SZ + Sachsen
Merken

Macht das Gefängnis erst recht kriminell?

Ist die Mauer mit Stacheldraht die einzige Lösung für Gefangene? Ulfrid Kleinert, Vereinschef in der JVA Dresden, erklärt im Interview, wie es auch anders geht.

Von Karin Großmann
 9 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Hinter Schloss und Riegel wird der Alltag streng strukturiert.
Hinter Schloss und Riegel wird der Alltag streng strukturiert. © Thomas Kretschel

An diesem Wochenende treffen sich rund 90 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter des sächsischen Strafvollzugs und Experten aus ganz Deutschland in Meißen, um über Alternativen zum Gefängnis zu diskutieren. „Justizvollzug unter Haftvermeidung“ ist das Thema der Tagung. Eingeladen haben die Bundeszentrale für politische Bildung und der Verein Hammerweg der JVA Dresden. Vereinschef Ulfrid Kleinert leitet auch den Beirat der Anstalt. Der 77-Jährige stammt aus Dresden. Er studierte Theologie und Sozialpädagogik, arbeitete viele Jahrzehnte im Westen des Landes und kehrte 1991 zurück. Er war Gründungsrektor und erster Rektor der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden und lebt in Radebeul.

Sie plädieren für einen Justizvollzug ohne Gefängnis – wie soll das funktionieren, Herr Professor Kleinert?

Dahinter steht die Frage, wie man mit Menschen umgeht, die das geltende Recht verletzt haben. Für manche wird es weiter Gefängnisse geben müssen, weil sie die Öffentlichkeit gefährden durch Verbrechen, Raub und Gewalt. Aber wie viele Täter aus Sicherheitsgründen wirklich in eine geschlossene Haftanstalt gehören, darüber streiten die Experten. Ich denke, es sind etwa 20 bis 30 Prozent der Gefangenen. Für andere ist diese Form nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar schädlich.

Warum?

Weil mancher in der Haft mehr kriminelle Erfahrung erwirbt, als er vorher hatte. Es gibt eine Subkultur mit Gewalt und Drogen, die schwer zu verhindern ist. Überhaupt wirkt das Gefängnissystem nicht so, dass es die Resozialisierung befördert. Es gibt ein Übermaß an vorstrukturierter Zeit. Die Gefangenen werden geweckt, versorgt, von einem Ort zum anderen gebracht. Dabei verlernen sie es, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, wie sie in der Freiheit gefordert ist.

Ist mancher nicht ganz froh, diese Verantwortung abgeben zu können?

Sicher gibt es Einzelfälle, für die eine rigide Regelung des Alltags vorübergehend hilfreich ist. Manche finden die Rundumversorgung bequem und überwintern im Gefängnis. Das sind Ausnahmen. Ich würde gern jenen eine Chance geben, die eine Alternative zur Haft wollen.

An welche Gefangenen denken Sie?

Zehn Prozent der Inhaftierten in unseren Gefängnissen sitzen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Sie wurden nicht zur Haft verurteilt. Sie sollten eine Geldstrafe zahlen, etwa für wiederholtes Schwarzfahren oder für kleinere Diebstähle. Aus unterschiedlichen Gründen haben sie das Geld nicht bezahlt. Viele haben es nicht bezahlen können. Sie haben gar keine Möglichkeit, Geld zu sparen. Auch für jene, die höchstens ein Jahr im Gefängnis sitzen, sollte es eine Alternative geben. In Sachsen sind das über 40 Prozent der Inhaftierten.

Wie könnte die Alternative aussehen?

Wir sollten mehr gemeinnützige Arbeit anbieten. Aber da hilft es nicht, einen Verurteilten an die Elbwiesen zum Müllsammeln zu bestellen. Da muss eine Beziehung aufgebaut werden, da muss eine Begleitung sein und Kooperation mit anderen ermöglicht werden.

Ulfried Kleinert
Ulfried Kleinert © Robert Michael

Staatlich verordnete Arbeit als Strafe ist in Deutschland etwas Heikles seit den Arbeitslagern der NS-Zeit.

Ich würde auch nicht von Strafe sprechen, sondern von Maßnahmen, von gemeinnützigen Projekten. Das muss allerdings verbindlich geregelt sein.

Aber Strafe muss sein, sagt der Volksmund.

Leider sagt er das. Oft ist Rache der erste Gedanke nach einer Tat. Dann heißt es: Der hat was ausgefressen, der soll dafür büßen. Den soll die harte Hand des Gesetzes treffen. Der soll weggesperrt werden, das soll ihm wehtun. Dabei wird ein Bild vom Gefängnis gezeichnet, das es so nicht mehr gibt. Vor allem aber geht eine solche Vorstellung längst nicht mehr mit Gesetzgebung und Rechtsprechung überein. Dort wird als Hauptziel des Strafvollzugs die Resozialisierung genannt. Das heißt, der Täter soll eingegliedert werden in die Gesellschaft. Aber das ist im geschlossenen Vollzug schwer zu leisten.

Die Praxis des offenen Vollzugs setzt sich offenbar nicht durch?

Das wird in Europa von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt, in den skandinavischen Ländern vorbildlich. Auch von Bundesland zu Bundesland gibt es große Unterschiede. In Berlin zum Beispiel gehen 30 Prozent der Gefangenen vom ersten Tag an in den offenen Vollzug. Das heißt, sie arbeiten tagsüber und kehren abends in ihre Zelle zurück. In Sachsen haben lediglich drei Prozent der Gefangenen diese Chance, und das auch nur in den letzten Haftmonaten. Die JVA Dresden hat 800 Gefängnisplätze und zwölf für den offenen Vollzug.

Weil das Risiko zu groß ist, dass etwas passiert?

Nach 20 Jahren zeigt die Berliner Erfahrung: Das Risiko, durch die Gefängnishaft einen Schaden anzurichten, ist viel größer, als dass einer der kurzzeitig Inhaftierten außerhalb des Gefängnisses wieder straffällig wird. Aber natürlich wird immer ein Restrisiko bleiben. Denn eine hundertprozentige Garantie gibt es nie, auch nicht für unser eigenes Verhalten.