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Tiefschlag nach der Wende

Anfang der 1990er hatte die Stadt kein Geld mehr für das Klinikum. Das bekam auch Iris Pohl zu spüren.

Von Maria Fricke
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Iris Pohl ist eine der langjährigen Mitarbeiterinnen am Klinikum Döbeln. 1981 kam sie das erste Mal in das Krankenhaus, seit 1984 ist sie im Labor tätig. Mehrere Eigentümerwechsel hat die 58-Jährige miterlebt.
Iris Pohl ist eine der langjährigen Mitarbeiterinnen am Klinikum Döbeln. 1981 kam sie das erste Mal in das Krankenhaus, seit 1984 ist sie im Labor tätig. Mehrere Eigentümerwechsel hat die 58-Jährige miterlebt. © Dietmar Thomas

Ein lautes Wummern. Ohne Pause. Den ganzen Tag. Der Lärm gehört dazu im Labor des Klinikums Döbeln. „Dass es hier laut ist, sagt jeder“, so Iris Pohl. Seit 2004 ist sie die Chefin in diesen Räumen.

Als die Döbelnerin 1981 das erste Mal ins Haus kam, war das noch Zukunftsmusik. Damals haben die Labormitarbeiter die Mischungen zum Testen von Substanzen noch selbst angerührt oder in der Apotheke mischen lassen. Zellen hat das Team einst einzeln unter dem Mikroskop ausgezählt. Inzwischen undenkbar bei mehr als 12 000 Patienten pro Jahr. 

„Heute geht ohne EDV im Labor nichts mehr. Es ist alles vernetzt. Alles funktioniert mit Barcodes“, beschreibt die 58-Jährige. Sie liebt ihren Job, nach wie vor. Trotz Rufbereitschaft, Nacht- und Wochenenddiensten.

Schon Pohls Mutter hat als Krankenschwester in dem Haus gearbeitet. Über sie lernte die junge Frau das Labor, das seit 1922/23 zum Haus gehörte, kennen. „Bei den Kollegen dort hat es mir immer gefallen“, berichtet sie. Auch Chemie habe sie in der Schule immer gern gehabt. In der neunten Klasse hospitierte Pohl im Labor.

 Nach der zehnten Klasse begann sie an der damaligen Karl-Marx-Universität in Leipzig ein Fachschulstudium zur medizinisch-technischen Laborassistentin. 1984 kehrte Pohl zurück ins Klinikum, zuvor arbeitet die Döbelnerin einige Zeit in der Poliklinik an der Mastener Straße. 

Im selben Jahr stellte ihr Bruder einen Ausreiseantrag und wird aus der DDR ausgewiesen. Die Familie geriet ins Visier der Stasi. „Briefe von mir und meinem Mann wurden geöffnet, mein Mann aus der Armee entlassen. Das war eine sehr emotionale Zeit“, erzählt Pohl.

Die Stimmung wurde schlechter. „Es ging immer mehr kontra gegen alles.“ Es sei ein Grummeln durch das Haus an der Sörmitzer Straße gegangen, in dem seit 1881 Patienten behandelt werden. Immer öfter habe es Hiobsbotschaften gegeben. Einige Ärzte hätten Ausreiseanträge gestellt, manche hätten die Klinik wirklich verlassen.

 „Es war ein komisches Arbeiten. Man hat nicht gewusst, wem im Haus man trauen kann.“ Nach ihrer zweiten Elternzeit, 1985 wurde Pohl noch einmal Mutter, kehrte sie Mitte 1986 zurück in die Klinik.

 In jener Zeit wurde die ehemalige Intensivstation im Steinhaus zu einer Gynäkologischen Abteilung mit 25 Betten umgebaut, 1986 die chirurgisch-urologische Männerstation eingerichtet, so der Döbelner Heimatfreund Hans Friedrich Seidel in seinem Beitrag 120 Jahre Döbelner Stadtkrankenhaus. 

Neben der täglichen Arbeit drehten sich die Gespräche im Labor des Klinikums auch um Politik. „Wir haben manchmal politisch diskutiert, auch, um zu provozieren. Über die Folgen haben wir uns dabei keine Gedanken gemacht. Ich würde sagen, 85 Prozent der Leute im Team waren auch nicht linientreu.“

Als im September 1989 die Grenze zwischen Österreich und Ungarn geöffnet wurde, wirkte das bis nach Döbeln. „Es verschwanden immer mal Kollegen aus dem Haus. Sie kamen aus dem Urlaub nicht wieder“, berichtet die Laborchefin. Selbst zu den Montagsdemos nach Leipzig zu fahren, dazu habe sie keine Courage gehabt.

 „Mit dem Trabi war das eine Weltreise, noch dazu mit zwei kleinen Kindern“, begründet Iris Pohl. Doch in Döbeln war die Familie mit dabei. Auch beim Fürbitt-Gottesdienst in der Nicolaikirche, „Die Leute waren unheimlich aufgebracht“, schildert sie. Die Politiker hätten sich einen verbalen Schlagabtausch mit den Bürgern geleistet.

Am Tag der Maueröffnung habe Pohl Rufbereitschaft gehabt. Ein Telefon hatte die Familie damals noch nicht. Im Notfall kam der Fahrer sie abholen. Mit Tränen in den Augen habe sie sich die Berichte im Westfernsehen auf RTL angeschaut, wie Eltern kleine Kinder über den Stacheldrahtzaun gehoben haben. 

