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"Charlie schrieb plötzlich spiegelverkehrt"

Nach einem Sturz vergaß ein Neunjähriger die einfachsten Dinge, schlief ständig ein, hielt sich kaum noch auf dem Fahrrad. Eine neue Therapie soll ihm helfen.

Von Nadja Laske
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Es wirkt wie Zauberei, wenn Charlie Theo scheinbar mit bloßen Gedanken Figuren auf dem Bildschirm bewegen kann. Dahinter steckt eine neue Therapieform.
Es wirkt wie Zauberei, wenn Charlie Theo scheinbar mit bloßen Gedanken Figuren auf dem Bildschirm bewegen kann. Dahinter steckt eine neue Therapieform. © (c) Christian Juppe

Der schönste Spielplatz riecht nach Heu und Holz. Dort gibt es weder Edelstahlgestänge noch Gummibeläge. Wer fällt, landet im Gras. Meistens. An diesem einen Tag allerdings nicht. Da konnte Charlie dem großen Holzstapel auf dem heimischen Hof nicht widerstehen. Er gehört zu seiner Welt, wie die riesigen Siloballen, auf denen sich prima klettern lässt.

Vielleicht war es ein wenig feucht gewesen oder der heute Neunjährige hatte zu viele Dinge gleichzeitig im Kopf. Die Hasen im Stall warteten auf ihn. Zusammen mit seinem Vater wollte er sie füttern. Die Osterferien standen kurz bevor. Bald würde er am Strand toben. Doch dann stand die Welt plötzlich Kopf.

An jenen März 2018 erinnert sich Charlies Mutter mit Schrecken. "Ich hatte eine schwere Grippe als unser Sohn vom Holzstapel fiel. Was ihm passierte, war wirklich dramatisch. Wir dachten erst, Charlie sei tot." Der Notarzt brachte den Jungen ins nächstgelegene Krankenhaus nach Kamenz. Dort kam er wieder zu sich und blieb eine Nach zur Überwachung in der Klinik. Mit der Diagnose Gehirnerschütterung durfte Charlie am Tag darauf nach Hause. Auch gegen die geplante Reise ins Ferienhaus an der Ostsee sprach aus Ärztesicht nichts.

"Aber im Urlaub fiel uns auf, dass sich Charlie seltsam verhielt", erinnert sich seine Mutter Christiane. Er vergaß Namen und verwechselte Wochentage. Als Erstklässler hatte er schon zu schreiben begonnen und sich dabei gut angestellt. Nun schrieb er spiegelverkehrt. Beim Fahrradfahren fühlte sich Charlie, anders als sonst, unsicher, und auch diese Schläfrigkeit mitten am Tag kannten seine Eltern von ihm nicht.

Ein Fehler mit schwerwiegenden Folgen

Gleich nach den Ostertagen ging Christiane mit ihrem Sohn zur Kinderärztin. Die stellte nichts Besonderes fest und schickte Mutter mit Sohn ohne Befund nach Hause. "Aber als die Schule wieder losging, bekam ich von Charlies Lehrerin die Rückmeldung, dass mit ihm etwas nicht stimmt." Alarmiert befragte Christiane ihre Hausärztin - und die reagierte sofort. 

Umgehend sorgte sie dafür, dass das Kind zur Untersuchung ans Dresdner Universitätsklinikum kam. Die Mediziner dort stellten ein Schädel-Hirn-Trauma fest. Dem Kind nicht Ruhe und längeres Liegen zu verordnen, war ein Fehler mit schwerwiegenden Folgen gewesen. Intensive Therapien im Rehazentrum Kreischa sollten Charlie nun helfen.

Ein Jahr und neun Monate später sitzt Christiane in einem kleinen Wartebereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Dresden. Charlie ist in einem Behandlungszimmer verschwunden. Nach den Wochen in Kreischa, einem halben Jahr ohne Schule und sanfter Wiedereingliederung besucht er nun eine Klasse für Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche. 

