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Putins möglicher Plan hinter den Annexionen – und die Gefahr für ihn

Schon am Freitag könnte Russland um die besetzten Gebiete erweitert werden. Der Kreml gewinnt so Planungssicherheit für das Militär, pokert aber hoch. Eine Analyse.

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Ein Mann hängt russische Fahne an einem Café in Luhansk auf.
Ein Mann hängt russische Fahne an einem Café in Luhansk auf. © Uncredited/AP/dpa

Von Benjamin Reuter

Schon an diesem Freitag könnte der russische Präsident Wladimir Putin den Anschluss der vier teilweise besetzten Gebiete in der Ukraine verkünden, schreibt der britische Militärgeheimdienst in seiner Lageeinschätzung zur Ukraine am Dienstag.

Teile von Cherson, Saporischschja, Donezk und ganz Luhansk würden dann Teil der Russischen Föderation. Laut einem russischen Medienbericht vom Dienstag gibt es Pläne in Moskau, die vier Gebiete in einem zweiten Schritt mit der Krim zu einer größeren Region zusammenzulegen.

Wie die hastig angesetzten Referenden ausgehen würden, stand dabei schon am vergangenen Freitag fest, als sie begannen. Teilweise gingen Wahlhelfer begleitet von bewaffneten Soldaten von Tür zu Tür und holten Ja-Stimmen ab. Wer für einen Verbleib der Ukraine ist, würde sich kaum zu erkennen geben, so das Kalkül.

„Sie hauen an die Tür, klingeln und geben den Leuten einen Stimmzettel in die Hand. Mit dem Gewehr zeigen sie dann auf die Stelle, wo das Kreuz zu setzen ist“, beschrieb der geflohene Bürgermeister von Melitopol das Vorgehen in einem Interview. Gleichzeitig verteilten lächelnde Mädchen und Jungen auf Straßen und Plätzen Informationen zur Abstimmung an Passanten.

Beobachter rechneten damit, dass die Referenden eine große Mehrheit für einen Anschluss an Russland zeigen würden. Und so kam es dann auch: Nach Auszählung aller Stimmen hätten in Donezk in der Ostukraine mehr als 99 Prozent der Wähler zugestimmt, erklärte die dortige Besatzungsverwaltung am Dienstagabend. In Luhansk sollen es den russischen Angaben zufolge mehr als 98 Prozent, in Saporischschja im Süden mehr als 93 Prozent und im ebenfalls südlichen Cherson mehr als 87 Prozent gewesen sein.

Bleibt die Frage, wie es in den besetzten Gebieten weitergeht und welches Kalkül Putin mit der Annexion verfolgt. Ein Überblick:

1. Der Kremlchef gewinnt Planungssicherheit für das Militär

Was wie eine Beruhigung des russischen Verteidigungsministers Sergei Shoigu klingen sollte, war in Wahrheit eine versteckte Ankündigung - und Drohung. Wehrpflichtige, so sagte er bei der Erklärung der Details der Teilmobilmachung, sollten sich keine Sorgen machen, an die Front zu kommen. Sie würden nur auf russischem Territorium eingesetzt. Zudem werden aber bald auch die Gebiete in der Ukraine gehören.

Rund 260.000 Wehrpflichtige hat Russland zuletzt pro Jahr zu einer zwölfmonatigen Ausbildung eingezogen. Laut Putins Dekret zur Mobilisierung der Bevölkerung können seit vergangener Woche alle Männer zum Fronteinsatz eingezogen werden, die über militärische Erfahrungen verfügen und die Alters- und Gesundheitskriterien erfüllen.

Das führt dazu, dass die Wehrpflichtigen nach den zwölf Monaten künftig weiter im Militär bleiben müssen; solange bis Putins Dekret zur Mobilisierung aufgehoben wird. Putin hätte seiner Armee für die Ukraine-Invasion also einen sicheren Nachschub an Soldaten für die nächsten Jahre gesichert und den Grundstein für einen langen Krieg gelegt.

Zum Vergleich: Der Kremlchef begann seine Invasion mit rund 190.000 Mann, mache Experten wie der Russlandexperte Michael Kofman aus den USA gehen davon aus, dass es nur rund 80.000 professionelle russische Soldaten waren. Hinzu seien mehrere Zehntausend selbsternannte Separatisten aus Luhansk und Donezk gekommen sowie Söldner der Wagner-Gruppe.

