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Jan und die freundlichen Feinde

Jan Deremaux aus Den Haag schuftete im 2. Weltkrieg als Gefangener in Heidenau. Heimlich schrieb er ein Tagebuch. Das kommt nun Seite für Seite zurück an den Ort, wo alles geschah.

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© Katja Frohberg

Von Jörg Stock

Heidenau. Unaufhörlich trieft der Regen hinein in die Betonschüssel der Heidenauer Radrennbahn. Am Rand steht ein Mann, grauer Schnauzer, lila Streifenschlips. Charles Deremaux staunt. Dass es die Rennbahn noch gibt! Ja, Sprintweltmeister Jens Fiedler hat hier seine Kreise gezogen. Der Name sagt Charles nichts. Er denkt an seinen Vater, an Joannes Hendricius Petrus Maria Deremaux. Hier also ist er damals gewesen, hier ist das alles passiert. Die Lagerbaracke ist längst abgerissen. Das Funktionsgebäude der Radsportler steht jetzt an diesem Fleck. Plötzlich feixt Charles. „Da ist ja das Lager!“ Er zeigt rüber zur Kegelbahn. Zum Schutz vor Einbrechern hat man die Fenster vergittert.

Seltenes Zeugnis des Kriegsgefangenen-Einsatzes in Heidenau. Diese Männer in vermutlich französischen Monturen schippen 1944 Schneereste in Bahnhofsnähe. Es könnten Kameraden von Jan Deremaux sein. In seinem Tagebuch steht, dass holländische Gefangene fra
Seltenes Zeugnis des Kriegsgefangenen-Einsatzes in Heidenau. Diese Männer in vermutlich französischen Monturen schippen 1944 Schneereste in Bahnhofsnähe. Es könnten Kameraden von Jan Deremaux sein. In seinem Tagebuch steht, dass holländische Gefangene fra © Stadt Heidenau
Und in zehn Tagen war Krieg: Am 1. Mai 1940 heiratete der niederländische Soldat Jan Deremaux, damals 27 Jahre alt, seine Corrie. Kurz darauf marschierte die Wehrmacht in den Niederlanden ein. Zunächst nach Hause entlassen musste Jan 1943 als Kriegsgefang
Und in zehn Tagen war Krieg: Am 1. Mai 1940 heiratete der niederländische Soldat Jan Deremaux, damals 27 Jahre alt, seine Corrie. Kurz darauf marschierte die Wehrmacht in den Niederlanden ein. Zunächst nach Hause entlassen musste Jan 1943 als Kriegsgefang © privat

J.H.P.M. Deremaux, kurz Jan, ein 31-jähriger Büromensch aus Den Haag, Niederlande, kam am 21. Januar 1944 als Kriegsgefangener in Heidenau an. Zunächst hatte er Glück gehabt. Der Krieg hatte für ihn nur fünf Tage gedauert. Ohne Feindkontakt kapitulierte er mit der ganzen niederländischen Armee im Mai 1940 vor der deutschen Wehrmacht und wurde einfach heimgeschickt. Er saß in seinem Büro bei einer Behörde für Eisen und Stahl, als die Deutschen im April 1943 alle Ex-Soldaten zurückriefen. Das Reich brauchte Arbeiter. So wurde Jan doch noch Kriegsgefangener und fand sich im Arbeitskommando 1112 im Lager Heidenau-Radrennbahn wieder.

Jan Deremaux war ein genauer Mensch. Vom ersten Tage seines „Reichseinsatzes“ an machte er Notizen in einem Schulheft. Tagebücher waren verboten. Jan fand einen deutschen Wachmann, der es für ihn im Spind verbarg. Erst Ende der 1970er-Jahre fing er an, aus den Notizen eine Geschichte zu machen. Sein Gedächtnis war phänomenal, sagt Sohn Charles. Der Vater war einer von denen, die als Greis noch jeden einzelnen Namen der Klassenkameraden aus der Grundschule aufsagen können.

Jan tippte 500 Seiten. 1997 besuchte er Heidenau und übergab einige Blätter an Dietmar Diener, den Stadtarchivar. Diener war elektrisiert. Über Kriegsgefangene in der Hitlerzeit lag so gut wie nichts im Archiv vor. Doch dann brach der Kontakt ab. Jan war gestorben. Erst 2012 trat Charles auf den Plan. Seither schickt er Tagebuchseiten zu Diener, der nun Rentner ist, den die Heimatgeschichte aber nicht loslässt. Weil in Heidenau kein holländischer Übersetzer aufzutreiben war, übersetzt Charles den Bericht seines Vaters ins Englische. Heidenauer Gymnasiasten übertrugen das Englisch bereits teilweise ins Deutsch.

