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Unser Paradies

Hier ist alles selbst gemacht: das Haus, die Orgeln und manchmal die Musik. Ihr spätes Glück teilen Heidrun Halx und Siegfried Creuz gern mit ihren Gästen.

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© Ronald Bonß

Von Karin Großmann

Eine Orgel gehört zu Weihnachten wie Rotkraut zur Gans. Sonst würde was fehlen. In der kleinen Kapelle von Nentmannsdorf stehen sogar vier dieser luftigen Instrumente. Die Kapelle, die Instrumente und die Musik: Alles ist selbst erdacht und verfertigt. „Ohne dich wäre es nie so gekommen“, sagt der Mann zu der Frau, die neben ihm auf dem Bänkchen sitzt. Er lächelt sie an. Sie lächelt ihn an. Der leuchtende Augenblick dauert. Sie ist 69, er 76. Sie haben viel Zeit miteinander versäumt und nicht mehr unendlich viel Zeit, um Versäumtes nachzuholen. Das ist so, sagt sie, ja. Es war halt ein anderes Leben. Das Haar ist darüber grau geworden bei beiden. Es ist die Geschichte einer frühen und späten Liebe.

Verloren und wiedergefunden: Heidrun Halx und Siegfried Creuz sitzen in der geliebten Landhausmode in ihrer kleinen Kapelle in Nentmannsdorf.
Verloren und wiedergefunden: Heidrun Halx und Siegfried Creuz sitzen in der geliebten Landhausmode in ihrer kleinen Kapelle in Nentmannsdorf. © Ronald Bonß

Heidrun Halx und Siegfried Creuz kannten sich schon, als sie jung waren. Auf den hellen Ecksteinen der Kapelle unter dem Dachvorsprung stehen ihre Familiennamen. Das ist nun für immer. Hinter der Kapelle schlenkert eine Lärche die Zweige im Wind. Dann beginnt gleich der Raps. Wäre es nach dem Vater gegangen, wäre Creuz Bauer geworden. Nach Abschluss der Schule ging er hinterm Pflug durch die Furchen. Einen Lohn sah er nie. Die Aufnahmeprüfung an der Landwirtschaftsschule verpatzte der junge Mann absichtsvoll. Schon als Kind hatte er ständig gebastelt, hatte aus Zinkblech ein Dampfschiff zusammengelötet, richtig echt und mit Motor, erzählt er stolz. Sein Traumberuf war Kraftfahrzeugschlosser. Den erlernte er dann. Sonst wäre alles anders gekommen. Sie lernte mit neun Klavier spielen. Sonst wäre alles anders gekommen, vielleicht.

Nentmannsdorf gehört zur Gemeinde Bahretal, es ist ein kleiner Ort hinter Pirna mit Feuerwehr, Kita und Hofmuseum. Eine Kirche gibt es nicht. Die gelb gestrichene Kapelle mit dem Adventsstern im Dachreiter steht am Hang hinter dem Haus von Siegfried Creuz. Früher wuchs dort ein Apfelbaum. Die Kapelle hat Platz für ungefähr sechzig Gäste. Das Licht fällt durch schmale Rundbogenfenster zu beiden Seiten. Die blauen Ledersessel standen in den Fünfzigerjahren im Sanatorium von Bad Gottleuba und später in einem Gasthof. Der Schaumstoff in den Sitzen bröckelt. Creuz kehrt immer mal durch.

Die Autowerkstatt, in der er später arbeitete, lag in Pirna auf dem Weg zum Bahnhof. Wenn Heidrun Halx nach Dresden zum Musikstudium fuhr, kam sie daran vorbei. Es ergab sich, dass Siegfried Creuz immer dann nach dem Wetter sehen musste. Einmal fasste er sich ein Herz und sprach sie an. „Er hat mir gleich gefallen“, sagt sie. Sie fuhren zusammen mit dem Wohnwagen in die Tatra. „Meine Güte, was waren wir beide brav“, sagt Heidrun Halx, und über ihr rundliches, feines Gesicht zieht ein Lachen. Sie lacht gern. Sie ist gewiss die warmherzigste Frau weit und breit. Da hat er Glück, der Mann mit dem Vollbart und dem kurzen Haar, auch wenn er die Wirbel darin für ein problematisches Zeichen hält. Da hat sie Glück; die Probleme sind Müll von gestern. „Was man so mit sich rumschleppt“, sagt er.

