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Die letzten Widerständigen von Pödelwitz

Die Mibrag will den Ort abbaggern und hat die meisten Bewohner schon rausgekauft. Die neue Regierung unterstützt den rebellierenden Rest. Und jetzt?

Von Franziska Klemenz
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Usprünglich sollte das Kraftwerk Lippendorf bis 2040 betrieben werden. Durch den Kohleausstieg geht es voraussichtlich bis 2038 vom Netz.
Usprünglich sollte das Kraftwerk Lippendorf bis 2040 betrieben werden. Durch den Kohleausstieg geht es voraussichtlich bis 2038 vom Netz. © kairospress

Wenn man Wolken wie Würste stopfen könnte, sie sähen so aus. Etwas zu fett und etwas zu voll quillt die weiße Masse aus zwei riesenhaften Schlünden, den Türmen des Kraftwerks Lippendorf. Die zahnsteinfarbenen Zylinder dominieren die Landschaft, wie es sonst nur Berge können. Zu ihren Füßen klafft der Tagebau Vereintes Schleenhain, aus dem die Kohle für das Kraftwerk kommt. Die mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft (Mibrag) lässt die Kohle in der Region südlich von Leipzig graben und verheizen. „Für mich gibt es keinen Anlass, mein Leben dem Willen des Konzerns anzupassen“, sagt Jens Hausner.

Rund 500 Meter von der Tagebaukante entfernt tappt der 53-Jährige durch eine aufgeräumte Küche in Pödelwitz. Fachwerkhäuser, Dreiseithöfe und eine mehr als 700 Jahre alte Kirche zeichnen ein romantisch-verwittertes Bild in das Dorf. Hätte es nicht verschwinden sollen, wäre es im öffentlichen Diskurs wohl nie aufgetaucht. Ein Synonym für Protest ist es geworden. Um an die Kohle unter Pödelwitz zu kommen, kaufte die Mibrag rund 100 Menschen aus ihren Häusern. Hausner und gut 20 weitere widersetzten sich und blieben, auch aus Tradition. Die Familie von Hausners Frau lebt seit 300 Jahren in dem Dorf. Zwischendurch erschien ihr Kampf aussichtslos, jetzt könnte er gewonnen sein.

Sachsens neue Regierung bekennt sich zum Erhalt des Dorfes – eine Bedingung der Grünen. Im Vertrag mit CDU und SPD heißt es: „Die Koalitionsparteien möchten den Ort Pödelwitz erhalten.“ In Gesprächen mit dem Bergbauunternehmen suche man einen „rechtssicheren Weg“, der den Betrieb des Kraftwerks Lippendorf „im Rahmen des Kohlekompromisses sicherstellt.“ Jauchzen oder prosten will Jens Hausner erst, wenn die Absichtserklärung in Rechtssicherheit mündet. Die Jahre des Kampfes haben ihn skeptisch gestimmt.

Statt Schampus schenkt er Kaffee aus. Menschen zu bewirten, ist für Hausner die Begleiterscheinung seines Engagements geworden. Viele besuchten das unbeugsame Pödelwitz, sahen darin eine Art Neuauflage Galliens, nur ohne Rom und ohne Cäsar. Dafür mit einem anderen prominenten Kontrahenten: Knapp zwei Jahre nach seinem Rücktritt übernahm Ex-Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) das Amt als Aufsichtsratsvorsitzender der Mibrag.

Dorfbewohner Jens Hausner hat maßgeblich dazu beigetragen, den Protest um Pödelwitz bekannt zu machen. Er ist Sprecher von „Pro Pödelwitz“.
Dorfbewohner Jens Hausner hat maßgeblich dazu beigetragen, den Protest um Pödelwitz bekannt zu machen. Er ist Sprecher von „Pro Pödelwitz“. © kairospress

Pödelwitz wurde zum Politikum, weil die Mibrag von ihrem Plan abwich. Auch vor den Überlegungen zum Kohleausstieg 2038 war der Betrieb des Kraftwerks Lippendorf nur bis 2040 vorgesehen, die Braunkohlebestände unter Pödelwitz sind dafür nicht nötig. Als die tschechische Gesellschaft EPH 2011 den Konzern übernahm, kam Pödelwitz ins Gespräch. Dem Plan entsprechend müsste die Mibrag zur Sicherung des Kraftwerkbetriebs ein neues Abbaufeld am Groitzscher Dreieck aufreißen, was Kosten im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich bedeutet. Innerhalb des bestehenden Tagebaus vor Pödelwitz zu graben, ist günstiger.

Der Grünen-Landtagsabgeordnete Gerd Lippold hat den Prozess begleitet. „Man hat den Einwohnern gesagt: Ihr werdet fürchterliche Lärm- und Staubbelastung haben, eure Grundstücke sind dann auch nicht mehr so viel wert“, sagt er. Aber man könne sich vorstellen, Umsiedlungs-Verträge zu schließen. Der Lärm, der Staub: eine Behauptung, die auf Pödelwitz kaum zutrifft. Der Wind weht die Partikel-Wolken aus dem Kraftwerk in die entgegengesetzte Richtung, die Pödelwitzer Luft atmet sich hustenfrei.