120 Pakete mit feinen Sachen

Als Kriegsgefangener war Jan praktisch Zwangsarbeiter, wenngleich sein Los ungleich leichter war als das der Ostarbeiter oder der gefangenen Sowjetsoldaten, von denen viele auch im heutigen Kreisgebiet jämmerlich zugrunde gingen. Die Niederländer galten als Arbeitskräfte arischer Abstammung. Ihre Verpflegung war in der Regel reichlich und gut und wurde durch Rotkreuz-Pakete und Sendungen von daheim noch aufgebessert. Jan Deremaux erhielt während seiner Zeit in Deutschland knapp 120 Pakete, gefüllt mit Schokolade, Kaffee, Fleischkonserven, Schinken, Lachs, Obstsaft und Zigaretten. Die Gefangenen lebten zeitweise besser als ihre Wärter. Im Mai 1944 schreibt Jan nach Hause, man solle ihm bitte nicht so viele Pakete schicken. Er habe keinen Platz mehr dafür.

Das Lager beschreibt Jan als blitzblank und militärisch organisiert. In der mit Stacheldraht umzäunten Baracke wohnt er gemeinsam mit gut 30 Kameraden. Sie haben eine Küche, einen Dusch- und Waschplatz und sogar einen kleinen Garten mit Tomaten und Möhren. Im Wachlokal vor der Barackentür sitzen die Aufpasser, ein Unteroffizier mit einer Handvoll Soldaten.

Eine Hassliebe verbindet Jan und die anderen mit Feldwebel Schönwalder, ihrem „Boss“. Er hat ein „Inspektions-Syndrom“, schreibt Jan. Er mag plötzliche Kontrollen, inspiziert die Koffer der Gefangenen, die Kleidung, die Betten oder die Schuhe. Sonntagmorgen gegen zehn ist Appell. Dabei lässt der Feldwebel die Barackentür aus den Angeln heben und vor der Front aufstellen. Auf dieser Tür steht geschrieben, was den Gefangenen alles verboten ist, darunter auch Fraternisieren, also Anbandeln mit deutschen Mädchen. Dafür, so verkündet der Feldwebel, kann der Tod drohen.

Wütend wird Schönwalder, als er entdeckt, dass seine neuen Gefangenen Läuse haben. Von nun an prüfen die Wachsoldaten die Windrichtung, wenn sie die Kolonne führen, damit keine Laus auf sie überspringt. Passanten werden gewarnt. „Achtung! Diese Leute haben Läuse!“ Die Gefangenen finden das sogar lustig, bis zur Entlausungsprozedur, bei der sie mit einer beißenden Substanz eingeschmiert und kochend heißt abgeduscht werden. Die Haut geht stellenweise völlig kaputt, schreibt Jan. „Ich hoffe, es war nicht umsonst.“

Jan Deremaux gehört zum Entladungskommando. Am Heidenauer Bahnhof holt er Güter aus den Waggons und hilft beim Transport zu den Firmen. Nebenbei müssen die Männer eine Zisterne in Bahnhofsnähe graben. Mit dem Wasser sollen Brände nach eventuellen Bombenangriffen gelöscht werden. Der Boden ist gefroren und voller Steine. „Unsere Meister schreien die ganze Zeit. Loos! Loos!“ Die ungewohnte Arbeit macht dem Büromenschen Jan enormen Appetit. Und nicht nur ihm. „Alles, was uns interessiert, ist Essen.“

Der erste Entladungsauftrag: vier Waggons Zementsäcke, 2 000 Stück, jeder 50 Kilo schwer. „Meine Arme, Beine und Finger sind geschwollen.“ Kurz darauf wieder Säcke. Diesmal Kalk und Chemikalien für die Firma Hugo Küttner, das Pirnaer Kunstseidenwerk. Zerschlagen erreicht die Truppe abends das Lager. „Eine dicke Suppe und Kartoffeln mit Bohnen machen aus mir wieder einen normalen Menschen.“

Nicht immer kommt die Verpflegung pünktlich. Mit Zigaretten handelt man sich Ersatz bei den Kameraden ein. Eine französische Zigarette ist einen Zentimeter Brot wert. Für amerikanische Pall Mall oder Camel bekommt man sogar eine anderthalb Zentimeter dicke Scheibe. „Essen geht bei mir vor rauchen“, bemerkt Jan lakonisch.

