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Geld allein wird für die Bundeswehr nicht reichen

Warum wir uns mit dieser Bundeswehr nicht sicher und gut verteidigt fühlen können – und weshalb 100 Milliarden Euro nicht reichen werden. Ein Gastbeitrag.

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Zwei Leopard 2A6 des Panzerbataillon 203 der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Senne.
Zwei Leopard 2A6 des Panzerbataillon 203 der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Senne. © Federico Gambarini/dpa

Von Achim Wohlgethan*

Im Februar 2022 veränderte sich die Welt. Der russische Überfall hat die Bundesregierung und die Bundeswehr kalt erwischt. Angesichts des Einmarsches der Invasionsarmee, der Bombardements und der zerstörten Städte tauchte die Frage nach der eigenen Sicherheit auf. Dadurch geriet die Bundeswehr in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Und das, was dabei ans Licht kam, war erschreckend und zutiefst besorgniserregend.

„Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert“, sagte Generalleutnant Alfons Mais. Er ist Inspekteur des Heeres und damit der höchste Vorgesetzte der, meiner Ansicht nach, wichtigsten Teilstreitkraft. Der Heeresinspekteur bezog sich in seiner Aussage in erster Linie auf den Munitionsvorrat der Bundeswehr. Im Verteidigungsfall würde der gerade mal für einen bis fünf Tage ausreichen. In den Vorgaben der Nato wird jedoch ein Munitionsbestand für mindestens 30 Tage Kampfhandlungen gefordert.

Der Zustand ist alarmierend

Was sich tagtäglich in der Ukraine ereignete und das, was gleichzeitig über den Zustand der Bundeswehr bekannt wurde, war so alarmierend, dass Bundeskanzler Scholz in seiner berühmten Rede vom 27. Februar 2022 von einer bevorstehenden Zeitenwende sprach: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Explizit ging der Kanzler auch auf den Zustand der Bundeswehr ein: „Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa. Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten.“

Es wurde beschlossen, 100 Milliarden in die Modernisierung der Streitkräfte zu investieren. Einmalig und schuldenfinanziert. Mit dem Geld sollen neue Waffensysteme und Ausrüstung angeschafft werden.

Ich hatte schon damals meine Zweifel, ob das klappt. Der desaströse Zustand der Bundeswehr war eigentlich schon lange vor dem 27. Februar 2022 bekannt. Periodisch veröffentlicht das Verteidigungsministerium einen Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr. Unter Hauptwaffensystemen versteht man Helikopter, Schiffe, Flugzeuge, Panzer und ähnliches Großgerät. Im Bericht II/2021 wird der Zeitraum von Mai bis Oktober behandelt. Fazit: Von den 71 Hauptwaffensystemen sind nur etwa 77 Prozent einsatzbereit, bei den Hubschraubern liegt die Einsatzbereitschaft sogar nur bei etwa 40 Prozent, weniger als 30 Prozent der Kriegsschiffe der Marine sollen für anspruchsvollere Einsätze zu gebrauchen sein. Die durchschnittliche materielle Einsatzbereitschaft von Kampffahrzeugen wird mit 71 Prozent angegeben. Von einer vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr kann also keine Rede sein. In den Vorjahren – 2019 wurden 76 Prozent Einsatzbereitschaft angegeben – sah es auch nicht besser aus.

Schwer wiegende Versäumnisse

Interessant ist, dass diese Berichte bis zum Jahr 2019 öffentlich zugänglich waren, seitdem aber in zwei Teile gesplittet wurden. Der allgemein gehaltene offene Teil I ist auf der Website des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) einsehbar. Der detailliertere Teil II wird als geheim eingestuft und unter Verschluss gehalten. Begründet wird dies mit den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland und damit, dass „damit auch dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten Rechnung getragen wird“. In meinen Augen ist dies eine zweischneidige und nicht ganz aufrichtige Argumentation. Dem Schutz der Soldatinnen und Soldaten – und natürlich auch den nationalen Sicherheitsinteressen – würde am allermeisten funktionsfähiges, einsatzbereites Material helfen.

Nun sind 100 Milliarden Euro für neue Ausrüstung und Waffen ja schön und gut, doch es gibt Versäumnisse, die viel schwerer wiegen. Der Umgang mit dem Ende des Afghanistan-Einsatzes hat dazu geführt, dass unter den Soldatinnen und Soldaten das Vertrauen in die politische Führung verloren ging. Wenn ich sie darauf anspreche, ernte ich oftmals Gelächter. „Du weißt doch selbst, wie das läuft: viel Geld für den Wasserkopf und wenig oder nichts für uns.“ Mit dem „Wasserkopf“ sind die Bürokratie und ineffiziente externe Berater gemeint. Trotz aller Zeitenwende-Bekenntnisse vermissen die Soldatinnen und Soldaten den Rückhalt derer, die sie im Ernstfall in den Einsatz schicken.

