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Warum es Aufrüstung braucht, um den Frieden zu bewahren

So fürchterlich es klingt: Um Frieden zu bewahren, können wir auf Waffen nicht verzichten. Das gebietet die Charta der Vereinten Nationen. Ein Gastbeitrag.

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Wehrhaft: Flugabwehrraketensystem vom Typ „Patriot“ des Flugabwehrraketengeschwaders 1 der Bundeswehr.
Wehrhaft: Flugabwehrraketensystem vom Typ „Patriot“ des Flugabwehrraketengeschwaders 1 der Bundeswehr. © dpa

Von Dominik Steiger*

Kein anderes Thema beschäftigt in den internationalen Beziehungen gerade mehr als der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Andere überaus wichtige Themen wie etwa die Bekämpfung des Klimawandels oder der Schutz der Biodiversität, kommen daher oft zu kurz. Ebenso wird die Menschenrechtslage im Iran oder in China häufig nur dann diskutiert, wenn, wie jetzt, Proteste gegen die autoritäre Staatsmacht aufflammen. Dabei haben diese Fragen, so unterschiedlich sie sein mögen, letztlich denselben Kern: Es geht jeweils um Frieden. Denn Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch die Wahrung der Menschenrechte, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Auflösung von Machtstrukturen, die zu Gewalt und Diskriminierung führen.

Leider ist Frieden oft nur eine Wunschvorstellung. Dies liegt zuerst an jenen, die ihn brechen, wie den Machthabern in Russland, Iran oder China. Es liegt aber auch an denjenigen, die zu wenig tun, um ihn zu fördern. Der schwache Protest gegen das gewalttätige Niederschlagen der Proteste im Iran, die Umerziehungslager und massiven Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang oder das zögerliche Verhalten im Kampf gegen den Klimawandel zeigen, dass wir Menschen oft zu ängstlich, zu egoistisch, unsolidarisch und vor allem zu wohlstandsbedacht sind, um das zu tun, von dem wir wissen – oder jedenfalls wissen müssten –, dass es das Richtige ist.

Wenn du Frieden willst, so rüste zum Krieg

Dies zeigt sich auch im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Viele rufen gerade nach Friedensverhandlungen mit Russland. Dies mag gut gemeint sein, ist es aber nicht und steht nicht im Einklang mit dem Geist der Charta der Vereinten Nationen. Stattdessen schwächt es die Ukraine, die Freiheit und den Frieden und unterstützt letztlich eine Kultur des Krieges. Die Charta zeigt uns, wie wir zu handeln haben, wenn ein Aggressor einen anderen Staat mit Krieg überzieht. Sie zeigt uns, wie eine Kultur des Friedens im Angesicht des aufgezwungenen Krieges aussieht, nämlich entsprechend der alten römischen Maxime: Si vis pacem – Para bellum. Wenn du Frieden willst, so rüste zum Krieg.

Was als kriegstreiberisch missverstanden werden kann, ist in Wirklichkeit von der Charta so vorgesehen. Das von ihr 1945 als Antwort auf den von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg geschaffene System kollektiver Sicherheit verzichtet nicht auf militärische Mittel, ganz im Gegenteil. Dabei ist Ziel immer, wie es in der Präambel heißt, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die […] unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. Zu diesem Zweck sieht Kapitel VI zunächst den Einsatz von friedlichen Streitbeilegungsmechanismen vor. Dazu gehören diplomatische Mittel sowie Gerichtsverfahren. Dies ist richtig, denn militärische Mittel können immer nur ultima ratio, letztes Mittel sein. Diplomatisch wurde mit dem Minsker Abkommen und anderen Gesprächen seit der Annexion der Krim 2014 – dem wahren Beginn des jetzigen Krieges – versucht, Russland dazu zu bewegen, sich völkerrechtskonform zu verhalten. Aber nichts wurde besser, alles nur schlimmer.

Der Autor: Dr. Dominik Steiger ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der TU Dresden und Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Internationale Studien.
Der Autor: Dr. Dominik Steiger ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der TU Dresden und Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Internationale Studien. © Michael Kretzschmar

Auch Entscheidungen internationaler Gerichte liegen vor. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied am 1. März 2022, dass Russland keine Zivilisten und zivilen Objekte angreifen darf. Der Internationale Gerichtshof, das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, verfügte am 16. März 2022, dass Russland alle militärischen Aktionen in der Ukraine zu beenden habe. Russland schert sich nicht darum. Im Gegenteil, es macht weiterhin deutlich, dass es nicht bereit ist, seinen Angriffskrieg zu beenden. Dies zeigt nicht nur die Mobilmachung von 300.000 russischen Männern, sondern vor allem die fortgesetzten Angriffe auf die Ukraine, die besonders auf die zivile Infrastruktur zielen, um so die Ukrainerinnen und Ukrainer in offenkundig rechtswidriger Weise zu zermürben. Dabei dürfen zivile Objekte niemals Ziel militärischer Aktionen sein.