Beide tragen blau-weiß-karierte Hemden. Ihres hat eine Rüsche vorn, seines ein Edelweiß eingestickt. Dazu passen die Lederhosen mit ordentlich Hosenträgern, Weste, Janker und Stricksocken. Heidrun Halx und Siegfried Creuz mögen die Landhausmode. Es ist ihre Berufskleidung. Allein in der Vorweihnachtszeit geben sie in ihrer Kapelle ein gutes Dutzend Konzerte, von zehn Besuchern an aufwärts. Sie spielt und singt, er eilt von links nach rechts, zieht die Register und blättert die Noten um.

Lederhosen sind praktisch. „Mit Rock könnte ich die Füße nicht sehen beim Spielen“, sagt Heidrun Halx. Orgelspiel ist Hochleistungssport und kann ein Orchester ersetzen samt Flöte, Gämshorn und Glockenbimmeln. Die viel gerühmte Königin der Instrumente muss erst mal in Gang gebracht werden. Sauerkrauttreten geht einfacher.

Die Orgel auf der Empore in Nentmannsdorf besitzt mehr Pfeifen als etwa die berühmte Silbermannorgel im großen Kirchbau von Reinhardtsgrimma. Das spricht nicht gegen Silbermann. Es spricht für Creuz. Er hat sie gebaut. Er kennt so gut wie jede Pfeife in Sachsen. Das ist nicht bildlich gemeint. Ein paar von den anderen kennt er freilich auch. Das deutet er an, wenn er auf unsachgemäße oder teure Orgelreparaturen zu reden kommt. Er konnte das besser, damals. Im Rückblick schnurren die Jahre zusammen, bis auf eine Zahl: 1972. Zwei Lebenswege trennten sich wieder. Heidrun Halx weiß den Satz noch genau, den Siegfried Creuz beim Abschied sagte: „Irgendwann kommen wir zusammen.“ Es vergingen fast dreißig Jahre.

Heidrun Halx erzählt, wie sie als Sopranistin in Berlin auf der Bühne der Staatsoper stand neben Künstlern wie Peter Schreier und Theo Adam und wie sie der Regisseur Joachim Herz bei einem dieser Gastspiele vom Fleck weg nach Leipzig holte. In seiner legendären „Ring“-Inszenierung war sie eine der Rheintöchter, war das Blondchen in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ und Adele in der „Fledermaus“, gastierte mit „Xerxes“ in fast jedem europäischen Land und sang noch mit knapp fünfzig die Gretel in Humperdincks Märchenoper. Insgesamt mögen fast siebzig Inszenierungen zusammenkommen. Eine Bilderbuchkarriere. „Ja“, sagt Heidrun Halx. „So war das. Und schon mit dreiunddreißig bekam ich den Titel Kammersängerin.“

Siegfried Creuz grinst. „Jetzt brauchst du nicht mehr in die Kammer zu gehen zum Singen, jetzt kannst du in der Kapelle singen.“ Eine getigerte Katze schleicht in großem Bogen darum herum. Sie hasst Orgelmusik. Die Katze ist noch neu in der Familie. Das könnte die Abneigung erklären. Ein Ausnahmefall. Zuhörer kommen busladungsweise, manche feiern hier Klassentreffen, Geburtstag, Silberne Hochzeit. Anruf genügt. Seit einigen Jahren kommt die Standesbeamtin von Bad Gottleuba zu Trauungen her. Dann spielt Heidrun Halx den „Brautzug“ aus Wagners „Lohengrin“. Kirchlich geweiht ist die Kapelle nicht.

Am Telefon meldet ein Mann den Besuch ehemaliger Studenten von der Dresdner Verkehrshochschule für September an. Heidrun Halx schreibt den Termin mit Bleistift in den Kalender. Nein, Eintritt kostet es nicht. Wer mag, kann was spenden. Bei den Konzerten singt und musiziert Heidrun Halx an allen vier Orgeln. In jede hat Creuz eine besondere Mechanik gebaut. Bei der kleinsten lässt sich die Tastatur verschieben. Plötzlich klingt es wie Mozartzeit. Der Motor fürs Gebläse steckt unter der Sitzbank. Das hätte Mozart gewundert.

