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Großenhainer Apotheke wird komplett evakuiert

Ein Wasserschaden hat dem historischen Haus in der Innenstadt stark zugesetzt. Tausende Medikamente müssen nun woanders hingebracht werden.

Von Catharina Karlshaus
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Es kommen viele Helfer zum Ausräumen, und jede Hand wird tatsächlich gebraucht. Conny Petzold trägt die Schubladen mit Medikamenten in einen benachbarten Raum.
Es kommen viele Helfer zum Ausräumen, und jede Hand wird tatsächlich gebraucht. Conny Petzold trägt die Schubladen mit Medikamenten in einen benachbarten Raum. © Kristin Richter

Großenhain. Die Hiobsbotschaften kommen im Sekundentakt: Nachdem die renommierte Großenhainer Löwen-Apotheke am Mittwoch erklärt hatte, es sei aufgrund eines Wasserschadens nur noch ein Notbetrieb am Hauptmarkt 7 möglich, muss sie  24 Stunden später ganz geräumt werden. Am besten sofort, und wenn es irgend möglich wäre, eigentlich schon seit Tagen. 

Über Nacht hat sich das historische Deckengewölbe im Verkaufsraum in eine rissige Bedrohung verwandelt. Der am Donnerstagvormittag herbeigerufene Statiker André Anlauf muss nicht erst aufwendige Untersuchungen tätigen. Dem Fachmann reicht ein Blick, um zu erkennen: Die Lage ist ernst. Sehr ernst. „Das Deckengewölbe ist definitiv einsturzgefährdet“, bestätigt André Anlauf im SZ-Gespräch.

Darunter herumlaufen sollte fortan keiner mehr. Auch Kerstin Boragk nicht. Denn die Inhaberin der von ihr seit 2005 geführten Apotheke läuft sehr wohl durch das im 13. Jahrhundert erbaute Gebäude. Beinah ungläubig schaut sie in die verschiedenen Räume, redet mit Bauleuten, umarmt Mitarbeiter und begrüßt fremde Menschen, die einfach nur gekommen sind, um zu helfen. 

Die 48-Jährige kann noch immer nicht fassen, was seit ein paar Tagen ihr Leben bestimmt. Glaubte sie am 2. Januar noch an eine der üblichen Havarien mit der Heizung, hat sich die Apothekerin und Spezialistin für Offizin-Pharmazie und Ernährungsberatung inzwischen in einem Alptraum wiedergefunden. „Die Mitarbeiter hatten mich am Morgen angerufen, um darüber zu informieren, dass aus der Decke über der Eingangstür das Wasser tropft“, erinnert sich Kerstin Boragk.

Inhaberin Kerstin Boragk ist dankbar, dass die Kunden treu zu ihr stehen.
Inhaberin Kerstin Boragk ist dankbar, dass die Kunden treu zu ihr stehen. © Kristin Richter
Die Kunden werden momentan über ein Fenster an der Seite bedient.
Die Kunden werden momentan über ein Fenster an der Seite bedient. © Kristin Richter
Mitarbeiter der Firma Stadt- und Landbau Sauer GmbH reißen die Decke ab, um das Gewölbe zu entlasten.
Mitarbeiter der Firma Stadt- und Landbau Sauer GmbH reißen die Decke ab, um das Gewölbe zu entlasten. © Kristin Richter
Das Deckengewölbe im Verkaufsraum hat bedenkliche Risse.
Das Deckengewölbe im Verkaufsraum hat bedenkliche Risse. © Kristin Richter
Statiker André Anlauf muss nicht lange hinschauen: Das historische Gewölbe der Löwen-Apotheke ist einsturzgefährdet.
Statiker André Anlauf muss nicht lange hinschauen: Das historische Gewölbe der Löwen-Apotheke ist einsturzgefährdet. © Kristin Richter

Als sie wenige Stunden später aus dem Urlaub eilend in Großenhain eintrifft, habe es dann schon wie aus einem Hahn geplätschert. Dicke Tropfen rannen über die Wände und machten auch vor den geschichtsträchtigen Wandvertäfelungen und hölzernen Einbauten nicht halt. Die Vermutung, es könne wieder einmal an der offensichtlich defekten Heizungsanlage liegen, sollte sich leider in den folgenden Tagen ebenso bestätigen, wie die Befürchtung, dass das längst noch nicht alles gewesen ist. 