Wir sehen, dass die Mittel der friedlichen Streitbeilegung reichlich genutzt wurden, sie aber keinen Frieden bringen. Für diesen Fall kennt die Charta auch den Einsatz militärischer Mittel, um so Kriege zu beenden und Frieden zu schaffen. Hier zeigt sich: Si vis pacem – Para bellum. Wenn du den Frieden willst, so rüste zum Krieg. Die Charta kennt sogar zwei Wege, wie es zu rechtmäßiger Ausübung von Gewalt kommen kann. Einerseits kann der Sicherheitsrat nach Kapitel VII militärische Gewalt erlauben. Hier heißt es ausdrücklich, dass Luft-, See- oder Landstreitkräfte, die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen dürfen. Allerdings kann dagegen jedes ständige Mitglied, inklusive Russland, sein Veto einlegen. Damit scheiden solche Maßnahmen aus.

Die UN-Charta ist nicht pazifistisch, sondern wehrhaft

Andererseits gehört dazu das Selbstverteidigungsrecht, das von der Charta gar als „naturgegeben“ bezeichnet wird. Es ist nicht abhängig von einem der Vetomächte, sondern kann vom angegriffenen Staat geltend gemacht werden. Aus dem Recht auf Selbstverteidigung folgt auch, dass befreundete Staaten helfen dürfen. Im Wege kollektiver Selbstverteidigung kann der Ukraine nicht nur finanziell und durch Lieferung von Waffen geholfen werden, die Charta geht sogar so weit, dass befreundete Truppen Seite an Seite mit den Truppen des angegriffenen Staates kämpfen dürfen. Dies steht nicht zur Debatte, wäre aber vom Völkerrecht gedeckt. Daran wird besonders deutlich, dass die Charta nicht pazifistisch, sondern wehrhaft ist.

Aus dem Recht auf Selbstverteidigung folgt auch, dass der angegriffene Staat allein über die Ausübung dieses Rechts entscheidet und damit auch über die Frage, wann Friedensverhandlungen aufzunehmen sind. Wenn solche Verhandlungen dazu führen, dass weite Teile des Staatsgebiets zumindest faktisch aufgegeben werden, dass die militärische Position des sich verteidigenden Staates geschwächt wird, dass das Signal ausgesendet wird, dass ein Verstoß gegen das Gewaltverbot sich lohnt und damit andere Staaten animiert werden, sich ebenfalls mit militärischer Gewalt zu holen, was sie wollen, dann sind Friedensverhandlungen kontraproduktiv und dienen nicht dem Frieden, sondern belohnen und unterstützen den Krieg.

Der Weltfrieden wird auch in der Ukraine verteidigt

Dass dies unzulässig ist, folgt nicht nur aus der Charta der Vereinten Nationen, sondern wird von den sogenannten Artikeln über die Staatenverantwortlichkeit, die geltendes Völkergewohnheitsrecht darstellen und 2001 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen worden sind, ausdrücklich verboten. Dort heißt es, dass die Staaten zusammenarbeiten, um jede schwere Verletzung des Völkerrechts – und dazu gehört an erster Stelle der Angriffskrieg – durch rechtmäßige Mittel zu beenden. Außerdem dürfen sie keine daraus resultierende Situation als rechtmäßig anerkennen oder Hilfe und Unterstützung zu ihrer Aufrechterhaltung leisten. Der Ruf nach Friedensverhandlungen zu diesem Zeitpunkt führt aber zu einer Aufrechterhaltung der Erfolge des Angriffskriegs – und belohnt damit Gewalt, perpetuiert sie und führt dadurch letztlich zu mehr Gewalt.

Friedensverhandlungen dürfen also nicht zu einer „Kriegsdividende“ führen. Die Charta der Vereinten Nationen sieht deshalb die Anwendung kriegerischer Mittel vor. Der Weltfrieden wird auch in der Ukraine verteidigt, und wir dürfen, ja müssen dem angegriffenen Staat helfen und Wehrhaftigkeit zeigen. Frieden und Solidarität haben einen Preis, kurz- und mittelfristig kann seine (Wieder-)Herstellung Wohlstand mindern. Hier ähneln sich die eingangs erwähnten Beispiele China, Iran und der Kampf gegen den Klimawandel mit der Situation in der Ukraine. Diesen Preis müssen wir, wenn wir eine Kultur des Friedens wiederherstellen wollen, bezahlen und, ganz im Einklang mit der Charta, zum Kriege rüsten, so paradox und fürchterlich es klingt. Alles andere wäre eine Kultur des Krieges, die keiner wollen kann.

*Der Autor: Dr. Dominik Steiger ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der TU Dresden und Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Internationale Studien.