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Mein Papa fehlt mir so

Luca aus Dresden lernt in einer Kindergruppe, den Tod seines Vaters zu verarbeiten. Auch Eltern können beim Trauern helfen.

Von Gabriele Fleischer
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Heute kann Luca über den Tod seines Vaters sprechen. Die Trauerbegleiterinnen Edith Kudla (l.) und Andrea Bollmann der Malteser in Dresden helfen ihm dabei.
Heute kann Luca über den Tod seines Vaters sprechen. Die Trauerbegleiterinnen Edith Kudla (l.) und Andrea Bollmann der Malteser in Dresden helfen ihm dabei. © Jürgen Lösel

Mit einem Brötchen in der Hand kommt Luca ins Zimmer von Sylvia Jaster gestürmt. Die Koordinatorin des Malteser Hospiz- und Palliativberatungsdienstes in Dresden freut sich, den Siebenjährigen so fröhlich zu sehen. Das war nicht immer so. Genau an dem Tag, als er im August in die Schule gekommen ist, verstarb sein Vater. Für das Kind ein Trauma.

Mit seiner Mutter Gesine Schwarz* versucht Luca, in der Kindertrauergruppe der Malteser zurück in den Alltag zu finden. Stück für Stück. „Das dauert bei dem einen länger, bei anderen geht es schneller“, sagt Edith Kudla, eine der beiden Trauerbegleiterinnen. Aber die Kinder sollten die Zeit haben, die sie brauchen. Sie signalisieren, was ihnen gerade wichtig ist. „Wir lachen auch mit ihnen. Und sie geben uns Lernaufgaben mit auf den Weg“, ergänzt Trauerbegleiterin Andrea Bollmann. Also mal selbst wieder Kind, spontan und flexibel zu sein, neue Ideen zu entwickeln. 

Beide Frauen haben Erfüllung im Ehrenamt gefunden. Eineinhalb Jahre sind sie zu Trauerbegleiterinnen ausgebildet worden, insgesamt 405 Stunden. Gesprächsführung, Selbsterfahrungen, Psychologie waren Schwerpunkte. Dazu kommen jetzt praktische Erfahrungen bei den Treffen mit den Kindern. Die sind zwischen fünf und zwölf Jahren, manchmal 13.

Luca ist das dritte Mal da. „Der Umgang miteinander, die Gespräche, aber auch die Momente des Bastelns und Tobens haben ihn zurückgeholt ins Leben“, sagt seine Mutter. Gern würde sie mit ihm öfter kommen, aber die Gruppe, die Luca so guttut, trifft sich nur einmal im Monat. Für Gesine Schwarz ist das trotzdem ein Glücksumstand. Endlich findet sie wieder Zugang zu ihrem Sohn. Lange Zeit musste sie darum kämpfen. Denn von heute auf morgen war für Luca eine Welt zusammengebrochen – und ein tägliches Ritual. Denn auch wenn der Vater schon einige Monate in Italien lebte, so hatte er regelmäßig Kontakt zu seinem Sohn. Jeden Tag pünktlich 17 Uhr saß Luca am Telefon und wartete darauf, dass es klingelte. Eine Stunde lang haben sie miteinander geredet. 

Trauerschnecken gebacken

„Papa hat mir erzählt, was er gerade so macht. Dann wollte er wissen, wie es mir geht und wie es im Kindergarten war.“ Jetzt kann der Junge darüber sprechen. Auch wenn er bis heute traurig ist: „Mir fehlt mein Papa“, sagt er und springt auf. „Ich nehme eine Auszeit“, was so viel heißt wie: Ich möchte innehalten und nicht sprechen. „Das ist gut so. Auch das lernen die Kinder hier“, sagt Edith Kudla. Überhaupt sei es wichtig, dass sie sagen, was sie möchten, wann sie trauern, wann sie fröhlich sein wollen.

Um Zugang zu finden, laufen die Treffen gleich ab. „Zu Beginn hat jeder Zeit anzukommen, sich auszutoben, zu essen“, sagt Edith Kudla. Auch diesmal hat sie Zimtschnecken gebacken. Trauerschnecken heißen sie hier. Dann ist Zeit für Gefühle. Die Kinder erzählen, was sie erlebt, wovor sie Angst haben, wann sie traurig sind – und welche schönen Erlebnisse sie mit den Verstorbenen hatten. Manche zeigen Kärtchen mit Smileys oder Tieren – Gefühlskarten. Dann wird gebastelt, gelesen, getanzt oder wie heute Theater gespielt. Luca darf die Hauptrolle übernehmen.

