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„Ich habe den sexuellen Missbrauch verdrängt“

Wie eine Frau aus Sachsen ihr Trauma aus der Kindheit erkennt, und wie ihr bei der Aufarbeitung geholfen wird.

Von Gabriele Fleischer
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Karin Alberti sucht Hilfe bei Beate Pfeifer von der Opferberatung Zwickau. Es fällt ihr noch immer schwer, über die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit zu berichten. Zwei kleine Metallkugeln in den Händen geben ihr Sicherheit.
Karin Alberti sucht Hilfe bei Beate Pfeifer von der Opferberatung Zwickau. Es fällt ihr noch immer schwer, über die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit zu berichten. Zwei kleine Metallkugeln in den Händen geben ihr Sicherheit. © Ralph Köhler

Karin Alberti* aus Meerane ist 33, als sie bei einer Mutter-Kind-Kur das erste Mal auf psychische Probleme angesprochen wird. Der Psychologe in der Klinik vermutet Traumata in der Kindheit. „Ich verneinte das vehement, aber leider hatte er recht“, sagt sie heute, 23 Jahre später. Ihre Erinnerungen sind noch tief vergraben, als sie in Zeiten großer beruflicher Belastung und einer schweren Herzerkrankung ihres Mannes zusammenbricht. Noch kennt sie die wahren Ursachen nicht – bis sie mit 54 Jahren Alpträume plagen. „Das ist der Horror.“ Sie hat Bilder vor Augen, die ihr die Luft nehmen. Ihre Hausärztin überweist sie zum Psychologen, später ist sie mehrere Wochen bei einer Traumatherapie am Uniklinikum Dresden. Stück für Stück werden Erinnerungen hervorgeholt. Die tun weh.

Als sie sieben Jahre als ist, beginnt für Karin ein Martyrium. Acht Jahre dauert es an. „Mein Stiefvater hat mich geschlagen, ich musste Heu einfahren, im Stall schwer arbeiten“, erzählt sie unter Tränen. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, denn der Stiefvater hat sie auch sexuell missbraucht, immer wieder. Sie vertraut sich niemandem an, weil ihr nicht einmal die eigene Mutter hilft. Karin ist froh, dass sie viele Nachmittage beim Leistungssport verbringen kann. Als Kugelstoßerin bringt sie es zu beachtlichen Weiten. Der Erfolg dort hilft ihr zu überleben. „Die Gewalt zu Hause habe ich verdrängt“, sagt sie. Sie sucht nach Ausflüchten, als sie auf ihre blauen Flecken und Platzwunden angesprochen wird. Sie sei gestürzt oder hätte sich gestoßen. Dabei bleibt es. Keiner forscht weiter nach.

23 Seiten Antragspapier

Jahrzehnte funktioniert sie – für Arbeit und für die Familie. Bis es eben nicht mehr geht. Selbst ihr Ehemann hat erst im vergangenen Jahr von ihren Qualen erfahren. Vorwürfe habe er ihr keine gemacht. Im Gegenteil. „Oft passiert der Zusammenbruch, wenn die Kinder aus dem Haus sind, Verantwortung weggefallen ist – und nicht zuletzt durch Stressereignisse wie bei Frau Alberti“, sagt Psychotherapeutin Sabine Hürrig von der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Uniklinikum Dresden. Sie weiß um die psychischen Erkrankungen, die solche Zusammenbrüche auslösen können. Depressionen zum Beispiel, oft verbunden mit Suizid-Gedanken. Die hatte Karin Alberti auch, wie sie erzählt. Bis heute sind sie nicht völlig aus ihrem Kopf. Zum Glück hat sie ihre Familie immer wieder aufgefangen. Und die Therapeuten am Uniklinikum, dort, wo sie nach zwei Aufenthalten noch einmal hin möchte. „Das hat mir gutgetan. Und ich muss noch mehr aufarbeiten“, schätzt sie ein. Das zu erkennen, auch das ist ein Fortschritt.

Die Therapeuten am Uniklinikum hören ihr zu, sie kann sich endlich jemandem anvertrauen. „Wesentlicher Teil der Traumatherapie ist es, dass Betroffene mit ihren Erlebnissen konfrontiert werden, auch wenn es hart ist. Aber nur so können sie es verarbeiten“, sagt Hürrig. Ganz würden sie die Erlebnisse wohl nie loslassen, aber Traumabilder könnten durch eine gute Therapie verblassen. Deshalb sollten Betroffene immer nach ausgebildeten Traumatherapeuten suchen. Denn leider gebe es auf Kosten der Hilfesuchenden auch viele Scharlatane.

