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Auch Pegida wird irgendwann langweilig

Was man aus der Geschichte über Populismus und Hassreden lernen kann: Ein Gastbeitrag des Dresdner Historikers Professor Martin Jehne.

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Eine Pegida-Versammlung 2017.
Eine Pegida-Versammlung 2017. © Paul Sander

Von Martin Jehne

Im Jahre 56 v. Chr. lag der römische Politiker Publius Clodius mit dem großen Pompeius über Kreuz, dem wohl mächtigsten Mann Roms in dieser Zeit. Bei einem öffentlich auf dem Forum stattfindenden Prozess gegen Annius Milo, der den gewaltbereiten Banden des Clodius mit noch brutaleren Schlägertrupps entgegengetreten war, hatte Pompeius als Verteidiger tapfer gegen die Störungen der Clodiusanhänger angeredet. 

Als danach Clodius die Anklage vertrat, zahlte es ihm die Gegenseite heim und lärmte ebenfalls, wobei einmal mehr die Standardschmähung gegen Clodius vorgebracht wurde, dass er nämlich mit seiner Schwester ein Verhältnis habe. Clodius wurde wütend und ging zum Gegenangriff über, indem er seine Unterstützer fragte: „Wer läßt die Plebs verhungern?“ „Pompeius!“ brüllten die Clodianer im Sprechchor. „Wer ist begierig darauf, nach Alexandria zu gehen (gemeint ist: den ägyptischen König dort wieder einzusetzen und Massen an Geld dafür zu kassieren)?“ „Pompeius!“ „Wen wollt ihr schicken?“ „Crassus!“ – also den Rivalen des Pompeius. Nach weiterem Hin und Her kam es dann zu Handgreiflichkeiten, und da löste sich die Versammlung auf.

Heute haben wir das Gefühl, mit Schmähungen in einem nie dagewesenen Ausmaß konfrontiert zu sein. Ein Blick in die Geschichte hilft uns zwar nicht gegen die Schmähungen, wohl aber gegen die egozentrische Vorstellung, es gehe uns in dieser Hinsicht so schlecht wie keiner anderen Kultur.

Verletzende Kommunikation unter Anwesenden

Im antiken Rom waren öffentliche Kränkungen und Beleidigungen keine Seltenheit. Das Geschehen im obigen Beispiel wirkt recht chaotisch, aber dahinter steckt durchaus eine Struktur. Normalerweise gibt es in einfachen Beleidigungsketten den Beleidiger, den Beleidigten und das Publikum, beschreibbar als die Menge der Anwesenden, die zunächst einmal weder Beleidiger noch direkt Beleidigte sind. Pompeius wurde durch das respektlose Gelärme von Zuhörern beleidigt, und deren Aktion wurde dem Ankläger Clodius zugeschrieben. Anschließend wurde Clodius von einem anderen Teil der Anwesenden beleidigt, und diese Gruppe wurde als Pompeius-freundlich identifiziert. Clodius reagierte dann darauf durch den Abruf einer Choreographie, durch die wieder Pompeius beleidigt wurde.

Solche Wort- und Rollenwechsel – mal ist man der Beleidiger, mal der Beleidigte – sind normale Vorgänge bei verletzender Kommunikation unter Anwesenden. Die Protagonisten setzen sich gegenseitig herab, der eine erhebt sich über den anderen. Der Erfolg ist immer davon abhängig, wem es gelingt, die zunächst nicht Involvierten auf die eigene Seite zu ziehen. Dieses Publikum kann mit seiner Reaktion entscheiden, wer in einem Schmähungswettbewerb der Sieger ist und wer der Verlierer. Nicht immer muss der Angegriffene mit einer eigenen Beleidigungstirade reagieren, um zu gewinnen. Denn wenn das Publikum die anfängliche Schmähung nicht mit Unterstützungssignalen begleitet, dann wirkt die Initiative eher peinlich, und der Beleidiger fühlt sich quälend einsam.

Solche Risiken werden gern vermieden, indem man versucht, Schmähungen vor eigenem Publikum loszuwerden, sodass Begeisterungsstürme erwartbar sind. Das gilt für das Alte Rom genauso wie für die Gegenwart. Ein römischer Amtsinhaber beschimpft seine Gegner gerne in einer Versammlung, bei der seine Unterstützer weitgehend unter sich sind, und auch bei Pegida schmäht man vor einem schon überzeugten und daher auf positive Resonanz geeichten Publikum. Nur hofft man in der Gegenwart natürlich auf eine vielfältige Verbreitung in den Medien, deren Interesse aber, den Gesetzlichkeiten massenmedialer Kommunikation entsprechend, bald erlischt. Auch eine Schmähgemeinschaft wie Pegida kann es daher nicht vermeiden, außerhalb seiner überschaubaren, treuen Anhängerschaft langweilig zu werden.

Massives römisches Rachebedürfnis

Warum werden aber politische Reden vor ohnehin schon Überzeugten gehalten, und warum werden dabei gerne Gegner verunglimpft? Dabei spielt nicht nur das berauschende Erlebnis eine Rolle, das die Zustimmung eines präsenten Publikums beim Redner auslöst. Sondern auch das Bedürfnis, aus einer in sich durchaus heterogenen Gruppe eine stabile Unterstützergemeinschaft zu machen. 

