Ist die Mauer mit Stacheldraht die einzige Lösung für Gefangene? Ulfrid Kleinert, Vereinschef in der JVA Dresden, erklärt im Interview, wie es auch anders geht.
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Karin Großmann
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An diesem Wochenende treffen sich rund 90 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter des sächsischen Strafvollzugs und Experten aus ganz Deutschland in Meißen, um über Alternativen zum Gefängnis zu diskutieren. „Justizvollzug unter Haftvermeidung“ ist das Thema der Tagung. Eingeladen haben die Bundeszentrale für politische Bildung und der Verein Hammerweg der JVA Dresden. Vereinschef Ulfrid Kleinert leitet auch den Beirat der Anstalt. Der 77-Jährige stammt aus Dresden. Er studierte Theologie und Sozialpädagogik, arbeitete viele Jahrzehnte im Westen des Landes und kehrte 1991 zurück. Er war Gründungsrektor und erster Rektor der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden und lebt in Radebeul.
Sie plädieren für einen Justizvollzug ohne Gefängnis – wie soll das funktionieren, Herr Professor Kleinert?
Dahinter steht die Frage, wie man mit Menschen umgeht, die das geltende Recht verletzt haben. Für manche wird es weiter Gefängnisse geben müssen, weil sie die Öffentlichkeit gefährden durch Verbrechen, Raub und Gewalt. Aber wie viele Täter aus Sicherheitsgründen wirklich in eine geschlossene Haftanstalt gehören, darüber streiten die Experten. Ich denke, es sind etwa 20 bis 30 Prozent der Gefangenen. Für andere ist diese Form nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar schädlich.
Warum?
Weil mancher in der Haft mehr kriminelle Erfahrung erwirbt, als er vorher hatte. Es gibt eine Subkultur mit Gewalt und Drogen, die schwer zu verhindern ist. Überhaupt wirkt das Gefängnissystem nicht so, dass es die Resozialisierung befördert. Es gibt ein Übermaß an vorstrukturierter Zeit. Die Gefangenen werden geweckt, versorgt, von einem Ort zum anderen gebracht. Dabei verlernen sie es, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, wie sie in der Freiheit gefordert ist.
Ist mancher nicht ganz froh, diese Verantwortung abgeben zu können?
Sicher gibt es Einzelfälle, für die eine rigide Regelung des Alltags vorübergehend hilfreich ist. Manche finden die Rundumversorgung bequem und überwintern im Gefängnis. Das sind Ausnahmen. Ich würde gern jenen eine Chance geben, die eine Alternative zur Haft wollen.
An welche Gefangenen denken Sie?
Zehn Prozent der Inhaftierten in unseren Gefängnissen sitzen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Sie wurden nicht zur Haft verurteilt. Sie sollten eine Geldstrafe zahlen, etwa für wiederholtes Schwarzfahren oder für kleinere Diebstähle. Aus unterschiedlichen Gründen haben sie das Geld nicht bezahlt. Viele haben es nicht bezahlen können. Sie haben gar keine Möglichkeit, Geld zu sparen. Auch für jene, die höchstens ein Jahr im Gefängnis sitzen, sollte es eine Alternative geben. In Sachsen sind das über 40 Prozent der Inhaftierten.
Wie könnte die Alternative aussehen?
Wir sollten mehr gemeinnützige Arbeit anbieten. Aber da hilft es nicht, einen Verurteilten an die Elbwiesen zum Müllsammeln zu bestellen. Da muss eine Beziehung aufgebaut werden, da muss eine Begleitung sein und Kooperation mit anderen ermöglicht werden.
Staatlich verordnete Arbeit als Strafe ist in Deutschland etwas Heikles seit den Arbeitslagern der NS-Zeit.
Ich würde auch nicht von Strafe sprechen, sondern von Maßnahmen, von gemeinnützigen Projekten. Das muss allerdings verbindlich geregelt sein.
Aber Strafe muss sein, sagt der Volksmund.
