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Wie aus einer Familie ein ganzes Dorf wird

Claudia Töppner ist Mutter dreier Töchter und gibt fünf weiteren Kindern ein Zuhause in Dresden - so normal wie nur irgendwie möglich.

Von Nadja Laske
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Balanceakt: Claudia Töppner behält die Bedürfnisse einer ungewöhnlichen Großfamilie im Blick. Ihre Tochter Elsa hilft ihr auf dem Spielplatz dabei.
Balanceakt: Claudia Töppner behält die Bedürfnisse einer ungewöhnlichen Großfamilie im Blick. Ihre Tochter Elsa hilft ihr auf dem Spielplatz dabei. © kairospress

Wo bleibt die Spannung, könnten sich die Sprungfedern des Trampolins im Garten fragen. Außer Wind fegt dort niemand über die Wiese. Es ist früher Nachmittag. Nur Beagle Strolch und Husky Sputnik streunen am Zaun entlang. Sie scheinen zu spüren, was Claudia Töppner auf ihrer Uhr sieht: Gleich kommen die ersten Kinder nach Hause ins Albert-Schweizer-Kinderdorf. 

Schon aus der Ferne sieht sie die Fleppe. Janine* zieht sie aus gutem Grund. Die Fünfjährige ist auf dem Weg vom Kindergarten hingefallen und hat die Pfütze erwischt. Am Tor angekommen will sie das Drama vertiefen. Doch Claudia tröstet entschieden: "Zieh dir drinnen die Matschehose an, dann kannst du draußen mit uns spielen." 

Jan* steckt beide Hände tief in Sputniks Fell. Der schaut den Knirps aus wasserblauen Augen an. "Ist Rico* bei seiner Mama?", fragt der Dreijährige vernuschelt. "Nein", antwortet Claudia Töppner, "Er kommt gleich aus der Schule." Zusammen gehen sie in den Garten mit Wippe, Klettergerüst, Sandkasten und Trampolin. Letzteres bekommt endlich Arbeit: Janine stapft in dicker Montur aus der Haustür, geradewegs darauf zu. Die roten Erdbeeren auf ihrer Spielhose passen nicht zum nasskalten Wetter. Aber sie ist stolz drauf.

Seit November letzten Jahres wohnen sie und ihr kleiner Bruder Jan im Kinderdorf. Das besteht aus einem neu gebauten Haus in einer Klotzscher Wohnsiedlung, mit Zimmern und Bädern für Claudia Töppner, ihre Töchter, ihren Partner und bis zu fünf Kinderdorfkinder. Quadratisch, praktisch, gut, ein stabiles Zuhause, so hat der Trägerverein es geplant. Mit Leben und Liebe müssen es die 40-Jährige als hauptberufliche Hausmutter und ihre Familie füllen. Zwei ihrer Mädchen wohnen noch bei ihr. Für die Jüngere hat die gelernte Erzieherin vor rund zwei Jahren begonnen, an ihrem Job zu zweifeln.

"Ich habe in einem Kinderheim gearbeitet und fand es immer schwieriger, die Dienste dort und unser Familienleben unter einen Hut zu bekommen", erzählt sie. Elsa ist heute neun Jahre alt. Oft nahm ihre Mutter sie mit ins Heim. Dann hatte die Kleine nicht das Gefühl: Mama ist für andere Kinder da, und ich muss sie vermissen. Auch das Zusammensein mit Mädchen und Jungen, die gänzlich ohne ihre Eltern leben, lernte sie so kennen - eine wichtige Voraussetzung für Claudia Töppners spätere Entscheidung.

Hier sieht es ja aus, wie in einer Kita! Diesen Satz hört Claudia Töppner immer wieder. "Tja, hier wohnen ja auch viele Kinder", sagt sie dann.
Hier sieht es ja aus, wie in einer Kita! Diesen Satz hört Claudia Töppner immer wieder. "Tja, hier wohnen ja auch viele Kinder", sagt sie dann. © Thomas Kretschel

Mit einer Anzeige suchte der Albert-Schweizer-Kinderdorf in Sachsen e.V. nach neuen Kinderdorfeltern. Die Idee zündete bei Claudia sofort, auch ihr Freund und ihre Töchter konnten sich gut vorstellen, ihr Leben mit Kindern zu teilen, die kein Zuhause haben, wie sie selbst es kennen. Fünf Wochen, nachdem sie das Gesuch gelesen hatte, sagte Claudia zu. "Im Juli 2018 sind wir eingezogen, da war das Haus noch ganz leer", erzählt sie. Einen Monat später zog ein Geschwisterpaar ein. Das ist - selten kommt so etwas vor - inzwischen zu seiner Ursprungsfamilie zurückgekehrt. Stattdessen leben nun Jan und Janine und Rico da. Schon bald werden zwei weitere Geschwister dazukommen. "Dann sind wir komplett", sagt Claudia.

