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Die Welt von Dresdens fabelhafter Amelie

Eine junge Dresdnerin orientiert sich an den Großen in der Rhythmischen Sportgymnastik. Dafür hat sie einen anderen Traum aufgegeben.

Von Alexander Hiller
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Fürs Fotoshooting ist Amelie Stehli in eine ungewohnte Umgebung unter freiem Himmel eingetaucht. Schuhe trägt sie bei der Hallensportart sonst nicht.
Fürs Fotoshooting ist Amelie Stehli in eine ungewohnte Umgebung unter freiem Himmel eingetaucht. Schuhe trägt sie bei der Hallensportart sonst nicht. ©  dpa/Robert Michael

Kinoerlebnisse können einschneidende Folgen haben. Manche davon prägen ein Leben lang. Die Eltern einer heute 16-jährigen Sportgymnastin aus Dresden fühlten sich von der französischen Liebeskomödie „Die fabelhafte Welt der Amelie“ so inspiriert, dass sie ihre Tochter nach der von der französischen Schauspielerin Audrey Tautou so zauberhaft verkörperten Titelfigur benannten.

Aus Amelie Stehli ist eine durchaus grundsympathische Teenagerin geworden, die ebenfalls eine Art Außenseiterleben führt, allerdings zutiefst freiwillig. Rhythmische Sportgymnastik steht bei der Abiturientin ganz oben auf der Prioritätenliste. Kleiner könnte die Nische kaum gewählt sein, obgleich die Sportart seit Jahren zum olympischen Programm gehört. 

In lediglich vier Dresdner Vereinen wird der akrobatische Sport mit den fünf Geräten Keule, Band, Seil, Ball und Reifen gelehrt. Das allerdings mit vergleichsweise großem Erfolg – etwa 200 Kinder, Jugendliche und Erwachsene starten für das Klubquartett, Tendenz steigend. „Wir können uns vor Interessentinnen kaum retten“, sagt Stephanie Lelanz, Trainerin und Abteilungsleiterin bei der SG Klotzsche. „Wir haben eher ein Trainerproblem.“

„Ich bin Trainings-Weltmeisterin“

Dass der Verein den Regio-Cup der besten Sportgymnastinnen Mitteldeutschlands am Wochenende erstmals nach Dresden holte, darf durchaus als Signal verstanden werden. „Klar sind Erfolge beim Wettkampf etwas, was wir uns erträumen“, sagt Stehli. Die 16-Jährige landet in der Erwachsenenklasse auf Platz 30. Das ist okay für die Dresdnerin, die trotz Erkältung an den Start ging. Deutet aber zugleich an: In der Landeshauptstadt wird die Rhythmische Sportgymnastik auf recht bescheidenem Niveau betrieben. Wer die Trainingshalle der SG Klotzsche an der 85. Grundschule kennt, kann erahnen, weshalb das so ist. Die Schulturnhalle ist alt, klein und schlecht beleuchtet. Der Landesstützpunkt ist in Leipzig.

An der Leidenschaft und am Leistungswillen der Dresdner Athletinnen um Stehli ändert das nichts. „Ich bin so ein bisschen Trainings-Weltmeisterin, sagt meine Trainerin“, erzählt sie. „Ich probiere im Training die kuriosesten Sachen. Das klappt dann da auch meistens.“ Im Wettkampf fällt es ihr noch schwer, das Erlernte zu 100 Prozent umzusetzen. Maximal neun Elemente, eine Tanzsequenz und ein Risiko-Element darf Stehli in ihrer Übung zeigen. Risiko bedeutet: Sie wirft das Gerät in die Luft, absolviert darunter zwei Rotationen mit ihrem zartgliedrigen Körper und fängt das Gerät im Optimalfall mit traumwandlerischer Sicherheit auf. Wer mal bei einem Purzelbaum versucht, einen Gegenstand auch nur im Auge zu behalten, kann ansatzweise erahnen, wie viel Arbeit darin steckt, derartige Bewegungen in Perfektion zu vollführen.

Perfekt wird Stehli wohl nie werden. Dafür ist sie von der deutschen Elite so weit entfernt wie Dynamo Dresden von der Champions League. Dafür trainiert die gebürtige Gothaerin auch zu wenig. Vier Einheiten inklusive Balletttraining pro Woche schafft sie. Die Besten Deutschlands üben zweimal täglich. Aber die 1,65 Meter große junge Frau ist ehrgeizig, willig und leidenschaftlich. Sie hat sich für die Rhythmische Sportgymnastik und gegen eine Zukunft als klassische Balletttänzerin entschieden. 

Nach sechs Jahren an der Paluccaschule hatte Stehli die Chance, den Bachelor of Arts an der Spezialschule zu meistern. „Ich habe mich gegen eine Profikarriere als Tänzerin entschieden, weil das ein sehr hartes Business ist. Ich mache mein Abitur und will danach studieren“, stellt sie klar. Das schließt freilich nicht aus, dass Stehli bis dahin in ihrer Sportart besser und besser wird. Mit ihrer Gruppe, der SG Klotzsche, ist sie kürzlich Sachsenmeisterin geworden – und dazu Vierte im Einzel.

Und Stehli orientiert sich an den ganz Großen ihrer Zunft. An der vierfachen Weltmeisterin Alexandra Soldatowa etwa oder an Olympiasiegerin Margarita Mamun – beide kommen aus Russland. Dort gilt die graziöse Darbietung mit den fünf Geräten als Nationalsport – zumindest bei den Frauen. „Ich schaue mir viel von Videos ab. Die Russinnen sind Weltspitze. Da gucke ich mir schon einige Sachen ab“, sagt Stehli.

Den Vergleich zu den Weltstars empfindet sie nicht als quälend, eher als fordernd, fördernd, als Ansporn, als Beweis dafür, was so alles möglich ist beim Zusammenspiel zwischen dem eigenen Körper und den leichten Sportgeräten. „Das macht auch für mich den Reiz dieser Sportart aus, da die Grenzen auszuloten und zu verschieben“, sagt Stehli. „Man muss auch mal über die Schmerzgrenze gehen, um so beweglich zu sein“, stellt sie fest. Geweint hat Stehli aber im Training noch nicht – das wird sie von ihren russischen Vorbildern unterscheiden. Vielleicht ist das nicht ganz so zauberhaft wie im Kinomärchen – aber doch auch ein bisschen fabelhaft.