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Warum Gaza heute nicht das Gleiche ist wie Dresden 1945

Der Vergleich beider Ereignisse durch den ehemaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett ist nicht nur gewagt: Er führt auf heikles Terrain - für Israel.

Von Oliver Reinhard
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Die Altstadt von Dresden wurden bei Luftangriffen der Alliierten am 13. und 14. Februar 1945 fast völlig zerstört. Damals waren Zivilisten das Hauptziel der britischen Bomber - anders als heute in Gaza.
Die Altstadt von Dresden wurden bei Luftangriffen der Alliierten am 13. und 14. Februar 1945 fast völlig zerstört. Damals waren Zivilisten das Hauptziel der britischen Bomber - anders als heute in Gaza. © SZ Photo/Sammlung Berliner Verlag

Wo vormals Häuser standen, sieht man nur noch rauchende Trümmer und eine Wüste geborstener Steine, in der Überlebende nach anderen Überlebenden und Toten suchen: Die aktuellen Bilder aus dem Gazastreifen erinnern wie so viele Aufnahmen zerstörter Städte an Fotos von Dresden nach den alliierten Bombardements vom 13. und 14. Februar 1945. Aber gibt es darüber hinaus Analogien zwischen diesen Ereignissen?

Das zumindest behauptet der ehemalige israelische Verteidigungs- und Premierminister Naftali Bennett in einem Interview mit dem britischen Nachrichtensender Sky News. Der konkrete Anlass für Bennetts Äußerungen waren die Fragen von Moderator Kamali Melbourne. Der wollte wissen, wie das israelische Militär sicherstellen könne, dass nicht unschuldige Zivilisten verletzt oder getötet werden, wie es bei den vorausgehenden Terror-Attacken der Hamas der Fall gewesen war.

Terroristen als „Monster“ und „Nazi-Hamas“ bezeichnet

Der sichtlich emotionalisierte Ex-Premier hatte schon zuvor die Terroristen mehrfach als „Monster“ und „Nazi-Hamas“ bezeichnet und reagierte gereizt auf Melbournes Nachhaken: „Fragen Sie mich ernsthaft immer wieder nach palästinensischen Zivilisten?“, so der 51-Jährige. „Was stimmt nicht mit Ihnen? Haben Sie nicht gesehen, was passiert ist?"

"Wir kämpfen gegen Nazis!", fuhr Bennett fort. "Wir werden niemals Zivilisten ins Visier nehmen, wir sind nicht wie diese Nazi-Tiere.“ Dann weitete er seinen Vergleich aus: „Großbritannien hat im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis gekämpft. Damals hat auch niemand gefragt, was in Dresden vor sich geht. Die Nazis hatten London ins Visier genommen, und ihr habt Dresden bombardiert.“

Ziel der israelischen Luftangriffe auf Gaza waren nach den Terror-Attacken der Hamas deren Stellungen in Wohngebieten. Hunderte Zivilisten sind die „Kollateralschäden“.
Ziel der israelischen Luftangriffe auf Gaza waren nach den Terror-Attacken der Hamas deren Stellungen in Wohngebieten. Hunderte Zivilisten sind die „Kollateralschäden“. © AP

"Dresden" ist Symbol für die Schrecken des Bombenkrieges

Dass Bennett die sächsische Landeshauptstadt als Referenzobjekt herbeizieht, ist grundsätzlich nicht überraschend. Schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde „Dresden“ zur zunächst europa-, dann weltweit bekannten Chiffre für die Schrecken des modernen Luftkriegs und dessen gewaltige Tötungskapazität.

Heute gehört die Stadt zu den bekanntesten Symbolorten ihrer Art, zusammen mit Hiroshima, Guernica, Coventry, und aufgrund der singulären Verknüpfung der Vergangenheiten von Deutschland und Israel ist ihr Name den meisten Israelis geläufig. Nur: Ist Naftali Bennetts Gleichsetzung von Dresden mit Gaza-Stadt legitim und faktisch gerechtfertigt – oder unangebracht, vielleicht sogar kontraproduktiv?

