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Liebe Erzgebirger, ergreift diese Chance!

Raus aus der Heimatstube! Machen wir was aus dem Welterbe. Ein Plädoyer des Direktors des Dresdner Volkskunstmuseums.

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Musiker spielen bei der Bergparade in Schneeberg.
Musiker spielen bei der Bergparade in Schneeberg. © Wolfgang Schmidt

Von Igor Jenzen

Am Samstag entschied sich die Unesco auf ihrer Sitzung in Baku, Aserbaidschan, die Bergbau-Kulturlandschaft des Erzgebirges auf deutscher wie tschechischer Seite zum Weltkulturerbe zu erklären. Das ist das wohlverdiente Ergebnis einer rund 20 Jahre dauernden intensiven Bemühung. Gratulation dem Welterbeverein und allen, die dies bewirkt haben und „Glück auf!“ dem Erzgebirge! Das ist das richtige Zeichen zum Aufbruch.

Unser Bild vom Erzgebirge ist viel zu lange schon geprägt von der Sichtweise der Zeit um 1900. Damals hatte tatsächlich der Bergbau seine besten Jahre längst hinter sich. Doch statt die gleichzeitig boomende Textil-, Holz-, Papier- und Stahlindustrie im Erzgebirge zu würdigen, konzentrierte sich der nostalgische Blick der Dresdner Honoratioren auf das Verschwinden ihrer gewohnten Welt. Landwirtschaft, Handwerk und gerade eben auch der Bergbau galten als ehrenwert, die stinkende, laute, sich ständig ausbreitende Industrie als höchst suspekt. Die Dorfidylle wurde zum Gegenbild der hektischen Stadt, die Heimat zum Gegenbild der Zukunft. Erstere galt es zu schützen, der Letzteren galt es zu wehren.

Der „Heimatschutz“ ist eine Erfindung dieser Zeit. Er ist Ausdruck und Reaktion auf eine sich rasant ändernde Welt. Seine Sichtweise aber prägt bis heute das Bild vom Erzgebirge. Seine Sprache liefert das Kolorit. Wir kennen sie alle, die Formulierungen der Bedürftigkeit: „karge Böden, schroffe Winde, schmale Kost, trocken Brot und bescheidener Verdienst“. Mit diesen Formeln wurde die damals prekäre Lage der Spielzeugmacher im Erzgebirge beschrieben. Prekär war sie, weil das aufkommende modernere Blechspielzeug das bis dahin stetige Wachstum der Spielzeugindustrie jäh beendete.

Einer der Honoratioren, Oskar Seyffert, Professor an der Kunstgewerbeschule, Gründer des Volkskunstmuseums und des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, fand von Dresden aus eine geniale Lösung für die Situation, indem er die Spielzeugmacherei zur Volkskunst erklärte. Nun konnte man für kleines Geld wertvolle Volkskunst kaufen und damit den armen Erzgebirgern helfen. Für diesen „Marketing-Coup“ der Aufwertung erhielt Oskar Seyffert 1928 zu Recht einen Ehrenpokal des Wirtschaftsministeriums.

Igor Jenzen,  1956 in Frankfurt am Main geboren, hat dort und in Marburg Kunstgeschichte, Volkskunde und Germanistik studiert. 1993 wurde er Konservator im Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, von 2000 bis 2002 dessen kommissarische
Igor Jenzen, 1956 in Frankfurt am Main geboren, hat dort und in Marburg Kunstgeschichte, Volkskunde und Germanistik studiert. 1993 wurde er Konservator im Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, von 2000 bis 2002 dessen kommissarische © Marion Gröning (Archiv)

Die Hilfsaktion hatte aber auch eine ebenso unangenehme wie nachhaltige Nebenwirkung. Die mitleidige Haltung und das sentimental-melancholische Vokabular hat sich durch ihre ständige Wiederholung durch Generationen hindurch über das ganze Erzgebirge wie Mehltau gelegt.

Es wird Zeit, die Erfolgsgeschichte des Erzgebirges von vorn zu erzählen und zu begreifen, wie Kultur – auch Bergbaukultur – entsteht und welche Potenziale sie hat.

Das Erzgebirge war das Silicon Valley Sachsens

Man kann den Einfluss des erzgebirgischen Bergbaus auf die Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Sachsens und sogar Europas gar nicht überschätzen. Seit dem Berggeschrey von 1168 war der Bergbau der starke Motor einer alle Lebensbereiche umfassenden stürmischen Entwicklung. Er machte aus dem beinahe undurchdringlichen Miriquiri-Urwald in wenigen Jahrzehnten ein florierendes Wirtschaftsgebiet, das Spezialisten, Arbeiter und Geschäftsleute aus allen Bergbauregionen anlockte.