Laut einer Anfrage des Verteidigungsausschusses an das BMVg stieg die Zahl der Reservistinnen und Reservisten, die den Dienst mit der Waffe verweigerten, in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 von zehn auf 190. Sie hat sich also beinahe verzwanzigfacht. Viele Soldaten, mit denen ich spreche, sagen, dass sie unter den herrschenden Bedingungen nicht bereit sind, in Auslandseinsätze zu gehen. „Altgediente“ reichen einen Antrag auf „Kriegsdienstverweigerung“ ein, um dem System zu entfliehen oder einfach nur, weil sie sich nach vielen Jahren nicht mehr mit der Bundeswehr identifizieren können. Lässt sich das alles wirklich mit 100 Milliarden beheben?

Ich stelle die Frage einmal anders: Verwandelt die einmalige Investition von 100 Milliarden Euro die Bundeswehr wirklich in eine einsatzbereite Armee, mit der sich im Ernstfall auch das Land verteidigen und Krieg führen lässt? Oder handelt es sich hier nicht etwa nur um eine weitere – wenn auch kostspielige – Illusion, dass Geld allein es schon richten werde?

Finanzielle Mittel hat die Bundeswehr auch vorher schon gehabt. Zwar nicht genug, aber auch nicht gerade wenig. Im Jahr 2021 betrug ihr Etat circa 47 Milliarden Euro. Doch davon wurden gerade einmal acht Milliarden für die Anschaffung von Ausrüstung verwendet, obwohl aus dem Bericht über die materielle Einsatzbereitschaft hervorgeht, dass gerade die an allen Ecken und Enden fehlt. Statistisch waren im Jahr 2020 die Rüstungsausgaben der Bundesrepublik die siebthöchsten der Welt.

Es kann also nicht nur am Geld liegen, wenn die Truppe blank dasteht. Lediglich dadurch, dass man noch mehr Geld hineinschießt, lassen sich wohl kaum sämtliche Defizite beseitigen. Anders gesagt: Wer es mit 47 Milliarden nicht hinbekommt, der wird es mit 100 Milliarden wohl auch nicht besser machen. Ich wage sogar zu behaupten, dass mit einem größeren Budget alles noch viel schlimmer werden wird. Denn die Beschaffung von Material und Waffensystemen wird derart bürokratisch und kompliziert gehandhabt, dass kaum etwas davon rechtzeitig bei der Truppe ankommt.

Es braucht tiefgreifende Reformen

Mich treibt eine weitere Frage um, nämlich ob sich der fehlenden Motivation der Kameradinnen und Kameraden wirklich mit einer Milliardenzahlung abhelfen lässt. Meiner Ansicht nach braucht es dazu wesentlich mehr: tiefgreifende strukturelle Reformen und vor allem den gesellschaftlichen und politischen Willen, diese auch nachhaltig umzusetzen. Der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz brachte es auf den Punkt: „Die beste Strategie ist immer recht stark zu sein, erstens überhaupt und zweitens auf dem entscheidenden Punkt. Daher gibt es kein höheres und einfacheres Gesetz für die Strategie, als seine Kräfte zusammenzuhalten.“

Obwohl das zur Zeit der Befreiungskriege im 19. Jahrhundert gesagt wurde, gilt es bis heute. Auch ich habe als Soldat gelernt, dass vor dem Beginn einer Mission die Bestandsaufnahme der Mittel und Kräfte steht, die ich zur Verfügung habe, um meinen Auftrag zu erfüllen. In Afghanistan hatten wir von allem zu wenig. Heute scheint das in erschreckender Weise auf die gesamte Bundeswehr zuzutreffen. Wenn man zu Beginn eines Auftrags erkennt, dass die Mittel nicht ausreichen, muss man melden: „Auftrag nicht durchführbar.“ Sonst wird die Mission zur gefährlichen Illusion. Es wäre die Pflicht der militärischen Führung, diese Bestandsaufnahme so durchzuführen und die Ergebnisse weiterzugeben. Bislang wird das bis auf wenige Ausnahmen nicht gemacht.

*Unser Autor Achim Wohlgethan war Fallschirmjäger in Afghanistan und ist heute für den Deutschen Bundeswehr Verband in ganz Deutschland tätig. Sein Gastbeitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Blackbox Bundeswehr“ (Econ-Verlag), in dem Achim Wohlgethan einen ganz persönlichen Blick auf das brisante Thema wirft.