Hamas benutzt Frauen und Kinder als Schutzschilde

So sehr sich einige Bilder ähneln mögen, so wenig haben beide Attacken tatsächlich gemeinsam. Zwar lassen sich beides als Akte der Verteidigung eines Angegriffenen gegen einen Angreifer verstehen, als Gegenschlag, bei dem Wohngebiete zerstört wurden und viele Zivilisten ums Leben kamen. Doch damit enden die Analogien auch schon.

Die israelischen Luftangriffe richteten sich primär gegen militärische Ziele, speziell gegen Raketenstellungen der Hamas, die diese seit Jahren mitten in Wohngebieten bezieht, um Zivilisten als Schutzschilde zu missbrauchen. Zudem waren laut Medienberichten sowie Statements der Armee die Bewohner des Gazastreifens im Vorfeld der Attacken gewarnt und zur Evakuierung aufgerufen worden.

Die Briten hatten die deutsche Moral im Visier

Demgegenüber stellten zumindest die britischen Luftangriffe auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 einen Akt des „moral bombing“ dar. Diese Strategie des britischen Air Marshal Arthur Harris hatte das Ziel, durch Nachtangriffe der Royal Air Force nicht primär militärische Infrastruktur zu treffen, sondern eine möglichst große Zahl an Zivilisten zu töten und dadurch die Kriegsmoral der Deutschen zu brechen; ein Kalkül, das nicht aufging.

Hier 1945 Zivilisten als Ziel, dort 2023 Stellungen der Hamas – Naftali Bennett vergleicht, was sich nicht gleichsetzen lässt. Ebenfalls irrt der Ex-Premierminister mit dem Satz: „Damals hat auch niemand gefragt, was in Dresden vor sich geht.“ Im Gegenteil war in Großbritannien das Moral Bombing – samt Arthur Harris – schon vor den Angriffen auf Dresden hochumstritten gewesen.

Gezielte Angriffe auf Zivilisten gelten als Kriegsverbrechen

Wenige Wochen später, im April 1945, wurde es eingestellt, auch unter dem Eindruck der Ereignisse vom 13. Februar. Diese hatten nach Kriegsende einen nicht unerheblichen Einfluss darauf, dass das Völkerrecht 1949 im IV. Genfer Abkommen und späteren Zusatzprotokollen geändert wurde. Seither gelten gezielte Angriffe auf Zivilisten, die bis dahin unter bestimmten Umständen der Kriegsführung legitim gewesen waren, statt nur in moralischer Hinsicht nun auch nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen.

An diesem Punkt betritt der ehemalige israelische Premier Naftali Bennett vermintes Gelände. Würde man seinen Analogisierungsfaden zwischen Dresden 1945 und Gaza 2023 weiterspinnen, erreichte man irgendwann jenen Punkt, an dem sich die Frage stellte: Könnten auch die Angriffe auf Gaza-Stadt zumindest ein moralisches Kriegsverbrechen sein, weil sie Kollateralschäden – also Todesopfer unter den von der Hamas als Schutzschilde missbrauchte Zivilisten – einkalkulieren?

Verluste unter der Bevölkerung sind "Kollateralschäden"

Rechtliche Einwände lassen sich indes kaum erheben. Das moderne Humanitäre Völkerrecht (HVR) für den internationalen bewaffneten Konflikt berücksichtigt zwar auch Situationen, in denen „die Vermeidung oder Minimierung von Begleit- oder Kollateralschäden nicht möglich“ ist. Doch in solchen Fällen legt das HVR in Artikel 57 lediglich fest, dass „der militärische Führer von jedem Angriff Abstand zu nehmen“ hat, bei dem es zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung, zur Verwundung von Zivilpersonen oder zur Beschädigung ziviler Objekte kommt oder „eine militärische Aktion mehrere derartige Folgen verursacht, die exzessiv im Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil wären“.

Somit macht auch die aktuelle Rechtslage die Pflicht zum Schutz von Zivilisten in militärischen Konflikten letztlich zur Auslegungssache des Militärs.