„Die Kinder einer solchen Gefahr auszusetzen, das war es mir nicht wert“, sagt Pohl. Auch ihren Mann kann sie von dem Gedanken, sofort abzuhauen, abbringen. „Ich hatte ja Dienst. Ich konnte doch nicht einfach gehen“, so Pohl. Am nächsten Tag sei die Maueröffnung das Thema auf Arbeit gewesen. 

Viele hätten Angst gehabt, dass die Grenze wieder geschlossen werde. „Keiner wollte plötzlich mehr etwas mit der Partei zu tun haben. Aus den Wartezimmern verschwanden die Parteizeitungen“, schildert Pohl. Doch das Ungewisse blieb.

An ihrem Arbeitsplatz änderte sich zunächst nichts. 1990 übernahm die Stadt Döbeln das Klinikum. Anfang der 90er Jahre „trauten sich die ersten Vertreter aus dem Westen in den Osten“, so Pohl. Sie brachten Schnelltests mit, die ein Untersuchungsergebnis bereits nach dem Drauftröpfeln anzeigen. 

„Es war auch Mist dabei, aber das haben wir erst später gemerkt.“ Dann wurde es mit einem mal brenzlig. „Die Stadt wurde zahlungsunfähig. Wir bekamen ein halbes Jahr lang kein Geld“, so die zweifache Mutter. Die Familie hatte ein eigenes Haus und nichts auf der Kante liegen. Auch ihre Mutter war damals betroffen. „Da habe ich das erste Mal in meinem Leben wirklich überlegt: Was ist wichtig, was muss ich einkaufen. Als Mutter habe ich damals nur funktioniert.“

Erst mit der Übernahme des Klinikums durch Dr. Karl-Heinz Drogula zum 1. Januar 1993 kam alles wieder in „geordnete Bahnen“. Der neue Eigentümer investierte viel in den Ausbau des Hauses, es wurde eine neue Innere Abteilung in Containern angelegt. Es gab einen Hubschrauberlandeplatz. 

Doch Drogula habe nur wenig Interesse für das Labor gehabt. Zum Glück habe der Chef der neu entstandenen internistischen Abteilung mehr Beziehungen zu diesem Klinikbereich gehabt. „Er fand unsere Chefin charmant und war oft bei uns im Labor“, erzählt Iris Pohl. Der Mediziner setzte sich schlussendlich dafür ein, dass die Frauen ihren ersten Blutbildautomaten bekamen.

 „Die Patientenzahlen stiegen, damit auch die Zahl der Untersuchungen. Mit den alten Techniken war das auch nicht mehr zu schaffen“, meint Pohl. Vor dem ersten Computer im Labor hatte das Team zunächst Berührungsängste. „Es hatte ja keiner eine Ahnung davon. Das junge Semester hatte das Weite gesucht. Das ältere Personal war überwältigt von der Technik.“ Mit den neuen Arbeitsmitteln änderte sich auch der Arbeitsalltag. „Es ist leichter geworden, wir haben mehr geschafft.“

Nach und nach gingen Pohls Kolleginnen in den Ruhestand, 1997 schließlich auch ihre Chefin. Sieben Jahre später übernahm Pohl das Laborteam, welches bis dahin noch in den Räumen des heutigen Wartezimmers der Notaufnahme untergebracht war. Mit dem neuen Klinikchef, Dr. Ralf Lange, hat das Labor Glück. 

Auch er spricht sich für die hausinterne Variante aus und investiert in neue Räume. 2010 zog das Team in die dritte Etage hoch, das Labor wurde mit neuer Technik ausgestattet. Das Ende eines langen Kampfes: „Unsere alten Automaten haben das Pensum nicht mehr geschafft“, sagt Pohl. Sie ist froh, dass das Klinikum Döbeln am eigenen Labor festgehalten hat, entgegen dem Trend Mitte der 90er Jahre.

In dieser Zeit seien viele Einrichtungen aus den Kliniken ausgelagert und in GmbHs überführt worden. Diese übernahmen die Aufträge für die Krankenhäuser. Betroffen war unter anderem auch das Labor am Krankenhaus Leisnig. Mitarbeiter wurden entlassen. „Einige sind dann zu uns gekommen“, sagt Iris Pohl. 

Die Mitarbeiterzahl wurde auf acht aufgestockt. Aktuell sind zehn Kollegen im Labor tätig, rund um die Uhr. Sie führen Verträglichkeitsproben bei Blutkonserven durch, bestimmten Blutbilder, sichern alle labortechnischen Voraussetzungen für OPs sowie Endoskopien ab.

Iris Pohl ist froh, nach dem Mauerfall in ihrer Heimat geblieben zu sein. „Wir haben uns bewusst für hier entschieden. Unsere Eltern leben hier, unsere Freunde. Wir haben uns hier etwas geschaffen.“ Ost und West spiele in ihrem Denken kaum eine Rolle.

 „Dafür sind wir zu sehr verwachsen, auch in der Familie. Mein Bruder lebt in Nordrhein-Westfalen. Er ist dortgeblieben.“ Sich selbst sieht die 58-Jährige eher als Deutsche. „Ich poche nicht auf das Ostdeutsche. Wenn, dann poche ich darauf, dass ich aus Sachsen bin.“