Die Integration der eigenen Anhängerschaft funktioniert am besten über die Schmähung gemeinsamer Feinde. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der AfD Alexander Gauland hat im vergangenen Jahr zweifellos bewusst weitgehend vor Parteimitgliedern gesprochen, als er die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung „in Anatolien entsorgen“ wollte und später die Zeit des Nationalsozialismus zum „Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ erklärte.

Vor seinem Publikum war Gauland damit ein Sieger, der sich von all den angeblichen Sprechverboten frei gemacht hatte. Dass dann sofort Kritik und Empörung von vielen Seiten einsetzte, war für die wohlig integrierten Anhängerschaften unerheblich. In den erheblich schärfer gewordenen und mit regelmäßigen verbalen Grenzüberschreitungen vonseiten populistischer Gruppierungen gespickten Auseinandersetzungen der Gegenwart ist es eine Haltung vieler Politiker und Bürger, sich den scharfen Ton der Populisten nicht aufdrängen lassen zu wollen.

Das wäre den Römern nie eingefallen. Wenn es ein Geschmähter einem Schmäher nicht sofort heimzahlen konnte, dann eben bei späterer Gelegenheit. Wir sollten uns das massive römische Rachebedürfnis nicht zu eigen machen. Doch sollte uns zu denken geben, dass die populistische Stabilisierung eigener Anhängerscharen über Exklusion und Herabsetzung von als anders konstruierten Menschen funktioniert und mit dem Machogehabe kombiniert ist, sich vor seinen Anhängern als Sieger in selbst angezettelten Beleidigungswettkämpfen zu präsentieren.

Diese Siegerrolle hat erhebliche interne Integrationseffekte, die man nicht immer hinnehmen muss. In den Arenen der politischen Kommunikation unter Anwesenden, also in den Parlamenten der gewählten Volksvertreter/innen, in denen man schnell reagieren kann, sollte man daher verbale Grenzüberschreitungen nicht nur mit Empörung, sondern auch mal mit Gegenattacken begegnen. Natürlich innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung, eines gewissen Restanstands und ohne biologistische Herabsetzungen und Ausgrenzungen.

Misthaufen als Methapher

Martin Schulz hat dies im September 2018 im Bundestag vorgemacht. Schulz attackierte in einer Zwischenfrage die abwiegelnde Rede von Gauland über eine Demonstration unter anderem von Rechtsextremen in Chemnitz. Und er kam am Ende zu der pointierten Schmähung, die Menge von Vogelschiss sei ein Misthaufen, und auf den gehöre Gauland in der deutschen Geschichte. Damit replizierte er konsequent auf frühere Grenzüberschreitungen: Er nahm das umstrittene Diktum von der Nazizeit als Vogelschiss in Relation zu 1.000 Jahren „erfolgreicher deutscher Geschichte“ (was immer das sein soll) auf und verband es mit einem Misthaufen, auf den Gauland gehöre. Er mied jedoch den für Menschen anrüchigen Terminus „entsorgen“, der eigentlich für Müll reserviert ist. Schulz knüpfte an die Entsorgung in Anatolien an, die Gauland verbal der Integrationsbeauftragten angekündigt hatte, aber ohne den Beiklang von Zwangsdeportation. Denn während Anatolien real existiert und der Transfer eines Menschen dorthin möglich ist, ist der Misthaufen der Geschichte, der real nicht existiert, nur eine Metapher.

Die massiven Auseinandersetzungen zwischen Pompeius und Clodius und ihren jeweiligen Unterstützern gingen noch wochenlang weiter. Schließlich nahm sich Marcus Cicero, der größte Redner und Schmäher Roms, im Rahmen eines weiteren Prozesses gegen einen Clodiusgegner der Sache an und attackierte Clodius, der mit einiger Plausibilität als Drahtzieher hinter der Anklage identifiziert werden konnte. Prozesse, in denen Senatoren angeklagt wurden, waren immer primär Politik, und entsprechend fielen die Reden aus. Cicero formulierte unter anderem, Clodius sei aus dem zusammengespülten Dreck aller Verbrechen heraus entstanden, er sei ein scheußliches, entsetzliches Ungeheuer, und natürlich durfte der Inzestvorwurf, diesmal gleich mit den Schwestern in der Mehrzahl und auch noch mit den Brüdern, in den Attacken nicht fehlen.

Schon dieser kleine Ausschnitt aus dem Repertoire dürfte deutlich machen: römische Schmähungen in politischen und persönlichen Auseinandersetzungen gehen weit über das hinaus, was bei uns heutzutage denkbar wäre (wenn man einmal von den entfesselten Postern im Internet absieht, die dabei aber oft anonym zu bleiben suchen). Vor allem die gängige Praxis, den Feinden sexuelle Verfehlungen aller Art vorzuwerfen, wohlgemerkt ohne die Spur eines Beweises, ist in unserer Zeit kein als zulässig oder auch nur als vorteilhaft angesehenes Mittel zur Schmähung von Gegnern. Insgesamt zeigen historische Vergleiche aber deutlich: Gegenwärtige Formen und Frequenzen der Beleidigung sind nicht weltgeschichtlich singulär. Vielmehr gab es Kulturen, in denen es noch weit härter zuging.

Auf die Verschärfung im Ton verbaler Auseinandersetzungen werden wir uns wohl bis zu einem gewissen Grade einstellen müssen. Wenn die Grenzen des Sagbaren durch faktische Überschreitungen verschoben werden, kann man sie durch vornehme Zurückhaltung nicht einfach wieder an die alte Stelle zurückbewegen.