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West lobt Ost

Der Stuttgarter Regierungschef Kretschmann besucht Sachsen. Er spricht von einer „Tüchtigkeitsgesellschaft“.

Von Thilo Alexe
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Michael Kretschmer (l.) gemeinsam mit seiner Ehefrau, mit Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dessen Frau vor der Frauenkirche in Dresden.
Michael Kretschmer (l.) gemeinsam mit seiner Ehefrau, mit Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dessen Frau vor der Frauenkirche in Dresden. © Ronald Bonß

Die schnellen Schnitte im Videoclip sezieren Zeitgeschichte im Sekundentakt: Zu sehen sind das marode Dresdner Schloss, das Logo der Zigarettenmarke West, wilde Jeans, Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und die Baustelle der Frauenkirche. „So war das“, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der mit eine Rede den Festakt zu 30 Jahren Freistaat eröffnet. 114 Milliarden Euro seien seit 1990 im Zuge innerdeutscher Finanzströme nach Sachsen geflossen. Für den Wiederaufbau - „oder dafür, das Erbe von 40 Jahren Sozialismus zu beseitigen. Wir wollen keine solchen Experimente mehr.“

Solche Töne, die Kretschmer gleich zu Beginn seiner Rede am Donnerstagabend anschlägt, gehörten in den 1990er-Jahren zum rhetorischen CDU-Standard. Mittlerweile sind sie seltener zu hören. „Ein Volk“ sei man, betont der Regierungschef.

Für Sachsen komme noch das Glück dazu, Baden-Württemberg als Partnerland zu haben. Hätte Bremen beim Umbau von Verwaltung und Schulsystemen geholfen, stichelt Kretschmer, läge man nun auf dem Bildungsniveau von Mexiko. So sei es nun das des besser platzierten Finnlands.

Lieblingsphilosophin Hannah Arendt

„Die Gewinner der Einheit“, analysiert der CDU-Politiker mit bemerkenswerter Offenheit gegenüber den Gebern, „die leben hier in diesem Teil Deutschlands“. Später wird er gefragt, ob das diejenigen, die sich in Sachsen nicht als Gewinner fühlen, reize? Kretschmer weist das von sich. Nach wie vor spüre er Aufbruch, jetzt eben in der Forschung zu Krebs oder künstlicher Intelligenz: „Wir haben noch viel vor.“ Beim Thema Wissenschaft etwa strebe Sachsen das Niveau von Baden-Württemberg an.

Winfried Kretschmann dürfte das gern gehört haben. Der Stuttgarter Regierungschef ist Gast des Empfangs im Innenhof des tipp-topp sanierten Dresdner Schlosses, das auch das Grüne Gewölbe beherbergt. „Der erste grüne Ministerpräsident fühlt sich da natürlich wohl drin“, kalauert Kretschmann. Er streichelt verbal die „Tüchtigkeitsgesellschaft“ der Sachsen und wechselt rasch zur Lieblingsphilosophin Hannah Arendt, die er gern in Reden zitiert: „Von wem, wenn nicht von der Politik, dürfen wir Wunder erwarten?“

Kunstsammlungen-Chefin Marion Ackermann zeigt den beiden Ministerpräsidenten Ministerpraesident das Grüne Gewölbe
Kunstsammlungen-Chefin Marion Ackermann zeigt den beiden Ministerpräsidenten Ministerpraesident das Grüne Gewölbe © Ronald Bonß

Wenn sich Menschen um Ideen versammelten, interpretiert Kretschmann, dann sei vieles möglich: „Mit allem hat die SED gerechnet. Aber nicht damit, dass Menschen mit Kerzen aus Kirchen kommen.“ Und dann gibt es noch ein Lob des Grünen für CDU-Mann Kretschmer. Es „hat uns sehr beeindruckt“, wie Kretschmer im Wahlkampf das direkte Gespräch gesucht habe. „Auch wenn es nicht immer vergnügungssteuerpflichtig war“, wie Kretschmann hinterherschiebt und damit indirekt auf das mancherorts aufgeheizte gesellschaftliche Klima anspielt.

„Man spürt hier immer noch den Sound des Aufbruchs“, sagt der Grüne am Freitag zum Abschluss der Reise, die ihn zuvor nach Bautzen geführt hat. Sachsen sei ein Land, das sich „nach der Decke strecken müsse“. In Baden-Württemberg stehe Ähnliches an mit der Transformation der Automobilindustrie. Probleme wie in Ostsachsen, wo mancherorts praktisch eine ganze Generation junger Frauen abgewandert sei, habe der Südwesten in dieser Schärfe nicht. Kooperieren will man bei der Frage des ländlichen Raums dennoch. Geklärt werden soll etwa, wie Ärzte dort gebunden werden können.

Beim Besuch in Bautzen.
Beim Besuch in Bautzen. ©  dpa/Robert Michael

Die Reise sollte auch, wie es von der Staatskanzlei heißt, Aufbauhelfer aus dem Partnerland in den Fokus rücken. Geladen waren zum Empfang einige, darunter Dietrich Gökelmann. Der langjährige Präsident der Landesdirektion kam als junger Mann nach Dresden. In Schwaben hatte er unter anderem im Büro des damaligen Regierungschefs Lother Späth (CDU) gearbeitet. In Sachsen begann er im Umweltministerium.

Bereut habe er den Wechsel nie, sagt er, was auch daran liegen dürfte, dass er eine Sächsin heiratete. Gökelmann ist mittlerweile im Ruhestand. Mit Blick auf die Anfangsjahre erinnert er sich an rasche Entscheidungen und einen Aufbaugeist. Waren zehn Prozent der Entscheidungen umstritten, sei man dennoch für die anderen 90 Prozent gelobt worden. Heute werde man bereits für ein problematisches Votum kritisiert. Gökelmann sagt, er habe nie gefragt, was nicht geht - sondern nur geprüft, was er nicht nutzt. Das sei in Dresden anfangs die Tennishalle gewesen. Doch vom fehlenden Tennisspiel wollte er seine Entscheidung für Sachsen nicht abhängig machen - und blieb.