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Familienkompass

„Wir sagen einfach Oma zu ihr“

Einkaufen, Arzttermine, Überstunden, Behördengänge: Auch bestens organisierte Eltern stoßen im Alltag an Grenzen. Familienpaten können helfen.

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Als Familienpatin unterstützt Regina Hofmann (66) Sara und Robert Lommatzsch aus Burkhardtsdorf.
Als Familienpatin unterstützt Regina Hofmann (66) Sara und Robert Lommatzsch aus Burkhardtsdorf. © Uwe Mann

Von Frank Hommel

Sie hatte in der Zeitung geblättert, wie man eben so darin liest. Diesmal waren die Sätze in ihrem Kopf hängen geblieben, drängen sich immer wieder in ihr Bewusstsein. Senioren werden gesucht, stand da geschrieben, die junge Familien unterstützen, ihnen unter die Arme greifen, sich um die Kinder kümmern. 

Je länger Regina Hofmann darüber nachdachte, umso mehr konnte sie sich das vorstellen. Sie hatte zwar zwei Enkel, durfte aber nicht so Oma sein, wie sie sich das gewünscht hätte. Darüber war sie lange traurig. War das nun die Gelegenheit? Ihr Mann zeigte sich skeptisch: Was, wenn am Ende eine neuerliche Verletzung auf sie wartete? Doch Regina Hofmann griff zum Telefon. Die 66-Jährige hat es nicht bereut: „Das hat meine Seele heil gemacht.“

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Regina Hofmann aus dem erzgebirgischen Thalheim ist eine von zahlreichen Familienpaten in Sachsen. „Die ehrenamtlichen Paten entlasten Familien mit Kleinkindern im Alltag“, beschreibt das Sächsische Sozialministerium die Idee. Die Vermittlung übernehmen jeweils damit beauftragte soziale Träger. 

Der Freistaat stellt für das Programm in diesem Jahr unter anderem über die Bundesstiftung Frühe Hilfen 200.000 Euro zur Verfügung, weitere Gelder kommen direkt von den Landkreisen. In neun von 13 Landkreisen und Kreisfreien Städten im Freistaat – etwa dem Erzgebirgskreis, den Landkreisen Meißen, Bautzen, Mittelsachsen, Zwickau, Leipzig, Nordsachsen sowie den Städten Chemnitz, Dresden und Leipzig existieren derzeit ehrenamtliche Familienpatenschaftsprojekte.

Der Grundgedanke ist so simpel wie genial. Senioren, die keine Enkel haben oder deren Enkel mit ihren Eltern heutzutage oft hunderte Kilometer entfernt leben, unterstützen junge Familien. Der Bedarf wächst. Menschen werden immer mobiler, kehren ihrer Heimat den Rücken, folgen gut bezahlten Jobs in die alten Bundesländer, die Großstädte, die große weite Welt. In der neuen Heimat bauen sie ein neues Leben auf, gründen Familien, während sie ihr altes soziales Umfeld hinter sich lassen. Mit Folgen für beide Seiten. 

Die daheimgebliebenen Eltern bekommen ihre Kinder und später ihre Enkel nur selten zu Gesicht. Die Gefahr, im Alter zu vereinsamen, wächst. Die jungen Familien wiederum müssen meist auf den Erfahrungsschatz der Eltern verzichten. Auch können sie nicht mal eben Oma und Opa einspannen, wenn ihnen der Alltag über den Kopf wächst. Und dass in einer Zeit, in der das Gefühl wächst, dass dieser Alltag zwischen Überstunden und Einkaufen, zwischen Arztterminen und Behördengängen, zwischen Elternabend und Kinderförderungen von den Mamas und Papas immer mehr abverlangt. So auch bei Sara und Robert Lommatzsch aus Burkhardtsdorf bei Chemnitz. 

Im Alltag auf sich gestellt

Es war das Jahr 2006, als sie sich im Kinder- und Jugendzentrum der Heilsarmee in Chemnitz begegneten. Sara begann ein Praktikum, wollte sich orientieren in der Frage, wohin in ihrem Leben. Sie fand ihre Antwort, wusste das anfangs nur noch nicht. Sie trat zu ihr in Form des Hausmeisters. Robert Lommatzsch hieß der – und er hatte einen Traum. „Ich war sicher, dass ich nach Südamerika gehe.“ Eine Bindung würde zu diesem Plan unmöglich passen. „Ich musste ein bisschen um ihn kämpfen“, sagt Sara heute. Hausmeister Robert ließ sich besiegen. Und wenn schon dann richtig. Es dauerte nicht lange, da hieß auch Sara mit Nachnamen Lommatzsch, und bald stellte sich Nachwuchs ein. Auf Sohn Louis, heute 10, folgten Matheo (4) und Raphael (2).

Inzwischen ist die Familie zu sechst. Sie haben zu ihren drei Jungs noch ein Mädchen dazubekommen. Tirza ist erst wenige Wochen alt, sie kuschelt sich in den Kindersitz, schläft tief und fest. Zeit, einmal durchzuatmen. Langweilig wird ihnen nicht. Robert arbeitet als Ausbilder, verlässt das Haus an normalen Tagen sechs Uhr. Bis er zurückkommt, ist es oft fünf Uhr nachmittags, manchmal später. Und dann ist das Haus in Burkhardtsdorf, das ausgebaut wird. „Im Alltag ist Sara weitestgehend auf sich gestellt“, sagt Robert. „Das muss sie ziemlich allein stemmen.“ Hat er deshalb manchmal ein schlechtes Gewissen? „Ja“, räumt er unumwunden ein. Zwar wohnen die Großeltern nicht hunderte Kilometer entfernt, im Alltag sind sie dennoch nicht mal eben so greifbar.

