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Wo schon der kleine Lessing den Ausblick genoss

Ruhe, Heimat und Besinnung – das verbindet auch Axel Schneider mit einem besonderen Platz in Kamenz.

Von Ina Förster
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Axel Schneider kommt gern zum Ausguck an der Bank in der Südostecke des Kirchhofs von St. Marien. Von hier aus hat man nicht nur einen tollen Blick, sondern findet zur Ruhe und kann Gedanken schweifen lassen – auch mal mit Pfefferkuchenbier.
Axel Schneider kommt gern zum Ausguck an der Bank in der Südostecke des Kirchhofs von St. Marien. Von hier aus hat man nicht nur einen tollen Blick, sondern findet zur Ruhe und kann Gedanken schweifen lassen – auch mal mit Pfefferkuchenbier. © René Plaul

Kamenz. Oft hatte Axel Schneiders Mutter Helga ihrem Sohn vom „Ausguck“ erzählt. „Ich bin quasi damit erwachsen geworden. Ich wusste, dass es den schönen Platz auf dem Friedhof bei St. Marien gibt. Dass man auf der Steinbank wunderbar abschalten kann“, erzählt der 44-Jährige. Doch erst vor ein paar Jahren verschlug es den Kamenzer erstmals dahin. „Meine Mutter zog aus Kamenz weg und wollte ein letztes Mal hinspazieren. Da habe ich sie begleitet. Ich war sofort fasziniert von der kleinen, besonderen Ecke. Vom Flair vor Ort. Und ich wusste: Das wird auch mein Lieblingsplatz!“

Die Ruhe und Abgeschiedenheit, der tolle Blick, der Axel Schneider fasziniert, wenn er hier oben sitzt, soll wohl auch schon den kleinen Gotthold Ephraim Lessing begeistert haben. So jedenfalls erzählt es immer wieder die Legende. Eines ist Fakt: Zum unmittelbaren Umfeld des Dichters gehörte einst die Hauptkirche St. Marien. Die Bank in der Südostecke des Kirchhofs soll sein Lieblingsplatz gewesen sein. Noch immer gewährt die erhöhte Stelle einen weiten Blick auf die Ausläufer des Westlausitzer Berglands. Während im Lessinggässchen ein paar Meter weiter an das bei einem Stadtbrand zerstörte Haus, in dem er am 22. Januar 1729 geboren wurde, nur noch eine Gedenktafel erinnert, ist das Gasthaus Goldner Hirsch am Markt, wo Eltern und Paten seine Taufe feierten, bis heute bewirtschaftet. Es gibt ein Lessingmuseum, eine nach ihm benannte Bibliothek. Die Kamenzer Lessingtage sind weithin bekannt. Und in der spätgotischen St. Marienkirche hatte Lessing nicht nur die Taufe empfangen. Sonntag für Sonntag nahm er auch die Worte des leicht aufbrausenden Vaters entgegen, der hier fünfzig Jahre lang den Kamenzern Anstand und Moral predigte. Mit zwölf Jahren schon verließ der junge Gotthold Ephraim jedoch die Stadt Richtung St. Afra in Meißen. Und kam nicht mehr zurück. Nur noch für sporadische Kurzbesuche. Trotzdem ist Kamenz Lessingstadt und lebt dies auch in vielen Momenten.

Geschichte zum Draufsetzen

Zu Stadtführungen des Museums, kommen vor allem Schulklassen heute immer gern noch an seinen Lieblingsplatz. Und schauen dann ein klein bisschen ergriffen ins Herrental hinunter, während sie sich vorstellen, dass der kleine Lessing hier vielleicht seine ersten Gedichte schrieb. „Das ist Geschichte zum Anfassen oder besser gesagt – zum Draufsetzen“, sagt Axel Schneider. Der 44-Jährige kommt wirklich oft hierher an die steinerne Bank mit den hölzernen Brettern darauf. Eine knorrige uralte Akazie spendet Schatten und schirmt das romantische Areal ab.

Es vergeht kaum eine Woche, dass er nicht vorbeischaut. Wenn er Muße hat, bringt er sich ein kleines Pfefferkuchenbier mit. Selbiges hat er gemeinsam mit Freund und Pfefferküchler Jens Förster sowie Tobias Frenzel von „Frenzel-Bräu“ aus Bautzen auf den Markt gebracht. Die kleine Brauerei produziert das seltene Bier seit letztem Herbst. Aber Bier auf einem Friedhof? „Man hat dort ja nie das Gefühl, unweit eines Friedhofes zu sein. Dann würde sich das Biertrinken auch von vornherein ausschließen“, sagt er. „Dor Ausgugg“, wie er ihn scherzhaft in breitem Sächsisch nennt, ist ein abgegrenztes Stückchen Erde, das sowohl Kunstbegeisterten wie Liebespaaren oder Touristen gleichsam gefällt. Der bekennende Bierkenner zelebriert eben zum Feierabend gern ein edles Tröpfchen. Manchmal trifft er sich auch mit seinem Bruder vor Ort, wenn dieser in der alten Heimat weilt. „Dann sind wir zwei Männer, die auf Gegend starren“, lacht er verschmitzt. Oder auf die vielen Eidechsen, die hier in der Grauwacke und im Granit leben. Und sich in den letzten Jahren rasch vermehren. Vieles geht dem Kamenzer hier durch den Kopf. „Ich verbinde mit dieser Stelle zum einen den wunderschönen Blick, den man gut schweifen lassen kann. Eine Sache, die heutzutage viel zu wenig zelebriert wird“, meint Axel Schneider, der mehrmals die Woche zu diesem Zweck auch den Hutberg erklimmt. „Zum anderen denke ich hier oft an meine Mutter, die mittlerweile Hunderte Kilometer weit weg ihr Glück gefunden hat.“ Und dann wäre der Blick ins Herrental hinunter und das Wissen um nicht nur ruhmreiche deutsche Geschichte. Dass es hier einstmals vor Kriegsende eine KZ-Außenstelle gab, lässt den sonst umtriebigen Mann mit sehr viel Schalk im Nacken verstummen.

Man kommt nicht nur einmal

Aber weil es im Leben eben nicht nur um Jux und Tollerei geht, hält Axel Schneider gerade an so einem wundervollen Lieblingsplatz auch sehr gern mal inne. „Ich kann das Plätzchen nur allen ans Herz legen. Wer einmal da war, kommt mit Sicherheit wieder!“

So kann man mitmachen

Kamenz & Umgebung hat viele schöne Ecken: weithin bekannte und auch Geheimtipps. In einer SZ-Serie verraten unsere Leser, wo sie am liebsten verweilen.

Stille Ecke oder belebter Ort: Wollen auch Sie Ihren Lieblingsplatz in Kamenz, Pulsnitz, Königsbrück, Elstra oder irgendwo auf dem Land vorstellen, melden Sie sich unter [email protected].

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