Die unwürdige Lüge um die Altenpflege

Der Block in Löbau ist einer von vielen unscheinbaren Plattenbauten in der Siedlung. Von außen deutet nichts darauf hin, dass ein Löbauer Pflegedienst dort mehrere Senioren-Wohngemeinschaften betreibt. Und das beschäftigt seit gut einem halben Jahr die Staatsanwaltschaft Görlitz. Der Verdacht: Abrechnungsbetrug. Doch glaubt man den Schilderungen ehemaliger Mitarbeiter des Pflegedienstes, liegt dort mehr im Argen.
Ruchbar wurde die Pflegepraxis hier, als im Februar 2019 der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) zu einer Prüfung anrückte. Bei einer solchen mehrtägigen Prüfung werden unter anderem Pflegedokumentationen über mit der Krankenkasse abgerechnete Leistungen und Dienstpläne gesichtet und auf Plausibilität geprüft. Und genau dabei stellte der MDK Auffälligkeiten fest. So gravierend, dass die betroffene Krankenkasse AOK im November 2019 Strafanzeige erstattete. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Abrechnungsbetruges gegen die Pflegedienstbetreiberin.
Verdacht auf unqualifizierte Pflegekräfte
Die Staatsanwaltschaft bestätigt SZ gegenüber das Ermittlungsverfahren, will aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Angaben dazu machen. Laut einer SZ vorliegenden kriminalpolizeilichen Zeugenvernehmung wird der Betreiberin zum einen vorgeworfen, im August 2018 für eine Bewohnerin Leistungen abgerechnet zu haben, obwohl die Frau zur fraglichen Zeit im Krankenhaus lag.
Weiter soll sie zumindest im März 2018 Leistungen von Pflegefachkräften doppelt abgerechnet haben. Demnach seien diese Mitarbeiter zeitgleich in der Pflege-WG und im ambulanten Pflegedienst außerhalb des Hauses eingesetzt gewesen. Außerdem wird der Betreiberin die Manipulation von Pflegedokumentationen vorgeworfen. Denn dokumentierte und abgerechnete Leistungen seien auf den Pflegeprotokollen von Mitarbeitern abgezeichnet worden, die laut der Dienstpläne zu dieser Zeit gar keinen Dienst hatten.
Auch betreffend die gebotene Pflegequalität in der Intensivpflege argwöhnten die MDK-Prüfer. Demnach besteht der Verdacht, dass Patienten dort wiederholt nur durch Pflegehilfskräfte statt wie vorgeschrieben - und in den Pflegeverträgen vereinbart - von Pflegefachkräften betreut wurden. Auch hier sollen Pflegedokumentationen manipuliert worden sein. Welcher finanzielle Schaden bei all diesen vermuteten Täuschungshandlungen entstanden sein könnte, will die AOK auf SZ-Anfrage wegen des noch laufenden Ermittlungsverfahrens nicht mitteilen.
Ehemaliger Mitarbeiter klagt an
Die der SZ vorliegende Zeugenaussage eines ehemaligen Mitarbeiters stützt die Vermutungen der Staatsanwaltschaft bezüglich der Manipulationen und dem Einsatz nicht ausreichend qualifizierter Pflegekräfte. Aufgrund des noch laufenden Ermittlungsverfahrens zitiert SZ aus dieser Aussage jedoch nicht.
Außerhalb dieses Vernehmungprotokolls erhebt der ehemalige Mitarbeiter aber weitere Vorwürfe gegen den Pflegedienst. Laut eigenen Angaben hat er sein Arbeitsverhältnis dort selbst gekündigt. "Ich habe nach meinem Ausscheiden in einem Brief an die Heimaufsicht Pflegemissstände dort angeprangert", erzählt er. "Wir mussten Bewohner nachts einschließen, weil sie weglaufgefährdet waren. Das ist natürlich nicht erlaubt", schildert auch eine andere ehemalige Mitarbeiterin gegenüber SZ. Zudem habe es in der WG regelmäßig zu wenig Lebensmittel für die Bewohner gegeben. "Und Bewohner lagen teilweise bis mittags in ihren Ausscheidungen und wurden nur ungenügend mobilisiert", erzählt sie weiter.