Diese hochaktiven Industriepioniere brauchten eine schnell wachsende Infrastruktur, Holzkohle für die Verhüttung, Lebensmittel, Zulieferhandwerke für Stollenbau und Gerätschaften, Spediteure, aber auch Verwalter, eine verlässliche Rechtsgrundlage und verlässliche Regeln für Arbeit und Lohn. Das Erzgebirge war das Silicon Valley Sachsens. Die sächsischen Kurfürsten waren sehr geschickt darin, den privat finanzierten Abbau von Erzen durch großzügige, aber klare und scharf kontrollierte Gesetze zu fördern. Bergämter regelten die gesamte Wertschöpfungskette inklusive der Verhüttung.

Es war eine sehr effiziente, für alle Seiten vorteilhafte Wirtschaftspolitik, die letztlich für einen ertragreichen regen Verkehr auf der Silberstraße in die Residenzstadt Dresden sorgte. Die Maschinerie funktionierte auch in den Zeiten zwischen den großen Funden. Das Ausweichen auf andere Erze wie Zinn, Kobalt, Eisen, Nickel oder Blei und die systematische Erschließung aller mit dem Bergbau verwandten Technikwissenschaften durch die Gründung der Bergakademie Freiberg 1765 waren kluge obrigkeitliche Infrastrukturmaßnahmen. Sie wirken bis heute auf den Technologiestandort Sachsen. Die Wirtschaft im Erzgebirge wuchs mit und neben dem Bergbau kontinuierlich und profitierte von dem Nebeneinander verschiedener Zweige.

Mehr als erfolgreiche Geschäftspartner

Und die Kultur? Es wird gerne erzählt, die Bergbaukultur wäre in der Freizeit der Bergleute entstanden oder in den mageren Zeiten zwischen den reichen Funden. Da hätten die arbeitslosen Bergleute geschnitzt, geklöppelt oder Spielzeug hergestellt. Diese bildhafte Vorstellung folgt der Volksweisheit: „Alles kommt vom Bergbau her“, doch so einfach liegen die Dinge nicht. Die Spielzeugindustrie ist eine typische, wenn auch nicht häufige Waldverarbeitungsindustrie. Und geklöppelt wird da, wo Gelder investiert werden können, eine Infrastruktur besteht und das Repräsentationsbedürfnis reicher Herrschaften einen guten Absatz verspricht.

Das war im Erzgebirge allerdings der Fall. Denn wo gutes Geld verdient wird, da wird dieses Geld in Kunst und Kultur investiert, sei es zur Repräsentation, zur Erbauung oder zum Lob und Dank Gottes. Die reich geschmückten Bergstädte mit ihren prächtigen Kirchen legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Und der Reichtum an Kunst und Kultur in der Residenzstadt spricht für sich.

Dresden und das Erzgebirge waren aber mehr als erfolgreiche Geschäftspartner. Sie waren auch kulturell aufeinander fixiert. Die Kulturen beider Seiten profitierten von der Reibung untereinander und mit der Welt. Diesen Aspekt kann man im 300. Jahr der Fürstenhochzeit 1719 gerade in einer Ausstellung des Volkskunstmuseums exemplarisch studieren. Das Saturn- und Bergbaufest im Plauenschen Grund, das nach einem Monat ununterbrochenen Feierns den Höhepunkt der Hochzeit des Thronfolgers mit der Kaisertochter darstellte, war dem Bergbau als Quell des sächsischen Reichtums gewidmet.

Zu diesem höfischen Fest wurden erstmals aus dem Erzgebirge 1400 „echte“ Bergleute angefordert. Sie durften, mit neuen Uniformen ausstaffiert, in der Dämmerung an der verschwenderisch illuminierten Pracht des „Saturntempels“ vorbeiparadieren, in dem der König mit seinen Gästen saß und die Parade abnahm. In dieser Nacht begegneten sich im Plauenschen Grund zwei Lebenswelten, die sonst streng voneinander getrennt waren. Die Bergleute hatten die einzigartige Gelegenheit, in das sonst streng verschlossene Paradies zu schauen.

Was sie dort sahen, hat sie so tief beeindruckt, dass sie Teile davon in ihre eigene Kultur aufnahmen: die nächtliche Parade selbst, die Lichterpyramiden und Lichterbögen, die mechanischen Automaten und weitere Motive, die wir bis heute völlig anderen Zusammenhängen zuzuordnen gewohnt sind. Das Beispiel zeigt, wie fruchtbar die Reibung zwischen verschiedenen Welten in der Kultur wirkt.

In diesem Sinne ist der Welterbetitel nun eine große Chance für das Erzgebirge. Er wird diese Region beleben, neue Eindrücke, Ideen und Herausforderungen verursachen. Mach was draus, Erzgebirge! Glück auf!

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.