Das Fatale an der Situation: Zwar sei seit Monaten immer wieder der Reparaturdienst angerückt, da bei den Mietern der oberen Etagen ständig die Heizung kalt gewesen wäre. Den Grund dafür kenne man noch nicht. Aber nach der Feststellung, es liege am kontinuierlich fehlenden Wasser, seien gerade erst vor den Weihnachtsfeiertagen noch einmal gut 400 Liter in die Anlage gefüllt worden.

Feuchtigkeit, die sich nun offenbar im Mauerwerk breitgemacht hat. Auf welchen Wegen und was die wirkliche Ursache für den bedrohlichen Zustand der Bausubstanz ist, könne an diesem Donnerstag noch nicht gesagt werden. Mitarbeiter der Firma Stadt- und Landbau Sauer GmbH mühen sich jedenfalls redlich, das Gewölbe von der Last der darüber liegenden Decke in der ersten Etage zu befreien. 

Was sie indes nicht ahnen können – schon wenige Stunden später werden auch an anderen Stellen im Haus ausgeprägte Risse sichtbar sein. „Nach dem Mittag tauchten plötzlich welche in den Wänden auf. Wie lange wir überhaupt noch Zugang zu den Räumen haben werden, ist daher völlig ungewiss“, bekennt Kerstin Boragk kurz vor 16 Uhr. Man bemühe sich nach Kräften, deshalb schnell alle Waren zu sichern und in das behelfsweise angemietete Geschäft neben dem Polizeirevier zu bringen. 

Der Gegner ist das Wasser

Sie sei ihren 14 Mitarbeitern sehr dankbar, denn jeder packe an, und selbst die Putzfrau, die am Mittwoch einen Todesfall zu beklagen hatte, sei ungefragt herbeigeeilt. Warenbestand im Wert von 250.000 Euro gelte es, von jetzt auf gleich, zu bergen und ordnungsgemäß an eine sichere Stelle zu bringen. Eine Sisyphusarbeit, angesichts von tausenden Päckchen, Dosen, Flaschen und Tuben. Scheints unzählige Mengen, die Birte Zbeczka und Anett Berthold nicht schrecken.

Die beiden Pharmavertreterinnen haben nach eigenem Bekunden Erfahrungen beim Dresdner Hochwasser 2002 gesammelt. Nun hat die GEHE-Pharma Handel GmbH die Frauen samt Transporter zur Unterstützung in die Röderstadt gesandt. Wie die Wiesel flitzen sie umher und stellen logistisch unter Beweis, dass in der richtigen Reihenfolge mehr Schächtelchen in eine Plastewanne passen können als wahllos gedacht.

Glück im Unglück für Kerstin Boragk. Die Pharmazeutin hatte bis zuletzt mit der Evakuierung gewartet, damit die Apotheke für Akutpatienten – ihre Einrichtung verabreicht kontrolliert Ersatzpräparate für Drogenabhängige – erreichbar ist. Bis am Mittwoch auf dem Hauptmarkt 3 eröffnet werde, wolle man sich, abgesehen vom Lieferservice, mit einem Notbetrieb in der Gröditzer Filiale über die Zeit retten.

Was vom geschichtsträchtigen Ensemble zu retten sein wird, bleibt an diesem Donnerstag abzuwarten. Immerhin, dem markanten Kreuzgewölbe konnte der Stadtbrand 1744 nichts anhaben. Auch dem Pfingsttornado 2010 trotzte das Haus. Nun ist der Gegner das Wasser.