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Kein ganz normaler Unfall

Ein Mann rammt betrunken mit seinem Auto zwei Fahrzeuge in Radebeul, es entsteht hoher Sachschaden. Die Sache scheint klar. Ist sie aber ganz und gar nicht.

Von Jürgen Müller
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Großen Schaden richtete der Angeklagte auch an seinem Fahrzeug an. Da ist es kein Wunder, dass die Flucht nicht gelingen konnte.
Großen Schaden richtete der Angeklagte auch an seinem Fahrzeug an. Da ist es kein Wunder, dass die Flucht nicht gelingen konnte. © Polizei

Meißen/Radebeul. Für die Polizisten ist das mehr oder weniger Routine. Sie werden zu einem Verkehrsunfall mit Unfallflucht gerufen. Ein BMW-Fahrer hatte mit seinem Auto zwei weitere Pkw gerammt. Es entsteht Sachschaden von knapp 16.000 Euro. Als die Polizisten am Unfallort in Radebeul eintreffen, sind sie überrascht. Denn der Unfallfahrer ist da. 

Er sitzt auf einem Stuhl an eine Wand gelehnt, ist völlig apathisch, schläfrig, kann geistig kaum folgen. Der Mann braucht ewig, bis er Führerschein und Fahrzeugpapiere gefunden hat. „Er hatte einen wackligen Gang, ich musste ihn beim Stehen stützen, dass er nicht umfällt“, sagt ein Polizist. 

Für ihn ist klar: Der Mann ist volltrunken. Allerdings passt das Ergebnis des Atemalkoholtests nicht zum Zustand, nicht zu den Ausfallerscheinungen: nur 1,4 Promille. Doch das Gerät ist nicht defekt. Auch der Blutalkoholtest bestätigt den Wert. Wie kann das sein?

Licht ins Dunkel soll eine Gutachterin, eine Fachärztin für Psychiatrie, bringen. Sie hat den 71-jährigen Radebeuler untersucht und begutachtet. Der Mann habe sich damals in einem psychischen Ausnahmezustand befunden, sagt sie. Seine Frau, die er jahrelang gepflegt hatte, sei vor vier Jahren gestorben. 

Sozial völlig entwurzelt sei er daraufhin von Bayern in seine Heimat nach Sachsen zurückgekehrt. Hier habe er wieder eine Frau kennengelernt, half in deren Gaststätte aus, was für einen Alkoholiker allerdings keine so gute Idee ist. Er macht sich Hoffnungen auf eine neue Beziehung, fürchtet sich vor der Einsamkeit, hält sich krampfhaft an der Frau fest. Doch er hat Pech. Die Frau ist verheiratet, macht auch keinerlei Anstalten, sich scheiden zu lassen. 

Am Unfalltag hat sie ihm per Mail die Trennung mitgeteilt. Er habe Alkohol getrunken, weil er keine andere Möglichkeit der Konfliktlösung gesehen habe, so die Ärztin. Dann habe er sich ins Auto gesetzt, habe zu seiner Freundin fahren und die Beziehung retten wollen.

 Den Rat eines Freundes, in diesem Zustand nicht zu fahren, ignoriert er. „Er hatte einen Tunnelblick, war darauf fokussiert, die Beziehung zu retten. In dem Moment war jede Art von Verstand ausgeschlossen gewesen, hat er seine Fahrtüchtigkeit falsch eingeschätzt“, sagt die Psychiaterin, die von einer „mittelgradigen depressiven Episode“ spricht.

 Nach dem Unfall habe er auf Flucht geschaltet, um der Situation zu entkommen, und nicht nachgedacht. Dass er nicht abhauen konnte, liegt daran, dass sein Auto schwer beschädigt war. Er sei in vielerlei Hinsicht völlig überfordert und zu nichts Vernünftigen in der Lage gewesen. In dieser Ausnahmesituation hätte der Unfall auch passieren können, ohne dass er auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken habe, sagt die Gutachterin.

Weil er wegen einer krankhaften seelischen Störung schuldunfähig ist, spricht in das Gericht frei. Die Fahrerlaubnis wird eingezogen, der Führerschein, der seit der Tat Anfang April vorigen Jahres in Verwahrung ist, sieht er theoretisch frühestens in einem Jahr wieder. 

Zuvor muss er aber eine medizinisch-psychologische Untersuchung bestehen. Und unter anderem nachweisen, dass er dauerhaft trocken ist. Schon 2017 war der Mann wegen einer Trunkenheitsfahrt verurteilt worden. Die hatte er allerdings ohne psychologische Beeinträchtigungen begangen. Dass er starke Depressionen hat, merkt man auch an seinem „letzten Wort“. „Es ist aus, alles ist aus“, sagt er apathisch unter Tränen.

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