Als Hunderttausende nach Riesa kamen

Tausende Besucher drängen sich dicht an dicht, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Was man sich für den Tag der Sachsen in Riesa wünscht, war vor 30 Jahren in der Stadt Wirklichkeit: Damals kamen an zwei Tagen rund 330 000 Besucher an die Bahnstrecken rund um Riesa. Anlass war das 150-jährige Bestehen der ersten deutschen Fernbahnstrecke Leipzig-Dresden. Das wurde nicht in einer der beiden damaligen Bezirksstädte gefeiert, sondern in der Mitte – in der damals 50 000 Einwohner zählenden Industriestadt Riesa.
Unbestrittener Höhepunkt war eine Fahrzeugparade der Reichsbahn, die Verkehrsminister und Reichsbahn-Generaldirektor Otto Arndt am 8. April 1989 um 14 Uhr eröffnete. Wer einen Platz auf einer der Tribünen am östlichen Elbufer ergattert hatte – die Karte kostete zehn Mark – konnte als Erstes den Nachbau der legendären Lokomotive „Saxonia“ vorbeirollen sehen. Wie ein Autorenkollektiv 15 Jahre später für ein Buch unter dem Titel „Der Eisenbahnknoten Riesa“ recherchierte, war die Saxonia mit einem Lokführer in Frack und Zylinder besetzt, mit einem Heizer und dem Leiter des Erbauerkollektivs vom Reichsbahn-Ausbesserungswerk „Ernst Thälmann“. Die Saxonia fuhr aus Schau-Zwecken mehrfach vor und zurück, wofür der reguläre Zugbetrieb auf der Strecke auch auf dem Nachbargleis pausieren musste. Dann folgten zahlreiche weitere Schienenfahrzeuge aus den verschiedenen Epochen, preußische wie sächsische Lokomotiven. Unter anderem war der „Sachsenstolz“ dabei – eine Lok, die nach dem Ersten Weltkrieg als Europas stärkste Schnellzuglokomotive gegolten hatte. Der „Fliegende Hamburger“ aus den 30ern war dabei, Kohlenstaub-Lokomotiven aus der Nachkriegszeit, sowjetische und rumänische Dieselloks.
Da mit einem ausgeklügelten Sonderzug-Fahrplan Gäste aus der ganzen DDR nach Riesa gefahren worden waren, reichte der Platz auf den Tribünen längst nicht für alle Riesaer. Auch Eisenbahn-Enthusiast Roland Georgi bekam dort keinen Platz mehr ab. „Ich musste damals an jedem zweiten Wochenende arbeiten“, erinnert sich der 63-Jährige, der als Lagerarbeiter im Rohrhandel tätig war. Leider gehörte auch das Festwochenende 8./9. April 1989 dazu. Immerhin hatten die Chefs ein Einsehen: Die Schicht durfte ein bisschen früher Feierabend machen. „So konnte ich den Nachbau der Saxonia noch auf der Nossen-Strecke sehen und habe ihm dort gewunken“, sagt der Riesaer.
Damit war er nicht allein. „Am Riesaer Bahnhof haben die Leute sogar auf den Dächern gestanden.“ Die ganze Stadt sei voll gewesen, an jeder Bratwurstbude habe eine lange Schlange gestanden. Ein Blick ins Programmheft verrät, was damals los war: Am Bahnhof Riesa gab es Lokfahrten, Programm vom Jugendklub „Ernst Thälmann“, eine Hobby-Ausstellung. Wenige Meter weiter im Klubhaus der Gewerkschaften fuhren Modelleisenbahnen, in der Straße der DSF – heute Bahnhofstraße – gab es einen Handwerkermarkt samt Kinderfest, im Haus der Stahlwerker – beim heutigen Mercure-Hotel – ein Programm mit Modenschau, Kabarett und Zauberkünstler. Und im Kino Capitol trat der bekannte Bergsteigerchor „Kurt Schlosser“ auf, während gleichzeitig die Jugend sich im „Klub der Jugend und Sportler“ an der Großenhainer Straße zum Tanz traf. Getanzt wurde auch im Klubhaus des Reifenwerks, während im Heimatmuseum Eisenbahnfilme „nonstop“ liefen.
Roland Georgi hätte sich gewünscht, dass man wenigstens ein kleines Programm auch 2019, zum 180. Jubiläum der Fernbahn, auf die Beine gestellt hätte. „Eine Dampflok-Sonderfahrt wäre doch das Mindeste“, sagt der Riesaer. In der Stadt verweist man dagegen darauf, aktuell mit den Veranstaltungen zum Festjahr 900 Jahre Riesa und dem bevorstehenden Tag der Sachsen genug zu tun zu haben.
Und tatsächlich wirkten 1989 längst nicht nur Riesaer an der Vorbereitung des Volksfestes mit: Beim Programm hatte die Konzert- und Gastspieldirektion Dresden den Hut auf, das Programmheft nennt einen Chefregisseur, einen Chefgestalter, einen Produktionsleiter. Das Jubiläum in Riesa sollte schließlich ein einmaliger Höhepunkt werden – wohl auch aus politischen Gründen. Denn nur vier Jahre zuvor hatte es jenseits des Eisernen Vorhangs ein ähnliches Jubiläum gegeben: 1985 hatte die Bundesbahn in Nürnberg das Jubiläum „150 Jahre Deutsche Eisenbahnen“ gefeiert. Da wollte die DDR mit dem Fernbahn-Jubiläum in Riesa als Gegenstück nicht hintenanstehen. Und so bereitete man allein für die Bahnparade bei der Reichsbahn 150 Fahrzeuge vor. Das Konzept für die extrem detailliert vorbereitete Schau hatte 210 Seiten, allein die Fahrplananordnung gilt als logistisches Meisterstück. Aus 45 Standorten von der Ostsee bis zum Thüringer Wald hatte man Loks nach Riesa anrollen lassen – und musste sie anschließend auch wieder zurückführen.
Den Riesaern und ihren Besuchern dürfte der Aufwand damals zum großen Teil verborgen geblieben sein. Sie konnten sich an einem Spektakel erfreuen, das bis heute seinesgleichen sucht.
Viele Informationen für diesen Beitrag stammen aus dem Buch „Der Eisenbahnknoten Riesa“ vom Autorenkollektiv des Städtischen Zentrums für Geschichte und Kunst der FVG Riesa, Riesa 2004.