Und doch, die Dorfgemeinschaft stimmt im Mai 2012 für ihre Umsiedlung. Hausner hält Geld für die Motivation. „Für uns war das bitter, wie die mit wehenden Fahnen abgehauen sind.“ Gefeiert und mit Sekt angestoßen hätten die Umsiedler, während der Rest rebelliert. Im Frühjahr 2013 gründet sich die Initiative Pro Pödelwitz, die eine wachsende Zahl an Menschen, Parteien, Verbänden erreicht.

Vier Jahre später entsteht in Kooperation mit Umwelt- und Klimaverbänden zusätzlich das Bündnis „Pödelwitz bleibt“, das den Protest fortan mit Veranstaltungen unterstützt. Das Gros der Umsiedler ist spätestens 2016 weg. 2018 findet das erste Pödelwitzer Klimacamp statt, 2019 das zweite. Einsam habe man sich nicht gefühlt, als das Dorf geleert war, sagt Hausner. Eher erleichtert. „Wir hätten mit denen zeitlebens nie Frieden gekriegt. Und nie ein Klimacamp machen können.“

© kairospress

In flachen Bögen hängen bunte Girlanden über eine Wiese mitten im Dorf, Männer liegen mit Gitarren im Stroh. In Pödelwitz wirkt der August im Jahr 2019 eher wie ein kleines Woodstock-Festival. Fast 1.000 Leute sind gekommen, das Dorf ist ein ostdeutsches Mekka der Klimabewegung geworden. Auf einem Gelände der Kirche entsteht ein Baumhaus, Schilder an Zelten kündigen Workshops und Diskussionsrunden an. Um Gerechtigkeit soll es gehen, Umwelt, Zukunft. „Würden jetzt die Bagger anrollen, hätten wir hier 50.000 Leute wie im Hambacher Forst“, prophezeit Hausner mit wütender Überlegenheit. Er trifft sich mit Presse und Politik, nachts liegt er wach und grübelt über Strategien.

Zurück in seiner Küche sagt Hausner, dass der Protest seine Politisierung „extrem“ beeinflusst habe. Es ist jene Tagesspanne im Dezember, zu der das fahle Licht gerade stark genug durch die Scheiben dringt, um die Konturen von Gesichtern nachzuzeichnen. Hausner sieht wie jemand aus, der viel Zeit im Freien verbracht hat. Wenn er über Politik spricht, laufen seine ohnehin leicht rötlichen Wangen an, die kantigen Hände gestikulieren. „Deutschland hat die wirtschaftlichen Möglichkeiten, beim Klimaschutz eine Vorbildfunktion zu übernehmen und andere zu motivieren. Wenn wir nichts machen, gehen uns die Argumente aus“, sagt er.

Elf einhalb Millionen Tonnen Kohlendioxid spuckt das Kraftwerk südlich von Leipzig jährlich aus. Fast genauso viel Kohle schluckt es im Jahr. Die jährlich 27 Milliarden Liter Wasser, die für das Kraftwerk abgepumpt werden, haben den Grundwasserspiegel weit genug sinken lassen, um die Pödelwitzer Brunnen trockenzulegen. Hausner sagt, die Mibrag müsse die Region schnellstmöglich renaturieren. 

Hat der Konzern überhaupt vor, auf Pödelwitz zu verzichten? Auf eine Anfrage der SZ heißt es, abschließende Bewertungen seien derzeit nicht möglich. Nur so viel: „Ein Verzicht auf die Inanspruchnahme von Pödelwitz würde einen Einschnitt in unsere Unternehmensplanung bedeuten und stellt die langfristige Belieferung des Kraftwerkes Lippendorf in Frage.“ Den Ankauf der Grundstücke habe man vorerst gestoppt.

„Es gab noch nicht einmal einen Antrag auf Abbaggerung, trotzdem hat die Mibrag schon angefangen, die Sozialstruktur des Dorfes zu zerstören“, kritisiert Grünen-Politiker Lippold. „Sie sind davon ausgegangen, dass es schon wird. Weil sie es in Sachsen so gewohnt waren.“ Eine von mehreren möglichen Lösungen könnte darin liegen, dass der Freistaat die Grundstücke zurück- und selbst weiter verkauft. Anfang 2020 will die neue Staatsregierung das Gespräch mit der Mibrag suchen, um das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel der Erhaltung von Pödelwitz auch rechtssicher festzumachen.

Nia und Micha kennen sich aus dem Hambacher Forst, vom Protest für Klima, Umwelt und Gerechtigkeit. Sie verbringen viel Zeit in Pödelwitz.
Nia und Micha kennen sich aus dem Hambacher Forst, vom Protest für Klima, Umwelt und Gerechtigkeit. Sie verbringen viel Zeit in Pödelwitz. © kairospress

Die einstigen Bewohner werden kaum zurückkehren. Viele sind in die Kleinstadt Groitzsch gezogen, der Pödelwitz angehört. Eine eigene Straße hat die Mibrag für sie gebaut: den Pödelwitzer Bogen. Über glatte Pflastersteine führt der Weg an makellosen Neubauten vorbei. Manche erinnern an die bauhausinspirierten Würfelpaläste der Dresdner Elbhanggegend, andere könnten auch ein Edelrestaurant in Norditalien beherbergen.