Nachts seien die Bewohner der Senioren-WG stets sich selbst übelassen gewesen. Auch Alarmknöpfe an den Betten oder in den Zimmern gab es nicht. "Es hieß immer, das ist ja eine Wohngemeinschaft und kein Heim, da ist das nicht vorgeschrieben", erzählt der Mitarbeiter. Beide ehemaligen Mitarbeiter halten den Plattenbau auch für ungeeignet für den Betrieb einer Intensivpflege.
Heimaufsicht weitgehend machtlos
Die Heimaufsicht fühlt sich von SZ befragt weitgehend machtlos und unzuständig für die beklagten Umstände. Die Wohngemeinschaften seien der Heimaufsicht erst im Oktober 2019 durch die Betreiberin angezeigt worden, heißt es - also lange nach jener MDK-Prüfung. "Eine nächtliche Pflege oder Betreuung kann – anders als in einer stationären Einrichtung - nicht vorausgesetzt werden", teilt Monika Pittasch von der Heimaufsicht mit. Auch die Nutzung eines Rufsystems sei eine individuell zu vereinbarende Leistung. "Wichtig ist, dass es sich bei Pflegewohngemeinschaften um eine ambulante Versorgungsform handelt", so Pittasch.
Daher könne die Heimaufsicht auch die bauliche Eignung der Einrichtung nicht bemängeln. "Für selbstbestimmte Wohngemeinschaften sind heimrechtlich keine bestimmten Bauanforderungen vorgesehen. In der Regel handelt es sich bei den genutzten Räumen von Pflegewohngemeinschaften um Wohnungen des freien Wohnungsmarktes", erklärt Monika Pittasch. Aber immerhin: "Sollten die benannten pflegerischen Umstände in der Einrichtung tatsächlich vorliegen, würde dies einen gesetzlichen Mangel darstellen."
Der trügerische "Pflege-Navigator"
Auch ein Blick auf den im Internet einsehbaren "Pflege-Navigator" der AOK stützt die Darstellungen der ehemaligen Mitarbeiter. Dort erhält die Pflegeeinrichtung die Gesamtnote "Befriedigend". Das ist weit unter der sächsischen Durchschnittsnote von 1,4 (sehr gut) aber dennoch nur bedingt aussagekräftig. Die Noten im "Pflege-Navigator" werden erstellt nach den Prüfergebnissen des MDK. Aufgrund der letzten Prüfung vom Dezember 2019 erhielt die Einrichtung im Bereich "Dienstleistung und Organisation" ein "Sehr gut". Diese Note jedoch verwässert die Gesamtnote erheblich.
Denn im Bereich "Ärztlich verordnete pflegerische Leistungen" gibt's ein "Mangelhaft". Das dazu ebenfalls angehängte Prüfprotokoll zeigt, dass ärztlich angeordnete Medikationen nur unzureichend erfolgten und auch "pflegerische Maßnahmen zur Behandlung der chronischen Wunden oder des Dekubitus" nicht auf dem aktuellen Stand des Wissens sind.
Auf die Frage, wie einer Einrichtung eine "sehr gute" Organisation attestiert werden könne, wenn die "ärztlich verordneten pflegerischen Leistungen" dort mangelhaft sind, erhielt SZ vom MDK eine ernüchternde Antwort: "Die Fragen, welche sich im Qualitätsbereich 3 "Dienstleistung und Organisation" verbergen, stellen auf die Einhaltung formaler Anforderungen ab, das heißt, liegen Regelungen und Konzepte vor", erklärt Diana Arnold vom MDK Sachsen. Doch diese Note sagt nichts über die Wahrheit, wie Senioren in der betreffenden Einrichtung gepflegt werden. "Das Vorliegen dieser Regelungen/Konzepte ist jedoch nicht Garantie für die Qualität der Versorgung, welche vor allem im Qualitätsbereich 1 (Pflegerische Leistungen) und 2 (ärztlich verordnete pflegerische Leistungen) betrachtet wird", so Arnold weiter.
SZ hat die Betreiberin mit den Vorwürfen des Ermittlungsverfahrens konfrontiert. "Davon höre ich zum ersten Mal", sagt sie am Telefon. Keiner dieser Vorwürfe entspreche der Wahrheit, es handele sich dabei um bösartige Gerüchte. Auf SZ-Anfrage erklärt die Staatsanwaltschaft, dass die Betreiberin noch nicht zur Sache vernommen wurde.