Leider sagt er das. Oft ist Rache der erste Gedanke nach einer Tat. Dann heißt es: Der hat was ausgefressen, der soll dafür büßen. Den soll die harte Hand des Gesetzes treffen. Der soll weggesperrt werden, das soll ihm wehtun. Dabei wird ein Bild vom Gefängnis gezeichnet, das es so nicht mehr gibt. Vor allem aber geht eine solche Vorstellung längst nicht mehr mit Gesetzgebung und Rechtsprechung überein. Dort wird als Hauptziel des Strafvollzugs die Resozialisierung genannt. Das heißt, der Täter soll eingegliedert werden in die Gesellschaft. Aber das ist im geschlossenen Vollzug schwer zu leisten.
Die Praxis des offenen Vollzugs setzt sich offenbar nicht durch?
Das wird in Europa von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt, in den skandinavischen Ländern vorbildlich. Auch von Bundesland zu Bundesland gibt es große Unterschiede. In Berlin zum Beispiel gehen 30 Prozent der Gefangenen vom ersten Tag an in den offenen Vollzug. Das heißt, sie arbeiten tagsüber und kehren abends in ihre Zelle zurück. In Sachsen haben lediglich drei Prozent der Gefangenen diese Chance, und das auch nur in den letzten Haftmonaten. Die JVA Dresden hat 800 Gefängnisplätze und zwölf für den offenen Vollzug.
Weil das Risiko zu groß ist, dass etwas passiert?
Nach 20 Jahren zeigt die Berliner Erfahrung: Das Risiko, durch die Gefängnishaft einen Schaden anzurichten, ist viel größer, als dass einer der kurzzeitig Inhaftierten außerhalb des Gefängnisses wieder straffällig wird. Aber natürlich wird immer ein Restrisiko bleiben. Denn eine hundertprozentige Garantie gibt es nie, auch nicht für unser eigenes Verhalten.
Warum sträubt sich Sachsen gegen eine Ausweitung des offenen Vollzugs?
Im neuen Strafvollzugsgesetz sind sogenannte „freie Formen“ vorgesehen. Daran würde ich gern anknüpfen.
Auf welche Weise?
Ich habe eine sehr gute Erfahrung in der Nachwendezeit gemacht, als es plötzlich Wohnungslose im Osten gab. Damals hat einer meiner ersten Studenten der Evangelischen Fachhochschule mit Wohnungslosen ein ruinöses Fachwerkhaus in Altkötzschenbroda wieder aufgebaut. Als Zimmermann brachte er das Wissen dazu mit. Er brachte aber auch ein Herz für seine Schützlinge mit. Sie fühlten sich ernst genommen. Das hat ihr Selbstbewusstsein gefördert und ihnen Mut für eine neue Lebensperspektive gegeben. Stolz zeigen sie anderen das von ihnen mitgebaute Haus. Das war eine Resozialisierungsmaßnahme bester Qualität.
Wie wollen Sie denn diese Erfahrung auf Gefangene übertragen?
Es ist möglich, dass zehn, zwölf Gefangene in einem Ort in der Region an einem gemeinnützigen Projekt arbeiten. Dafür müsste man die Bürgermeister, die Sportvereine, die sozialen Dienste der Justiz, die Wohlfahrtsverbände und Kirchenvereine mit ins Boot holen. Das geht natürlich nur Schritt für Schritt. Zuerst muss ein Klima der Aufgeschlossenheit für ein solches Projekt geschaffen werden. Es funktioniert nur, wenn die Bevölkerung das mitträgt.
Warum sollte sie das tun?
Weil sie vielleicht den jungen Mann kennt und geschätzt hat, der straffällig wurde? Weil sie helfen will, dass er in die Gemeinschaft zurückfindet?
Können Sie sich einen einzigen Bürgermeister vorstellen, der sich Gefangene ins Dorf holt?
Seit 2018 treffen sich regelmäßig die Beiratsvorsitzenden aller sächsischen Justizvollzugsanstalten. Da sind auch die Bürgermeister oder ihre Stellvertreter aus Waldheim und Zeithain dabei. Sie zeigen sich aufgeschlossen für eine solche Idee und interessiert an ihrer Verwirklichung. Natürlich ist sie nicht umsonst zu haben.