Eine zweistellige Millionensumme hat die Mibrag in die Umsiedlung investiert. Melanie Hildebrandt ist mit ihren Eltern hergezogen. Goldener Lack ziert ihre Nägel, pflaumenfarbene Plüschpantoffeln ihre Füße. „Wir sind sehr zufrieden hier, wir haben eine Zuganbindung und Läden“, sagt die 23-Jährige. „Es ist wie früher, nur besser.“ Hausner und die anderen sollten ihrer Meinung nach „froh sein, wenn sie ihre alten Bruchbuden loswerden. Die Mibrag bezahlt einen sehr gut, sieht man ja an den Häusern hier.“

Weihnachtsschmuck glitzert in den Vorgärten, als die Dämmerung den Pödelwitzer Bogen ins Dunkel taucht. Hypnose-Therapeutin Ulrike Riedzek hat in Pödelwitz zusammen mit ihren Eltern in einem, wie sie sagt, zu großen Haus gelebt. „Hier konnten wir uns zwei neue Häuser bauen, schuldenfrei.“ Zu den Leuten von früher pflegt die 51-Jährige keinen Kontakt. „Ich finde die bisschen fanatisch.“

Den Preis der Mibrag hätte der freie Markt nie geboten, sagt sie, ohne eine Summe zu verraten. „Wir haben jetzt eine Fußbodenheizung und einen Garten.“ Ein Gutachter hat die alten Grundstücke und Häuser vorher geschätzt, hinzu kamen Zuschläge, Umzugs- und Nebenkosten.“ Auf die Frage nach dem Riss durch das Dorf zuckt die grauhaarige Brillenträgerin mit den Schultern, ihre bunter Wollpulli rutscht ein Stück nach oben. „Selbst meinen Eltern, für die es schwer war, mit 78 noch mal umzuziehen, konnte nichts Besseres passieren.“

Die meisten Häuser in Pödelwitz südlich von Leipzig stehen leer. Einstige und verbliebene Bewohner haben nichts mehr miteinander zu tun.
Die meisten Häuser in Pödelwitz südlich von Leipzig stehen leer. Einstige und verbliebene Bewohner haben nichts mehr miteinander zu tun. © Thomas Kretschel

Jens Hausner spaziert durch das verlassene Dorf. „Privatgelände“, warnen Schilder der Mibrag vor den meisten Häusern. „Es ist viel schöner hier geworden“, sagt Hausner. „Seit die anderen weg sind, sind wir zusammen gerückt.“ Ein paar Neue sind schon da. Nia und Micha wohnen seit Januar immer wieder auf dem Gelände, das die Kirche verpachtet. Die beiden Mitte-20-Jährigen kennen sich vom Klimaprotest im Hambacher Forst, sind regelmäßige Küchentisch-Besucher im Hause Hausner. In wechselnden Besetzungen leben etwa zehn Leute auf dem verpachteten Gelände der Klimakämpfer. Sie schlafen in Bauwagen, kochen im Freien, musizieren in einer Jurte, einem selbstgebauten Haus in Zirkusform mit Loch im Dach.

„Pödelwitz fungiert als Vernetzungspunkt und als Raum zum Probieren“, sagt Nia. „Was passiert, wenn Menschen selbstbestimmt leben, mit möglichst wenig Hierarchien?“ Ein halbes Jahr hat sie im Hambacher Forst gewohnt, vorher soziale Arbeit studiert. „Hier lerne ich viel wichtigere Dinge. Konfliktbearbeitung, praktisch Handwerkliches, Soziales.“ Kartons bedecken den Boden auf dem Gelände, gefüllt mit geschenkten Jacken, Hosen, Pullovern.

Mehr Menschen wie sie erhofft Hausner sich als zukünftige Mitbewohner. Und Familien, denen das städtische Leben in Leipzig zu voll geworden ist. Dass die Kohle unter Pödelwitz je als Press-Wolke aus einem Kraftwerk dampfen wird, ist unwahrscheinlich. Öffentlich traut Hausner sich noch nicht, die Zuversicht über die Skepsis siegen zu lassen. Nur auf seinem Dach. Da hat er gerade eine swimmingpoolgroße Fläche mit Solarzellen bedecken lassen. Wer baut, hofft. „Mein Leben hat sich grundlegend geändert“, sagt Hausner nach Jahren des Ausnahmezustandes. „Aber es war auch eine riesige Bereicherung. Ohne den Kampf hätte ich nie so viele neue, tolle Leute kennengelernt, die meinen Blick erweitern.“

Im Groitzscher Stadtrat will Hausner weiterhin mitreden, und mit der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ kämpft er jetzt auch für die anderen zwölf deutschen Dörfer, die von der Braunkohle bedroht sind. Der Ausnahmezustand, sagt Hausner, sei wohl einfach sein neuer Alltag.