Zwei Erzieherinnen und eine Haushaltshilfe unterstützen die besondere Familie im Alltag. Trotzdem ist Claudia das, was Mütter eben sind: rund um die Uhr in Alarmbereitschaft, ganz besonders an den Wochenenden, dann bleibt die Kinderdorffamilie ohne zusätzliche Anpacker unter sich. "Da sitzen wir endlich mal alle zusammen am großen Tisch", sagt Claudia. Diese Momente liebt sie. Sie geben ihr Kraft für das Tohuwabohu, das sich auch bei bester Organisation im Alltag nicht ganz vermeiden lässt. 

Kurz vor 5.30 Uhr klingelt Claudias Wecker, das erste Kind holt sie halb sechs aus dem Schlaf. Waschen, anziehen, Frühstück, dann steigt Rico ins Auto. Der Fahrdienst bringt den Achtjährigen zur Förderschule. Zwischen halb und um neun gibt sie die Geschwister in der Kita ab. "Wenn ich danach keinen Termin habe, gehe ich gern eine große Runde mit den Hunden." Doch dazu kommt es eher selten. Claudia Töppner kümmert sich ums Einkaufen und Kochen, um die Kleidung der Kids, um ihre Schulsachen und Hausaufgaben, um Elternabende, Therapiebesuche, Geschenke. Dazu kommen Gespräche mit den Verantwortlichen vom Jugendamt, Schulungen und Dokumentationen. Manche Kinder dürfen gelegentlich Zeit mit ihren leiblichen Eltern oder auch Großeltern verbringen. Diese Dinge müssen geregelt und organisiert sein. 

Viel Rechnerei gehört auch dazu. Flapsig aber wahr gesprochen, kümmert sich der Staat um das Nötigste: Warm, trocken, sauber und satt sollen Kinder in Obhut sein. Für jedes Extra ist das Geld knapp. Für ein Geschenk zum Geburtstag hat Claudia 15 Euro zur Verfügung, zu Weihnachten gibt es 30 Euro vom Amt. Ein Hobby darf 90 Euro und Urlaub 180 Euro pro Kind im ganzen Jahr kosten. Zum Vergleich: Rund 150 Euro geben Eltern in Deutschland durchschnittlich für ihre Kinder zu Weihnachten aus. "Wir machen in diesem Jahr mit allen Kindern eine Woche Ferien an der Ostsee", erzählt Claudia. Wenn Ferienhaus und Verpflegung beglichen sind, bleibt kaum noch etwas für Erlebnisse. "Aber wir haben gute Freunde, die uns hin und wieder unterstützen." Spenden sind stets willkommen.

Das Pensum als Hausmutter war Claudia Töppner von Anfang an klar. Wenn sie jetzt zurückschaut, ist sie mit allem im Reinen. "Ich habe keine bösen Überraschungen erlebt", sagt sie. "Es ist alles so, wie ich es mir vorgestellt habe." Für die nächsten 20 Jahre sieht sie ihre Aufgabe hier im Kinderdorf. Die Kinder, die jetzt mit ihr leben, will sie groß ziehen und in ihre eigene Zukunft entlassen. Offiziell endet mit dem 18. Lebensjahr die Zuständigkeit der Kinderdorfeltern. Im Herzen endet sie nie. "Wir sind und bleiben für die Kinder die engsten Bezugspersonen. Richtige Eltern ruft man ja auch an, wenn man einen Rat braucht." 

Ein weißer Kleinbus stoppt vorm Haus, Rico springt heraus. Die Pforte fliegt ins Schloss, und der Junge dem Beagle um den Hals. "Es sieht lustig aus, wenn Strolch rennt, da stehen seine Ohren so ab", ruft der Achtjährige, gibt den Hund wieder frei und schwingt sich auf die Wippe. Ein Moment Kinderglück, der auch Claudia Töppner glücklich macht.

*Namen von der Redaktion geändert

Unter dem Motto „Wenn Helfen zum Genuss wird“ veranstaltet das Restaurant Kastenmeiers am 1. Februar 2020 die fünfte Wein- und Küchenparty. Zum letzten Mal werden die Räume im Kurländer Palais dafür genutzt - das Restaurant selbst befindet sich im Taschenbergpalais. Die Einnahmen des Abends gehen auch an den Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Sachsen e.V. Tickets unter: [email protected].

www.kinderdorf-online.de

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