Dass Kinder und Jugendliche nicht darüber sprechen, ist weit verbreitet. „Eine normale Schutzhaltung“, sagt Hürrig. Denn oft seien solche Taten in der Familie mit Drohungen verbunden. Glauben würde man ihnen sowieso nicht, heißt es da oft. Solche Erfahrungen macht auch Karin Alberti. Auch wenn sie seit kurzem wieder arbeiten geht, stabil ist sie bis heute nicht. Inzwischen ist sie beim zweiten Psychotherapeuten, der aber zum Jahresende wegzieht. Die Suche nach einem Ersatz ist schwierig. „Dabei ist eine feste Bezugsperson für die Aufarbeitung wichtig, weil es viel Vertrauen verlangt – und Zeit“, sagt Sabine Hürrig. Die Krankenkassen würden oft Verlängerungen der Therapiestunden ablehnen, so die Erfahrung von Karin Alberti. „Die Aufstockung meiner Stunden musste erst ein externer Gutachter bestätigen. Dann funktionierte es. Eine ebenfalls betroffene Freundin würde seit Monaten darauf warten.“

Erschreckende Zahlen

Karin Alberti sucht weiter nach Unterstützung und findet sie bei der Opferhilfe in Zwickau. Dort endlich erfährt sie auch, dass es finanzielle Hilfe gibt. Bisher wusste sie nichts von einem Fonds Sexueller Missbrauch, für den der Bund Mittel bereitstellt. Allerdings ist das 23-seitige Antragspapier für Betroffene eine Herausforderung. Bis ins Detail sind da Fragen zum sexuellen Missbrauch aufgelistet, die angekreuzt werden müssen. „Aber dafür sind wir da“, sagt Sozialpädagogin Beate Pfeifer. Sie weiß, dass Opfer wie Karin Alberti das Ausfüllen allein gar nicht schaffen. 

10.000 Euro stehen jedem Opfer zu – für Fahrtkosten, zusätzliche Therapiestunden, berufliche Weiterentwicklung und für Hobbys, die bei der Verarbeitung helfen. Für Karin Alberti sind das die regelmäßigen Tanzstunden mit ihrem Mann und das wöchentliche Schwimmen. „Schade nur, dass dieser Fonds vielen Betroffenen gar nicht bekannt ist“, sagt sie. Zum Glück ist Beate Pfeifer da. Karin Alberti redet viel mit ihr. Auch wenn es schmerzt. Wie gerade.

Sie zittert am ganzen Körper, als sie über ihre letzten Träume spricht. Die Tränen fließen. Eine Berührung lässt sie zusammenzucken. Die Sozialpädagogin holt Karin Alberti, die unaufhörlich zwei kleine Metallkugeln in ihren Händen dreht, zurück. Sie lässt ihr Zeit und gibt ihr einen Kühlakku. „Solche sensorischen Reize helfen bei der Rückkehr in die Gegenwart“, sagt Pfeifer. „Traumatisierte wie Karin Alberti werden von Erinnerungen aus der Vergangenheit überflutet mit allen negativen Gefühlen. Da braucht es starke äußere Reize.“ So wie Karin Alberti trifft es viele. Die Zahlen erschrecken: „In diesem Jahr haben sich 36 Prozent unserer Beratungen mit Fällen von sexuellem Missbrauch beschäftigt, Frauen, Kinder, Jugendliche, kaum Männer. Ein kontinuierlicher Anstieg gegenüber den vergangenen Jahren“, sagt Pfeifer, die mit ihren Mitarbeitern umfassende Betreuungen anbietet. „Wir zeigen Wege aus der Gewalt, weisen auf Schutz- und Unterstützungsmöglichkeiten hin, beraten zu Stabilisierung und entwickeln mit den Opfern neue Perspektiven.“ 

Sie begleiten die Opfer aber auch zu Ämtern, zu Gerichtsprozessen und haben Kontakt mit der Polizei. Denn oft sind Betroffene überfordert. „Manche Frauen kommen mit einer dissoziativen Identitätsstörung“, sagt Pfeifer. Dabei würden verschiedene Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über Denken, Fühlen und Handeln übernehmen. „Das geht so weit, dass Frauen plötzlich wie ein Kind sprechen und nicht mehr schreiben können.“

Ursache für all das, so weiß man, seien vermutlich Abweichungen von der normalen Gehirnentwicklung aufgrund traumatischer Erlebnisse während der Kindheit. Genau wie bei Karin Alberti. Endlich ist sie zurück im Hier und Jetzt. Aber sie braucht Ruhe, muss an die Luft. Beate Pfeifer hilft ihr dabei. „Denn die Betroffenen wissen selbst am besten, was für sie gut ist. Sie brauchen nur einen geschützten Raum und individuelle Unterstützung, um sich auf den Weg zu machen.“ Und der ist für Karin Alberti noch weit. Aber sie will und muss ihn weitergehen. Für sich und ihre Familie.

*Name von der Redaktion geändert.

Hier gibt es Hilfe:

Beratungsstellen der Opferhilfe in Sachsen gibt es in Dresden, Chemnitz, Leipzig, Bautzen, Görlitz, Pirna, Plauen, Torgau und Zwickau: www.opferhilfe-sachsen.de

Childhood-Haus Uniklinik Leipzig für misshandelte und sexuell missbrauchte Kinder: 

www.childhood-de.org

Hilfetelefon für Opfer sexuellen Missbrauchs: 

Tel.: 0800 2255530

„Traumanetz Sachsen“: Infos zu stationären und ambulanten Therapiemöglichkeiten:

www.sz-link.de/Trauma

Rehaeinrichtungen wie die Klinik am Waldschlößchen in Dresden:

www.klinik-waldschloesschen.de

Kontakte über den Landesfrauenrat:

www.landfrauenrat-sachsen.de

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