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„Krebs allein hätte mir schon gereicht“

Vor einem Jahr bricht Marie zusammen, liegt fast zwei Monate im Koma. Jetzt hat sie zweimal Geburtstag im Jahr – und kann wieder Schlittschuh laufen.

Von Tino Meyer
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„Sagen Sie es ruhig, Sie haben mich anders erwartet“, sagt Marie zur Begrüßung, und die taffe junge Frau hat recht.
„Sagen Sie es ruhig, Sie haben mich anders erwartet“, sagt Marie zur Begrüßung, und die taffe junge Frau hat recht. © Ronald Bonß

Mit einem Zittern im Februar vor einem Jahr fängt es an. Ein bisschen erkältet ist Marie zwar. „Aber es ist ja Winter“, denkt die damals 23-Jährige. Und der Shorttrack-Weltcup in Dresden, immer wieder ein Höhepunkt für die leidenschaftliche Schlittschuhläuferin und Nachwuchstrainerin beim EV Dresden, hat sicher auch Kraft gekostet. Jammern kennt Marie sowieso nicht. Als frühere Leistungssportlerin ist sie es gewohnt, immer wieder an die Grenzen zu gehen.

Warum also beunruhigt sein?

Doch dieses Zittern fühlt sich anders an, nicht wie eine sich anbahnende Grippe. Besorgt ruft sie ihre Mutter an. Die handelt instinktiv, setzt sich sofort ins Auto. Was dann passiert, kann die junge Frau nur aus Erzählungen berichten. „Wie meine Mama in die Tür reinkommt, ist Schluss. Ich weiß nicht, was der Notarzt gemacht hat und wie ich ins Krankenhaus kam“, sagt Marie, die später von den Ärzten und Pflegern wie selbstverständlich nur mit dem Vornamen angesprochen wird.

Die Diagnose ist dramatisch

Eine Art Lallen ist ihrer Mutter beim Telefonat aufgefallen, die Diagnose der Ärzte im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt ist deutlich umfassender und dramatisch: Leukämie, Blutvergiftung, zudem ein Multiorganversagen. Niere, Leber, nichts funktioniert mehr. Marie fällt ins Koma, tagelang, wochenlang. Weil sie nicht OP-fähig ist, müssen ihre Familie und die Ärzte machtlos ansehen, wie Fingerkuppen und Vorderfüße absterben.

Sie selbst hat daran keine Erinnerungen, gar nichts. Fast zwei Monate Koma zusammengefasst in einem Satz: „Es war wie nach einer langen Partynacht, wenn man einschläft und am Morgen danach mit einem dicken Kopf aufwacht.“ Der gravierende Unterschied: Mit einer Schmerztablette ist diesmal nichts zu machen.

Marie hat, so erzählt sie, alle Komplikationen mitgenommen – und trotzdem Glück im Unglück. „Krebs allein hätte mir schon gereicht. Ich hatte die aggressivste Form, aber mit einer guten Heilprognose. Doch durch die Blutvergiftung und das Organversagen lag meine Überlebenschance bei zehn Prozent“, sagt sie.

Im Rückblick hört sich ihre Geschichte beinahe märchenhaft an. Jetzt, wo alles so gut ausgegangen ist. Wenn sie bei einem Cappuccino im Café sitzt, trotz der amputierten Finger ganz natürlich die Tasse greift, mit fester Stimme erzählt – und dennoch immer wieder kleine Pausen machen muss, um Worte zu finden, die das Unerklärliche erklären können.

Ein Märchen ist das nicht.

Erst Ende März 2019 wacht Marie wieder aus dem Koma auf, total verzweifelt. „Je mehr ich realisiert habe, umso größer war der Schock. Ich bin jung, hatte mein Leben im Griff. Ich war aktiv – und plötzlich der größte Pflegefall der Welt“, erzählt sie und spricht von einer Verzweiflung, die sich im Nachhinein nur schwer in Worte fassen lässt. Dazu ihre Befürchtung: nie wieder auf dem Eis stehen. „Ich habe mehr Zeit in der Eishalle als zu Hause verbracht. Keine Schlittschuhe mehr anziehen zu können, war meine größte Angst“, erinnert sie sich.