Während die Sängerin die Bühne eroberte, erwarb der Techniker das Patent für einen Drehkolbenmotor. Er erfand eine spezielle Bremse für Wohnwagen. Als in seiner Kirchgemeinde die Orgel restauriert wurde, half er mit. Viele Wochen lang kroch er nach der Arbeit zwischen Pfeifen und Hölzern herum. Creuz wusste nun, wie das Instrument funktioniert – und baute sich selber eines in der Garage hinter dem Haus, später noch eins und so weiter bis Opus acht. „Wir haben ja in der DDR viel selber gemacht, das war billiger und meistens besser als das, was es zu kaufen gab.“ Er verbaute Heizschläuche und Scheibenwischer vom Trabant, auch die Lichtschalter von Nachttischlampen und Lkws. Er war der Einzige, sagt er, der ausgediente alte Pfeifen zum Klingen brachte.

Die Garagenkonzerte von Nentmannsdorf waren weit über die Region hinaus berühmt. Zwischen 1978 und 1989 zogen sie viermal im Jahr Gäste an, manchmal kamen über hundert. Die Orgel steht heute noch dort. Aus den Restbrettern baut Siegfried Creuz Nistkästen. Irgendwas baut er immer. Eigenhändig verfertigte Bilder hängen im Hausflur. Manche von ihm gemalt, andere von ihr.

Creuz war inzwischen als Orgelbauer bei der Evangelischen Landeskirche Sachsens beschäftigt; über hundert Instrumente hat er repariert, intoniert oder restauriert. Das ging gut bis zum Wendeherbst. Kurz vorm gerade noch kündbaren fünfzehnten Dienstjahr wurde der Fachmann entlassen. Er stürzte in die Arbeitslosigkeit. Seine Frau starb an Krebs. Eines Tages sägte er den Apfelbaum um und begann, für die Kapelle zu graben. Arbeit schien das einzige Heilmittel zu sein. Nein. Es gab noch eines. „Alles Schlechte kann sich zum Guten wandeln“, sagt Siegfried Creuz.

Es war am 12. 12. 2000 kurz vor 12 Uhr, als bei Heidrun Halx, seit einem Jahr Witwe, in Leipzig das Telefon klingelte. „Obwohl wir in der DDR nie miteinander telefoniert hatten, hab ich die Stimme gleich erkannt“, sagt sie. Siegfried Creuz hatte bei einem Auftritt seines Chores in Leipzig ins Telefonbuch geschaut. „Wer weiß, wenn sie ihren Namen geändert hätte oder weggezogen wäre, ich hätte sie nie gefunden.“

Er sieht sie an, als hätte sich das Wunder grad erst ereignet, als könnte er es noch immer nicht fassen. Sein Abschiedssatz, sagt sie, war sofort wieder da. Irgendwann kommen wir zusammen. Seitdem rufen sie sich an jedem 12.12. kurz vor 12 an. Von Zimmer zu Zimmer. 2003 zog die Sängerin in Nentmannsdorf ein und brachte auch den Flügel mit, den der Kfz-Schlosser beschafft hatte, damals, als sie jung waren.

Sie zieht die Bergschuhe aus und blaue Noppensocken an. Die Orgel in der Ecke ist dran. Heidrun Halx spielt einen beschwingten Walzer, selbst komponiert. Jeden Monat schreibt sie ein neues Stück. Der Wechsel vom Klavier zur Orgel, sagt sie, hat eine Weile gedauert. Das Instrument ist nicht groß, doch der Klang unerhört. Siegfried Creuz erklärt, wie zwei Pfeifen zugleich einen tiefen Ton erzeugen können. Für eine andere Orgel hat er Kanäle in die Pfeifenstöcke gefräst. Da saust der Wind durch und nicht durch Schläuche wie sonst. Das schafft Platz für noch mehr Pfeifen. Der Klang, sagt Creuz, hält dreißig, vierzig Jahre, ohne dass nachjustiert werden muss.

Er hat die Kapelle entworfen und mit dran gebaut. Für die Kosten von rund 85 000 Euro ging alles Ersparte drauf, auch die Versicherung. Starorganist Matthias Eisenberg spielte zur Einweihung im Juni 2009. Als Matthias Grünert, Kantor der Dresdner Frauenkirche, in diesem Sommer bei seinem Orgelmarathon durch die Sächsische Schweiz tourte, spielte er auch auf den vier Orgeln von Nentmannsdorf. „Unser Paradies“, sagt Heidrun Halx lächelnd.

Der Weihnachtsbaum in der Kapelle steht geschmückt mit Klöppelengeln und Faltsternen, Geschenke der Gäste. Heidrun Halx und Siegfried Creuz feiern in der Kapelle Bescherung, vielleicht mit ihren Söhnen und seinen Söhnen. Außerdem feiern sie einen Geburtstag. Heute, am Heiligen Abend, wird Siegfried Creuz 77 Jahre alt.