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Der Sachse, der noch mit 84 Jahren pfeift

Kurt Müller ist einer der ältesten Schiedsrichter Deutschlands. Nur eins von 4.037 Spielen muss der Zwickauer abbrechen.

Von Michaela Widder
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Mit Humor und seinem bestimmten Auftreten verschafft sich Kurt Müller bei den Fußballern vom SV Kirchberg 2 und dem FC 02 Zwickau Respekt.
Mit Humor und seinem bestimmten Auftreten verschafft sich Kurt Müller bei den Fußballern vom SV Kirchberg 2 und dem FC 02 Zwickau Respekt. © kairospress

Viel rennen muss Kurt Müller nicht. Es ist eine einseitige Partie, die er auf dem idyllisch gelegenen Auerbach-Sportplatz in Zwickau am Sonntagmorgen vor ein paar Eltern pfeift. Am Ende hat er auf seiner Karteikarte immerhin neun Tore notiert – alle für die Gäste. Die C-Juniorinnen des Chemnitzer FC dominieren dieses Landesligaspiel gegen den DFC Westsachsen – für den Referee eine entspannte Begegnung ohne Verwarnungen.

Die Statistik überträgt er danach akkurat auf eine weiße Postkarte – so wie er es seit 55 Jahren handhabt. Seine Arbeitsnachweise füllen vier Schuhkartons in der Garage seines Hauses. Die Postkarten bündelt er nach Jahren. Am vorigen Sonntag war es sein 4.037. Spiel als Schiedsrichter. „Andere sammeln Briefmarken“, sagt Kurt Müller, „ ich muss für jede Karte noch eine Leistung auf dem Platz bringen.“

Kurt Müller bereitet sich aufs Spiel vor. Die Rote Karte zeigt er selten.
Kurt Müller bereitet sich aufs Spiel vor. Die Rote Karte zeigt er selten. © kairospress

Sein Alter sieht man dem Zwickauer nicht an. Im Sommer wird er 85 – und ist damit einer von Deutschlands ältesten Schiedsrichtern. Ans Aufhören denkt er noch nicht, „solange ich Spaß und das Gefühl habe, auf dem Platz anerkannt zu werden. Wenn nach dem Spiel auch die Verlierer mit meiner Leistung zufrieden sind, habe ich nichts falsch gemacht“.

Ein befreundeter Arzt frage ihn regelmäßig: „Tragen dich noch deine Füße? Hast du noch Spaß? Dann mach weiter.“ Probleme mit der Puste, die habe er auch auf dem Platz nicht. Als er als 81-Jähriger noch den Coopertest – den Ausdauerlauf über zwölf Minuten – ablegte, war er schneller unterwegs als manche Kollegen, die halb so alt sind. „Die drei Runden habe ich locker in der Zeit geschafft.“ Mittlerweile ist er von dem Test, den Schiedsrichter regelmäßig nachweisen müssen, befreit.

Kurt Müller ist in Zwickau ein Urgestein und eher unter seinem Spitznamen bekannt. In Fußballkreisen nennen sie ihn Poldi, und keiner denkt dabei an den ehemaligen Nationalspieler Lukas Podolski. Als in den 1950er-Jahren mal drei Kurt Müllers aufeinandertrafen und keiner mehr wusste, wer gemeint war, wurde er zu Poldi. „Weil ich überall meine Nase reingehangen habe“, erzählt er, hätte man ihn nach dem Inspektor aus einem Kriminalroman von Edgar Wallace benannt.

Sein erstes Spiel hat der frühere Fußballer, der mal Torschützenkönig in der Kreisklasse war, am 18. Oktober 1964 geleitet. Viele Jahre pfiff er für Turbine Zwickau. Nach der Insolvenz des Klubs 2005 wechselte er in den Damen Fußballclub Westsachen und später zur SG Friedrichsgrün. Mit einem freundlichen, aber bestimmten Auftreten verschafft sich der erfahrene Mann an der Pfeife Respekt. Und ganz wichtig: „Wenn du keinen Humor hast, hast du verloren.“ Deshalb kommt es schon mal vor, dass er nach einer Entscheidung, die vom Gegner angezweifelt wird, mit den Händen das Zeichen für den Videobeweis andeutet.

Riesentumult im Sportlerheim

Was auf seine Pfiffe allerdings nur selten folgt, sind Rote Karten. Er muss keine Farbe ins Spiel bringen, um sich als Referee besonders hervorzutun. Ein einziges Mal musste er in seiner langen Karriere als Schiedsrichter ein Spiel abbrechen.

Es war im März 1993, als es beim Kreisligaspiel zwischen dem SV Weißbach und Motor Zwickau Süd zu einem Zwischenfall kam. Eine Gruppe von rund 25 Hooligans randalierte während der Partie im Sportlerheim. Es flogen Aschenbecher und Biergläser. Die Polizei wurde gerufen. „Das war ein Riesentumult“, erinnert sich der Referee, der die Partie in der 44. Minute abbrach.

Unvergessen, dafür aber mit schöneren Erinnerungen verbunden, bleibt das Vorbereitungsspiel am 18. November 1997 zwischen Zweitligist FSV Zwickau und Motor Thurm (6:0), das er vor 1.000 Zuschauern bei elf Grad minus pfeifen durfte. Damals seien viele Spieler wegen der Kälte mit Ohrenschützern aufgelaufen, erzählt Müller. Die Partie habe er dennoch nicht abgebrochen. Kälte sei für ihn keine Begründung.

Die meisten Einsätze heutzutage hat der rüstige Rentner in der 2. Kreisklasse, manchmal übernimmt er auch Frauen-Spiele. Für sein unermüdliches Engagement auf den Fußballplätzen in und um Zwickau wurde er 2011 als Schiedsrichter des Jahres in Sachsen ausgezeichnet. Im März ist er beim Sportlerball in Glauchau mit dem Förderpreis der Deutschen Olympischen Gesellschaft geehrt worden. Die Bronze-Figur hat wie alle seine Urkunden einen Platz in der Garage bekommen.

Wenn er nicht gerade einen Einsatz hat – manchmal pfeift er sogar zwei Spiele an einem Tag –, geht er zu seinem Lieblingsverein, dem FSV Zwickau, oder werkelt in seinem Haus. Erst kürzlich hat Kurt Müller eine neue Dusche eingebaut, auch sonst erledigt er alle Reparaturen selbst und mäht noch den Rasen. Trainieren für seinen Job als Referee müsse er nicht extra, findet der Schiri. „Früher bin ich noch mit dem Rad zum Spiel gefahren.“ Bei Betriebssportfesten habe er oft über 100 und 1000 Meter abgeräumt. „Das liegt in den Genen.“ Selbst wenn es wie jetzt im Rücken zwickt, ist das kein Grund, ein Spiel abzusagen.

Kurt Müller lebt sein Leben lang schon gesund, hat noch nie Alkohol getrunken, also auch kein Sieg-Bier in der Kabine. Und wenn er mal wieder das Gefühl hat, sein Idealgewicht gerade etwas zu verlieren, hat er einen Trick: „Ich trage deshalb nur Hosen mit Knöpfen. Wenn es dann drückt, esse ich zum Frühstück statt zwei kleinen Semmeln eben nur noch eine.“