Antreiberei und Beschimpfungen

Der Holländer nennt sich „Eigentum des Landrats in Pirna“. Lokale Firmen dürfen ihn und die anderen gegen Gebühr ausleihen. Bald wissen die Gefangenen, wo die guten Jobs sind und wo die schlechten. Gut arbeitet man zum Beispiel bei den „Ladys Seifert“, einer Heidenauer Kohlehandlung. Es gibt Brote und Kaffee zum Frühstück und mittags Kartoffeln. Die Tochter des Hauses greift mit zu, wenn die Brikettwaggons, die „Kohlenboote“, geleert werden. Das beeindruckt Jan. „Elfriede arbeitet immer hart mit uns. So arbeiten wir auch hart.“

Das ganze Gegenteil bei Gaertner & Co., einer Spedition. Hier gibt es keine Extras, stattdessen Antreiberei und Beschimpfungen. Die Gefangenen revanchieren sich mit extra langsamer Arbeit. Sie wissen: Jede Arbeitsstunde kostet die Firma Geld. Jan bekommt knapp 30 Reichsmark im Monat, etwa ein Fünftel des Verdienstes eines deutschen Arbeiters. Das meiste davon schickt er heim zu seiner Frau Corrie und Söhnchen Charles, das damals zwei Jahre alt ist.

Von den deutschen Vorgesetzten zeichnet Jan ein erstaunlich positives Bild. Beispiel: Schneeräumen auf der Bahnlinie Geising-Altenberg. Den ganzen Tag schaufeln die Gefangenen unter Aufsicht des Poliers J. von der Heidenauer Tiefbaufirma Emil Weißbach Söhne die Gleise frei. Als sie abends im Zug nach Hause sitzen, schimpfen deutsche Ski-Touristen, die Ausländer nähmen ihnen die Plätze weg. Darauf der Polier: „Diese Leute haben den ganzen Tag geschuftet, damit ihr Ski fahren könnt. Jetzt haben sie ein Recht zu sitzen.“

Dass der Krieg näher kommt, merkt Jan vor allem an den ständigen Fliegeralarmen. Dann die Bombardierung Dresdens. Jan schreibt von den schlimmsten Minuten seines Lebens. „Der Himmel ist ein einziges rotes Glühen.“ Am 15. Februar 1945 notiert er, dass Ausgebombte mit versengten Augenbrauen „wie Zombies“ umherlaufen.

Den Einzug der Roten Armee erlebt Jan Deremaux bei der Lebensmittelgroßhandlung Otto Rössler in Heidenau. Dort baut er in aller Eile noch ein Geheimversteck für die Schnapsvorräte, damit sich die Sieger nicht „dumm“ trinken. Als sie ankommen, will er vor Freude weinen, weil er frei ist. Dann wieder ist ihm zum Heulen, weil die Sowjetsoldaten Rössler und andere Betriebe, wo man gut zu ihm war, ausplündern.

Nicht alle Deutschen waren böse

Am 31. Mai 1945, dem Geburtstag seiner Frau, ist Jan wieder zu Hause in Den Haag. Sohn Charles erzählt, seine Mutter habe ihren Mann kaum wiedererkannt. Aus dem einstmals schmalen Buchhalter war ein breiter, braun gebrannter Bursche geworden mit – so schreibt es Jan selbst – einem „Bizeps wie Dempsey“. Jack Dempsey war damals Box-Weltmeister im Schwergewicht.

Deutschland, dem einstigen Feindesland, blieb Jan zeitlebens verbunden und besuchte es immer wieder. Seine Frau Corrie konnte nie recht verstehen, wieso er die „Moffen“ – in Holland ein abschätziges Synonym für die Deutschen, speziell für die Nazis – mochte. Sie hatten schließlich seine Heimat besetzt und viele Leute umgebracht, darunter auch Jans Bruder Martin, der wegen Spionage vom Sicherheitsdienst der SS, dem SD, erschossen wurde. Man hatte bei ihm Kopien von Lageplänen eines Flugplatzes gefunden.

Charles glaubt, dass die so verschiedenen Kriegserfahrungen seiner Eltern zum späteren Bruch ihrer Ehe beigetragen haben. Ihn selbst hat das Tagebuch seines Vaters zu einem wesentlich helleren Deutschlandbild verholfen, als er es früher einmal hatte. Er glaubt, dass Jan mit seiner Niederschrift vor allem eins ausdrücken wollte: „Nicht alle Deutschen waren böse.“