Woher soll denn das Geld kommen?
Es müsste umverteilt werden. Es sollte nicht in neue, zentrale, große Gefängnisse gehen, sondern in kleinere Einheiten in der Region. Für den Neubau des Gefängnisses in Zwickau rechnet man jetzt mit 174 Millionen Euro Gesamtbaukosten – dafür ließen sich Hunderte regionale Projekte installieren. Die CDU hat die Stärkung der Regionen in ihrem Wahlprogramm, und das sehr zu Recht.
Damit sind sicher nicht Gefangene im Dorf gemeint.
Warum eigentlich nicht? Die Konflikte müssen in der Gesellschaft ausgetragen werden, denn die Straftäter kommen aus der Gesellschaft. Sie sollte ihre Pflichten nicht wegdelegieren und auch nicht die damit verbundenen Chancen. Seit ich mich mit diesem Problem beschäftige, bekomme ich Anrufe von Bürgern, die besorgt sind, die einen Rat wollen, die von ihren Erfahrungen mit Rechtsverletzern im Verwandten- oder Nachbarschaftskreis erzählen. Das Thema berührt viele unmittelbarer, als mancher glaubt.
Bleibt immer noch das Argument, dass die Arbeit vor Ort schon jetzt nicht für alle reicht.
Aber in den Dörfern stehen zahllose Häuser leer und verfallen. Warum sollten sie nicht wieder bewohnbar gemacht werden? Dann hätte auch das Dorf etwas davon.
Meinen Sie, dass Gefangene überhaupt bereit sind zu solchen anstrengenden Arbeiten?
Wenn sie so direkt gefragt würden, erwarte ich eher eine abweisende Antwort. Aber wenn sie merken: Da redet einer nicht nur, sondern fordert uns heraus und vertraut uns, würde sich das ändern. Es funktioniert ohnehin nur, wenn der Einzelne dazu bereit ist. Er muss mitwirken. Resozialisierung geht immer nur mit den Betroffenen gemeinsam, nicht über ihre Köpfe hinweg.
Müsste trotzdem eine Mauer um das Projekt gezogen werden?
Die Beziehung zueinander würde eine solche Mauer bilden.
Was macht Sie so hoffnungsvoll?
Meine Lebenserfahrung. Und die Erfahrung mit ähnlichen Projekten. In Köln gibt es zum Beispiel eine Einrichtung, in der sich katholische Frauen für Jugendliche engagieren, die in Jugendstrafanstalten als hoffnungslose Fälle galten, als rebellisch und nicht integrierbar; keiner wollte mit ihnen zu tun haben. Die Frauen haben sich so intensiv um 38 Jugendliche gekümmert, dass nur drei von ihnen rückfällig wurden. Das ist eine ganz erstaunliche Quote. Sonst sind es im Jugendstrafvollzug mindestens 40 bis 50 Prozent, die erneut Straftaten begehen.
Braucht die Idee, dezentral Gruppen von Gefangenen zu begleiten, nicht sehr viel mehr Helfer als jetzt?
Die brauchen wir sowieso. In der JVA Dresden kümmern sich acht Sozialarbeiter um 800 Gefangene. Die Vollzugsbeamten haben viel zu wenig Zeit für den Einzelnen. Personal wird dringend gesucht. Es lässt sich viel leichter finden, wenn klar ist, dass der Vollzugsdienst nicht nur Schließer- und Kontrollfunktion hat, sondern das wichtigste Resozialisierungspersonal ist, weil es den Alltag der Verurteilten teilt. Wenn dazu nicht nur der Dienst auf den Abteilungen eines geschlossenen Gefängnisses gehört, sondern auch die Arbeit im offenen Vollzug und in freien Formen in der Region, gewinnen die Stellen an Attraktivität.
In der DDR waren Betriebe verpflichtet zur Wiedereingliederung von Häftlingen. Halten Sie das für einen gangbaren Weg?
Ich fand die Idee schon immer gut. Das hätte man von der DDR übernehmen können, freilich ohne die ideologische Ausrichtung, die oft damit verbunden war.