SZ +
Merken

Des Bürgermeisters Notizen

Alfons Ryćer wurde kurz vor und dann auch sofort nach der Wende ins höchste Amt in Ralbitz gewählt. Der Blick in seine Aufzeichnungen von damals ist interessant.

Von Andreas Kirschke
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Demokratie braucht Engagement. Meint Alfons Rycer aus Schönau. Er war Bürgermeister in Ralbitz-Rosenthal, später Vorsitzender des Verwaltungsverbandes Am Klosterwasser. Im Ruhestand ist er u.a. ehrenamtlicher Richter beim Amtsgericht Kamenz.
Demokratie braucht Engagement. Meint Alfons Rycer aus Schönau. Er war Bürgermeister in Ralbitz-Rosenthal, später Vorsitzender des Verwaltungsverbandes Am Klosterwasser. Im Ruhestand ist er u.a. ehrenamtlicher Richter beim Amtsgericht Kamenz. © René Plaul

Alfons Ryćer hat einen extra Ordner angelegt. Darin bewahrt er die Aufzeichnungen einer besonderen Zeit auf. Es sind Protokolle von Ratssitzungen, Schreiben der Gemeinde und der Bürger, Notizen der Dienstberatungen, Antworten der Ämter und – Zeitungsbeiträge. „Ich hätte Tagebuch führen sollen“, sagt der 59-jährige Schönauer heute. Von 1989 bis 1994 war er Bürgermeister in Ralbitz gewesen. In bewegten Tagen, Monaten, Jahren. Alfonc Ryćer war im Dezember 1988 gefragt worden, ober er Nachfolger von Günter Mirtschink werden wolle. Nach reiflicher Überlegung sagte er zu. „1984 war ich als Katholik der CDU beigetreten. Im gleichen Jahr heiratete ich nach Schönau ein. Ohne den Umzug hierher wäre nicht Kommunalpolitiker geworden.“

Es ging um das Machbare im Dorf

Am 18. Mai 1989 leitete er die erste Sitzung des neu gewählten Gemeinderates. Die im Gesamtergebnis gefälschte Kommunalwahl spielte dabei keine Rolle. Es ging um das Machbare im Dorf. In Ralbitz installierte der VEB Gebäudewirtschaft die Elektrik im neuen Konsum. Für Naußlitz wurde das Kulturhausprojekt erarbeitet. Und in Cunnewitz musste das Dach der Kapelle erneuert werden. Die Kommune reichte Projekte beim Rat des Kreises ein. Das war Vorschrift. Vermerkt sind in Alfons Ryćers Notizen auch langfristige Wünsche: zwei Kindergärten (Cunnewitz, Ralbitz), eine Verkaufsstelle in Cunnewitz, eine Krippe (falls notwendig) und eine Kläranlage für ungefähr 350 Einwohner. „Eingaben der Bürger ernst nehmen. Nichts versprechen, was sich später nicht erreichen lässt. Beim Wohnungsbau versuchen, leerstehende Wohnungen wieder zu nutzen“, vermerkte der Bürgermeister in den Notizen.

Harsche Kritik der Einwohner

Vordringlich war der Bau der neuen Verkaufsstelle Ralbitz. Der Konsum verfiel immer mehr. „Die Verkäuferinnen leisteten oft schwere körperliche Arbeit. Wenn Schweinehälften geliefert wurden, mussten sie diese selbst zerlegen.“ Problematisch war die Brotversorgung. Bäckermeister Hubertus Scholze in Ralbitz konnte das nicht allein schaffen. Kurzerhand erhielt der Konsum Ralbitz regelmäßig 120 Brote von der Großbäckerei Pulsnitz. „Leider sind die hygienischen Bedingungen in der Verkaufsstelle sehr schlecht“, vermerkte das Protokoll zur Ratssitzung am 6. November 1989. Das war kurz vor der Maueröffnung, an die auch Alfons Ryćer nicht zu denken wagte. Nur ein paar Tage später war dann nichts mehr, wie es war. Die Wende hatte sich freilich schon davor abgezeichnet. Schon in vorangegangenen Ratssitzungen hatten die Einwohner harsche Kritik geübt: Hat der Staatsapparat all die Jahre bewusst geschlafen? Warum wird das Eigentum von jenen eingezogen, die die DDR verlassen haben? Warum arbeiten unsere Bauarbeiter in Berlin, wo doch bei uns viele Arbeitskräfte fehlen? „Manche wollten, dass die Namen der Stasi-Mitarbeiter veröffentlicht werden, damit man weiß, mit wem man es zu tun hat“, vermerkt das Notizbuch. Und: „Der Führungsanspruch der SED wird abgelehnt.“ In einem Aufruf gemeinsam mit den Bürgermeistern von Schwarzenberg, Plau, Radebeul, Schwerin, Eberswalde-Finow, Bismarck und Ehrenberg regte Alfons Ryćer die Gründung eines Städte- und Gemeindetages der DDR an. Eine Woche war er mit Amtskollegen in der Gemeinde Bickelheim (Rheinland-Pfalz). Dort lernte man, wie eine Gemeinde künftig zu verwalten und zu finanzieren ist. „Das war hilfreich. Von westdeutscher Seite kam Offenheit, Herzlichkeit, ehrliches Interesse. Es war Aufbruchstimmung.“

