahren.

Dankbar für die Möglichkeiten der Zeit

Der Lese- bzw. Literaturkreis besteht seit Dezember 2013. Schon kurz nach dem Start entdeckte Christel Kraeft als Leserin der Pirnaer Stadtbibliothek dort einen Aushang der Gruppe und nahm Kontakt auf. "Als pensionierte Deutschlehrerin war sie mit ihren fachkundigen Hinweisen und ihrer Freude an unterschiedlichen Literaturgenres eine große Bereicherung der Gespräche rund um die Literatur", sagt Gabriele Schmidt. Auch im hohen Alter habe sie kaum ein monatliches Treffen versäumt. Nun bleiben den Literaturfreunden die Videos, in denen sie Gedichte rezitiert.

Ramona Meyn aus Dohna lernte Christel Kraeft erst vor knapp sieben Jahren kennen, als sie zum Pirnaer Lesekreis stieß. "Mich hat ihr unheimliches Wissen über Literatur, über Politik und über das Leben an sich beeindruckt. Und das mit fast 90 Jahren." Auch der Umgang mit den heutigen Medien war kein Problem für sie. In der Corona-Zeit wurden die Buchbesprechungen über Videokonferenz gemacht. "Sie war sehr dankbar dafür, dass uns in dieser Zeit der Isolation solche Möglichkeiten zur Verfügung standen", sagt Ramona Meyn.

Große Literatur auf "Knopfdruck"

Mit ihrer positiven Einstellung zum Leben und ihrer ungeheuren Dankbarkeit für das, was sie noch erleben konnte, beeindruckte sie viele. "Für uns alle im Lesekreis war es eine riesige Freude, wenn Christel uns die Dichter der großen deutschen Literatur auswendig auf 'Knopfdruck' wiedergeben hat. Das muss man im Kopf haben und das hatte sie", sagt Ramona Meyn. Nun bleibt ein Stuhl im Lesekreis und nicht nur dort leer. "Sie wird uns immer mit ihrer feinsinnigen und lebensbejahenden Art und Weise in Erinnerung bleiben."