Und so ist es Sara, gelernte Krankenschwester, die sich morgens und nachmittags um den Nachwuchs kümmert. „Das ist sehr herausfordernd“, sagt sie. „Man kann alles planen, aber es kommt immer anders. Die Kinder sind sehr willensstark, und mir ist es wichtig, dass sie Freiraum haben, rausgehen können, ihre Energie ausleben.“ Wie lässt sich all das unter einen Hut bringen? In einer Beratungsstelle Chemnitz erfuhr sie dann davon, dass vielleicht eine ehrenamtliche Patin oder ein ehrenamtlicher Pate der kleinen Großfamilie zumindest einmal in der Woche ein wenig Last von den Schultern nehmen könnte. Ein verlockender Gedanke. Und so griff auch sie zum Telefon.

Bestens integriert

Die Anfrage der kleinen Großfamilie landete bei Simone Markus, Mitarbeiterin der Diakonie Stollberg-Annaberg im Erzgebirge. Wie zuvor bereits die der Seniorin aus Thalheim. Als Projektmanagerin für das Familienpatenprogramm im Raum Stollberg ist es Simone Markus, die dort interessierte Senioren und engagierte Familien miteinander verknüpft. Und so rief Simone Markus schließlich bei Regina Hofmann in Thalheim an. „Ich hätte da vielleicht eine Familie für Sie“, erklärte sie.

An dem Tag, an dem Familie und Seniorin einander kennenlernen sollten, war Regina Hofmann früh dran. Sie kommt nicht gern zu spät. Vorm Haus wartete sie auf die Vermittlerin. Doch Sara Lommatzsch hängte gerade auf der Terasse Wäsche auf. „Sind Sie die Familienpatin?“, fragte sie und bat die Besucherin schon mal herein. Alsbald fand sich Regina Hofmann beim Bücheranschauen mit dem damals zweijährigen Matheo wieder. Das Eis war schneller gebrochen, als ein Erdbeereis schmilzt. Und so blätterte Regina Hofmann die Buchseiten um und vergaß ganz die Dame der Diakonie. Während die draußen vor der Tür auf die Seniorin wartete. Irgendwann erinnerte sich jemand dann doch an sie. Die Diakoniefrau staunte nicht schlecht, als die Seniorin, die sie doch eigentlich vermitteln sollte, schon bestens integriert schien. Und der Kleine war ganz aus dem Häuschen, ganz aufgeregt erzählte er nachher von der tollen Begegnung mit „Oma Gina“.

„Es ist natürlich ideal“, sagt Simone Markus, „dass die Chemie so stimmt“. Freilich sei das nicht immer der Fall, räumt sie ein. Doch Familienpaten bleiben ein knappes Gut. So gut wie jeder Träger hat Bedarf und eine Warteliste.

Froh, noch gebraucht zu werden

Regina Hofmann wird auf einer solchen Liste so schnell nicht mehr auftauchen. Die Patin ist längst Familienmitglied. „Wir sagen einfach Oma zu ihr“, berichtet Sara Lommatzsch. Manchmal auch „Oma Regina“. Die Kinder freuen sich darauf, mit ihr spazieren zu gehen, Enten zu füttern, an der Feuerwehr vorbei zu spazieren, auf den Spielplatz – eben alles, was Kinder gern tun. Steht ein Arztbesuch an, ist sie zur Unterstützung auch mal mit dabei. Dank der Förderung ist sie dabei versichert, Geld aber bekommt sie nicht. Sie will auch keines: „Das gute Gefühl, noch gebraucht zu werden, und der Dank der Familie sind der schönste Lohn.“

Auch ihr Mann hat längst seinen Frieden mit der Sache gemacht. Und während sie das so sagt, sitzen Sara und Robert Lommatzsch auf einem Sofa und strahlen sich an, als wären sie zwei Frischverliebte in einem Palazzo in Venedig. Es ist aber kein Palazzo in Venedig, sondern eine Neubauwohnung in Thalheim. Es ist Regina Hofmanns Wohnung, wo sie sich längst heimisch fühlen. Regina Hofmann passt auf, dass sich das junge Paar auch mal mit sich befassen kann, dass sich die beiden inmitten ihrer großen Kinderschar nicht selbst verlieren. Und der Traum von Südamerika? „Den habe ich erst mal hintangestellt“, sagt Robert Lommatzsch. Er sagt es mit Nachdruck. Es klingt dennoch nicht so, als ob er bald die Geduld verlöre.

Familienpaten werden ständig gesucht. Senioren, die gern mitmachen möchten, und Familien, die einen Paten suchen, wenden sich am besten an Beratungsstellen und Jugendämter im jeweiligen Landkreis. Die geben Auskunft über die jeweiligen Träger. (FP)

Familienkompass 2020

Was ist der Familienkompass? Der Familienkompass ist eine sachsenweite Umfrage von Sächsische.de, LVZ und Freie Presse, wissenschaftlich begleitet von der Evangelischen Hochschule Dresden.

Worum geht es? Wir wollen wissen: Wie kinder- und familienfreundlich sind die einzelnen Gemeinden und Städte im Freistaat? Dafür brauchen wir Ihre Hilfe. Alle Ergebnisse werden wissenschaftlich ausgewertet und nach der Befragungsphase intensiv für unsere Leser aufbereitet.

Wann? Die Befragung findet bis zum 9. April 2020 statt.

Wie kann ich mitmachen? Den Fragebogen finden Sie hier.

Was passiert mit meinen Daten? Die Daten der Befragung werden streng vertraulich behandelt und ohne Personenzuordnung wissenschaftlich ausgewertet. Und als Dankeschön für die Zeit wartet ein tolles Gewinnspiel.