Ob dieses Handicap mit dem Sturz zusammenhängt, kann niemand ganz genau sagen. Auch ob Charlie später einmal die Anforderungen einer Regelschule bewältigen wird, ist unklar. Ein Schulbegleiter ist bewilligt, im Kalender der Familie stehen Termine für Ergotherapie, Physiotherapie, Nachhilfeunterricht - und das sogenannte Neurofeedback.

Die Elektroden an seinem Kopf und die Kabel, die von dort zu einem technischen Gerät laufen, bemerkt Charlie kaum noch. Die feinen Fühler auf seiner Haut an Stirn und Wange nehmen Frequenzen seines Gehirns auf. Ausreichend verstärkt verarbeitet ein Computerprogramm die Signale so, dass Experten die Hirntätigkeit genau analysieren können. 

Spielen verschiedene Wellen optimal zusammen, reagiert das Computerprogramm auf die gewollte Hirnaktivität mit einem Belohnungsreiz. Charlie kann zum Beispiel Männchen über den Bildschirm laufen lassen. Aber nur dann, wenn er sich ganz besonders gut konzentriert.

"Wichtig ist, was jetzt ist"

Den Fokus voll und ganz auf eine bestimmte Tätigkeit zu richten, das ist das Ziel. Erst wenn Charlie sich von nichts ablenken lässt, an nichts anderes denkt, setzt die kleine animierte Figur einen Fuß vor den anderen und absolviert die Strecke, die Charlie von ihm will. 

In Wahrheit ist es umgekehrt: Die Maschine verlangt die ganze Aufmerksamkeit des Patienten. Das Training soll Charlie dabei helfen, Schulstoff leichter aufzunehmen und auch Aufgaben des Alltags besser zu bewältigen. Ziel ist es, Kontrolle über die eigene Konzentration zu erreichen und zu behalten.

Denn nach wie vor funktioniert sein Gedächtnis nicht verlässlich. Charlie vergisst, was mit ihm besprochen wurde, kann immer nur eine Aufgabe erfassen und erfüllen. Mit komplexen Anforderungen kommt er nicht zurecht. "Ich kann Charlie auch nicht allein zuhause lassen", sagt seine Mutter. Wie er sich entwickeln werde, sei offen. "Aber ich sage mir: Wichtig ist, was jetzt ist." Trotz der großen Sorgen und Mühen, die die 38-Jährige nun beschäftigen, ist sie auch froh. Die Folgen des Sturzes hätten noch viel schlimmer sein können, das sagt sie sich immer, wenn Verzweiflung in ihr aufsteigt.

"Wir haben ganz viel Glück mit allem - mit unserer Familie, unserer Firma und damit, dass ich mir neben der Arbeit Zeit für Charlie nehmen kann." Das Familienunternehmen, in dem auch sie tätig ist, kompensiert, was nicht jeder Arbeitgeber abfedern würde. Vor allem aber: Charlies Hirn hätte durch den Sturz noch viel schwerer geschädigt werden können.

Haben wir zu spät reagiert? Waren wir zu gutgläubig? Diese Fragen kommen Christiane dann und wann. "Aber wir sind keine Eltern, die ihre Kinder überbehüten und die Meinung von Ärzten grundsätzlich anzweifeln." Große Hoffnung legen Charlies Eltern und Ärzte nun auf die Möglichkeiten des Neurofeedbacks. Acht Wochen lang besucht der Neunjährige nun zweimal die Woche die Therapiestunden. Später könnten Termine zur Auffrischung sinnvoll sein, um den Trainingseffekt zu erhalten.

Für heute hat Charlie seinen kognitiven Hochleistungssport prima absolviert. Alle Männchen sind nach seinem Wunsch durch die virtuelle Landschaft spaziert. Auch die anderen Übungen konnte er gut beenden. Das Gehirnjogging erschöpft. Seine Mutter streicht Charlie sanft über den Kopf. Feierabend. Morgen ist ein neuer Tag.

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