Nur ganz kleine Schritte

Daran ist im April 2019 noch lange nicht zu denken. Vormittags erhält sie die kräfte- wie nervenraubende Chemotherapie, und nachmittags geht es um grundsätzliche, bislang selbstverständliche Dinge. Atmen, Reden, Sitzen, Laufen – selbstverständlich ist nichts mehr.

Ihr Kreislauf sei nicht im Keller gewesen, sondern de facto tot. „Katastrophal“, sagt Marie, die nicht mal mehr mit dem Kopf nicken oder schütteln konnte. Einfach nur deprimierend und „gar keine gute Phase“, auch wenn es aus medizinischer Sicht stetig besser wird. Arme bewegen, im Bett hinsetzen, getragen werden vom Bett zum Stuhl, der erste Schritt. Stück für Stück geht es voran. Chemo und Reha – einen ganzen Sommer lang.

Was ihr dabei immer geholfen hat, ist der Zuspruch von Familie und Freunden. Und nicht zuletzt der Sport: Wille, Ehrgeiz und das Wissen, dass es auch mal wehtun kann und sogar wehtun muss, um Fortschritte zu erzielen. „Als Sportlerin war ich es gewohnt, mehr zu machen als verlangt“, sagt Marie. Schnell ist sie deshalb wieder auf den Beinen und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Mental ist die Sache eine andere. Die erste Party mit ihren Freunden habe ihr gezeigt, „dass ich wieder leben kann“. Doch es hat noch lange gedauert, um zu verstehen, dass sie an der Leukämie keine Schuld trägt. Zu akzeptieren, dass sie nicht hätte vorsorgen können oder sich schützen. Dass es einfach so passiert ist.

Um besser damit klarzukommen, hat sie sich den Umgang mit dem Blutkrebs in der zweiten Jahreshälfte zur Tagesaufgabe gemacht: aufstehen, Chemo abholen. So hatte der Tag eine Struktur, einen doch irgendwie normalen Rhythmus.

Und dann ist da noch der besondere Antrieb: die Schlittschuhe. Im Dezember wagt sich Marie das erste Mal wieder aufs Eis. Es soll eigentlich nicht mehr als ein Versuch sein – und wird zu ihrem ganz persönlichen Triumph. „Herrlich! Das ging wie von selbst, jeder Schritt total normal, als wäre nie etwas gewesen. Damit hatte ich das letzte Stück noch fehlende Lebensqualität zurück“, sagt Marie.

Über die Krankheit zu reden, tut ihr ebenfalls gut, genauso anderen Betroffenen zu helfen. Deshalb engagiert sich Marie jetzt für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei, kurz DKMS – und verbindet das eine mit dem anderen.

Typisierungsaktion beim Weltcup

Beim Shorttrack-Weltcup in Dresden wird es am Sonntag eine Typisierungsaktion in der Eissporthalle geben. Von 12 bis 17 Uhr sind die Zuschauer aufgerufen, sich als Stammzellenspender registrieren zu lassen. „Das kostet nichts und tut auch nicht weh. Mund auf, Stäbchen rein, fertig“, sagt Marie, die nun auch wieder ihre Trainingsgruppe betreut. Inzwischen gebe es sogar Tage, an denen sie nicht mal mehr an die Krankheit denkt.

„Auch wenn ich jetzt gezwungenermaßen vieles anders machen muss, ich führe wieder ein normales Leben“, sagt Marie, und sie zählt auf: Geschirrspüler ausräumen, Wäsche waschen, überhaupt der ganze Haushalt. Macht sie alles allein – und jetzt auch alles gern. „Ich habe einen anderen Blick aufs Leben bekommen und bin so viel glücklicher über kleine Dinge.“

Große Träume hat sie aber auch, jetzt erst recht. Die Welt will Marie bereisen und immer richtig gut essen gehen, wenn sie Lust drauf hat – nicht etwa nur zu besonderen Anlässen wie denen in der nächsten Woche. Dann finden im Krankenhaus die Abschlussuntersuchungen statt. Es sieht sehr gut aus, auch wenn man, wie bei jedem Krebs, nun erst mal die nächsten Jahre abwarten muss. Und am 12. Februar, sagt Marie, habe sie jetzt immer einen zweiten Geburtstag. Am Ende fasst sie die vergangenen zwölf Monate mit drei Worten zusammen: „Ich darf leben.“