Ähnlich ist es bei den Kindertrauergruppen des Elternvereins krebskranker Kinder in Chemnitz. „Wir erinnern an den Verstorbenen und tauschen uns aus. Gespräche wechseln mit Kreativem“, sagt Koordinatorin Anne Bayer. Für die Kinder sei es gut, auf andere zu treffen, mit denen sie ein gleiches Schicksal teilen können.

Während ihr Sohn seine Auszeit nimmt, erzählt Gesine Schwarz, wie sehr sich Luca gewünscht hatte, dass sein Papa ihn noch mal besucht. Aber das konnte er nicht mehr. Denn er war schwer krank. Zum Nierenkrebs kam ALS. An der Erkrankung des Nervensystems sei er schließlich verstorben, sagt die 38-Jährige. Als sie es erfuhr, musste sie tapfer sein, denn die Schuleinführung sollte für ihren Sohn unvergesslich werden. Deshalb hat sie es ihm nicht gleich gesagt, obwohl sie ihren Schmerz kaum verbergen konnte. Schließlich seien sie zehn Jahre ein Paar gewesen und hätten viele schöne Stunden erlebt.

Todesvorstellungen entwickeln

Doch warum das tägliche Telefongespräch plötzlich ausfiel, musste sie ihrem Sohn irgendwann erklären. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt? „So früh wie möglich, sagt Remo Kamm. Aber nicht nebenbei beim Einkaufen, sondern in einer ruhigen Situation mit viel Zeit und Gelegenheit, das Kind aufzufangen, Fragen nach dem Warum zu beantworten. Kamm ist Psychologe beim Dresdner Verein Sonnenstrahl, wo krebskranke Kinder und ihre Geschwister betreut werden. Verleugnen bringe nichts. Kinder würden spüren, wenn Angehörige traurig sind oder sich verschließen. Besser sei es, so Kamm, dass Erwachsene mit dem Kind gemeinsam den Tod aufarbeiten. 

Dabei sollten sie direkt darüber sprechen – je nach Alter auch mit Bildern. Denn Drei- bis Vierjährige hätten noch keine Vorstellung von Endlichkeit, ältere schon. Wichtig sei es, keine Bedrohung aufzubauen, sondern Tod und Sterben als Teil des Lebens zu beschreiben. „Mit den Kindern lassen sich Todesvorstellungen entwickeln“, sagt Kamm. „Der eine sieht seinen verstorbenen Papa als Schmetterling, der andere sucht seine Mama auf einer Wolke.“

Irgendwann sagte Gesine Schwarz ihrem Luca, dass Papa nicht mehr anruft, dass er gestorben ist, weil er schwer krank war. „Aber er verdrängte es, verschloss sich, ich wusste mir keinen Rat.“ Schließlich fand sie über eine Psychologin zur Kindertrauergruppe. Heute weiß sie, das war richtig. Luca spricht jetzt darüber, ist wieder fröhlich und erinnert sich gern an die Stunden mit Papa. „Am liebsten habe ich mit ihm gekocht, Buchstabennudeln.“ Luca wird ruhiger: „Das fehlt mir.“ Aber auch von Spaziergängen, vom Toben auf Spielplätzen, Fußballspielen und Eisessen erzählt der Siebenjährige. Nur einmal, erinnert sich Luca und zieht seine Stirn in Falten, habe er sich über Papa geärgert. „Er ist mit mir ohne zu schauen auf die Straße. Fast wären wir angefahren worden.“

Dann wird er wieder nachdenklich und bittet seine Mama, dass sie in den nächsten Schulferien mit ihm an Papas Grab fährt. „Bitte, bitte, Mama.“ Das Problem: Das Grab ist auf einem Friedhof in der Nähe von Neapel. „Dorthin zu reisen kostet viel Geld“, sagt Gesine Schwarz. Aber sie werde alles versuchen – für ihren Sohn und für sich. Schon jetzt hätten beide begonnen, die Plätze zu besuchen, an denen Luca mit Papa war. Es sei Zeit dafür. „So arbeiten wir Vergangenes auf“, sagt Schwarz.

„Auch wenn Luca in der Schule gut ist, so ist er jetzt manchmal richtig frech“, sagt seine Mutter. Aber auch das bekommen beide in den Griff. Und anstelle der täglichen Telefonstunde gibt es nun Momente in der Trauerecke, die Mutter und Sohn für Papa und den verstorbenen Opa eingerichtet haben. Ein neues Ritual für Luca.

*Name von der Redaktion geändert.