Der Nachschub durch die Wehrpflichtigen und die in der Folge zum Frontdienst gezwungenen Menschen wäre also durchaus in der Zahl bedeutsam. Ob Putin das Verfahren so umsetzt, bleibt aber abzuwarten. Schon die Teilmobilisierung ist in Russland extrem unbeliebt. Wehrpflichtige an die Front zu schicken, wird wohl für noch mehr Unmut in den Familien sorgen.

2. Putin kann die Annexion nach innen als Erfolg verkaufen

Russland wächst, zumindest was die Landfläche angeht. Mit dieser Feststellung kann Putin, wenn er Freitag höchstwahrscheinlich den Anschluss der besetzten Gebiete an Russland verkünden wird, für die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine werben.

Das wäre ein erster Erfolg seiner imperialen Pläne, wenn auch bisher der einzige. Selbst das Ziel den gesamten Donbass zu erobern, konnte er bisher nicht erreichen. Zudem hätte der Kreml dann einen Vorwand mehr, Täter und Opfer in dem Konflikt umzukehren. Die Ukraine würde aus seiner Sicht dann Russland angreifen, nicht andersherum.

3. Das Risiko, das Putin mit seinem Kurs eingeht

Die Annexionen eröffnen Putin also einige Möglichkeiten, ein erfolgreiches Zwischenziel zu verkünden und seine Armee zu stärken. Gleichzeitig stellen sie für Putin auch ein hohes Risiko dar.

Denn was wächst, kann auch schnell wieder schrumpfen. Wenn die Ukraine weitere Gebiete zurückerobert - und danach sieht es sowohl in Cherson im Süden als auch in den Regionen Donezk und Luhansk aus - würde die Schwäche der russischen Armee noch offensichtlicher zeigen, wenn sie nicht einmal in der Lage ist, russisches Territorium zu verteidigen. Putin und seine Generäle würden in Erklärungsnot geraten.

An dieser Stelle kommen auch die neuerlichen Atomdrohungen aus Moskau ins Spiel. „Im Falle einer Bedrohung der territorialen Integrität unseres Landes [...] werden wir mit Sicherheit von allen uns zur Verfügung stehenden Waffensystemen Gebrauch machen“, sagte Putin in seiner siebenminütigen Rede zur Teilmobilmachung. Das war eine wenig verklausulierte Drohung mit Atomwaffen.

Unter Experten ist allerdings umstritten, ob die russische Nukleardoktrin einen solchen Einsatz im Fall der Ukraine wirklich hergibt. Manche argumentieren, dass Putin Atomwaffen nur einsetze könne, wenn die Existenz des russischen Staates im Kern bedroht ist; andere wiederum meinen, sie könnten durchaus zur Verteidigung eroberter Gebiete Verwendung finden. Wieder andere meinen, dass für Putin die offizielle Doktrin ohnehin keine Rolle spiele.

Ein russischer Rekrut umarmt zum Abschied seine Mutter in einem militärischen Rekrutierungszentrum in Wolgograd.
Ein russischer Rekrut umarmt zum Abschied seine Mutter in einem militärischen Rekrutierungszentrum in Wolgograd. © Uncredited/AP/dpa (Symbolbild)

Wahrscheinlicher ist, dass die Drohung direkt an den Westen gerichtet war, die Ukraine nicht noch mehr als ohnehin schon zu unterstützen. Ohne westliche Hilfe, da sind sich Experten einig, könnten die Ukrainer kaum weiter besetzte Gebiete befreien.

Bevor der Kreml sich allerdings ernsthaft mit dem Einsatz von Atomwaffen beschäftigt - was ein internationaler Tabubruch wäre, der Russland wohl seine letzten Unterstützer wie China und Indien kosten und eine Antwort der USA nach sich ziehen würde - könnte der interne Druck auf Putin und die Militärführung gefährlich steigen.

Dass auch Wehrpflichtige an die Front müssen, war seit den Tschetschenienkriegen eigentlich ein Tabu. Zwar wurden schon Wehrpflichtige in die Ukraine geschickt, der Kreml bezeichnete die Versetzungen aber als Versehen und Fehler.

Ändert sich das, würde mit großer Wahrscheinlichkeit nach der unpopulären Teilmobilisierung und der aktuellen Fluchtwelle aus Russland für weitere Unzufriedenheit sorgen. Diese Unzufriedenheit könnten die jungen Männer auch in die Armee an die Front tragen. Das würde die schlechte Moral bei Putins Truppen noch verschärfen.