Namenszug an der Schule verschwindet

Nicht alles lief konfliktfrei. Am 14. Februar 1990 erteilte Alfons Ryćer dem Hausmeister der Ralbitzer Schule einen Verweis. Eigenmächtig hatte Josef Wowtscherk über Nacht mit anderen den Schriftzug „Maršal Konjew“ entfernt. So einfach ging das nun auch wieder nicht. Zunächst diskutierte der Gemeinderat über das Thema. Am 26. April 1990 beschloss er mehrheitlich, dass die Schule ab sofort schlicht „Sorbische Oberschule Ralbitz“ heißen soll. Immerhin waren zwischen 1945 und 1949 auch Sorben dem stalinistischen Terror zum Opfer gefallen. Andererseits sollte auch die Befreiungstat der sowjetischen und polnischen Armee in Ehren gehalten werden. Deshalb wurde die Art und Weise, wie der Namenszug von der Fassade der Schule verschwand, deutlich missbilligt.

Oder der Antrag von Einwohnern, die Gemeinde in die Kommunen Ralbitz (mit Naußlitz) und Cunnewitz (mit Schönau) aufzuteilen. „Das wurde in einer Versammlung kontrovers diskutiert“, erinnert sich Alfons Ryćer. ,„Seit 1973 gehörten Cunnewitz, Schönau, Neu-Schmerlitz als neue Ortsteile zur Gemeinde Ralbitz. Viele Bürger waren nicht einverstanden. Sie fühlten sich über Jahre hinweg benachteiligt. Jetzt – in der Wendezeit – sahen sie die Möglichkeit, den Schritt wieder rückgängig zu machen.“ Dazu kam es nicht. Eine Entscheidung des Rates wurde zunächst in den Herbst 1990 vertagt und kam später nie wieder zur Sprache.

Bauer rehabilitiert

Bei der Kommunalwahl im Mai 1990 wurde Alfons Ryćer als Bürgermeister bestätigt. Und am 29. Juni bat er im Namen der Gemeinde beim Amtsgericht Dresden um die Rehabilitierung des Genossenschaftsbauern Johann Möller aus Naußlitz. Das Bezirksgericht Dresden hatte ihn am 8. November 1962 zu drei Jahren Gefängnis „wegen staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ verurteilt. Was war 28 Jahre zuvor passiert? Johann Möller war als Arbeiter im Wasserbau tätig gewesen. Regelmäßig hörte er Westradio. Daraus machte er keinen Hehl. Er erklärte offen, dass er mit der Grenzziehung 1961 nicht einverstanden war und forderte die Wiederöffnung der Grenze. Er befürchtete Krieg zwischen Ost und West. Zudem sprach er von besseren Lebensverhältnissen im Westen und vom Zwangszusammenschluss der Bauern in der LPG in der DDR. Von den drei Jahren des Urteils war er 13 Monate inhaftiert, der Rest wurde ihm erlassen.

Am 26. Juli 1990 beantragte Johann Möller selbst auf Anraten der Gemeinde Ralbitz die Rehabilitierung am Bezirksgericht Dresden. Am 4. Oktober hob das Gericht das Urteil vom 8. November 1962 wieder auf. Er und zwei weitere Betroffene wurden nach fast 28 Jahren Unrecht rehabilitiert. Auch der Einsatz des Bürgermeisters Alfons Ryćer und seines freigewählten Gemeinderates war dabei hilfreich gewesen. Auch daraus erwuchs die Konsequenz seines Lebens, das ihn später (und bis 2015) sogar an die Spitze des Verwaltungsverbandes Am Klosterwasser führte: „Demokratie braucht Engagement.“

Mehr Nachrichten aus Bautzen lesen Sie hier. 

Mehr Nachrichten aus Bischofswerda lesen Sie hier.

Mehr Nachrichten aus Kamenz lesen Sie hier.