Von Daniel Friedrich Sturm und Christopher Ziedler
Herr Ministerpräsident, was bedeutet das Karlsruher Urteil, mit dem schuldenfinanzierte Investitionsfonds des Bundes verfassungswidrig wurden, für Sachsen? Haben Sie die Fabrik des taiwanischen Chiphersteller TSMC in Dresden schon in den Wind geschlagen?
Ich gehe fest davon aus, dass die Ansiedlung wie geplant gelingt und das Wort des Bundeskanzlers steht. Ich finde das Karlsruher Urteil richtig. Es entspricht meiner Überzeugung – und einer Haushaltspolitik, wie sie in Sachsen seit 1990 praktiziert wird.
Trotzdem stellt es Zukunftsinvestitionen, die bisher aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) finanziert werden sollten, infrage.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Verantwortung für kommende Generationen entschieden: Die Bundesregierung darf mit dem Geld nicht umgehen, wie sie will. Es ist ein gutes Signal, dass die Ampelkoalition ihre falsche Wirtschaftspolitik nicht mit Schulden kaschieren darf. Jetzt müssen wir priorisieren: Was ist besonders wichtig? Was wichtig? Was „nice to have“?
Was ist besonders wichtig?
Alles, was künftig Wachstum und Einnahmen generiert. Erleichterungen für den Mittelstand und Investitionen in Zukunftstechnologien wie Mikroelektronik.
Was ist nur „nice to have“?
„Nice to have“ sind 5.000 neue Arbeitsplätze für die Auszahlung der Kindergrundsicherung. „Nice to have“ ist, dass die Sozialhilfeträger beim Unterhaltsvorschussgesetz maximal ein Drittel der ausgezahlten Gelder von den nicht Zahlungswilligen, meistens Vätern, nicht zurückbekommen. Und gänzlich falsch ist: Energie künstlich zu verknappen und in der Folge mit staatlichem Geld steigende Energiepreise zu subventionieren. Menschen, die arbeiten können, aber nicht wollen, Geld zu geben. Überstunden zu verbieten, anstatt sie zu belohnen.
Keinen staatlichen Euro kostet es, die Bauvorschriften zu ändern und als Standard das KfW-Effizienzhaus 70 anzuwenden. Statt den überzogenen Vorgaben KfW 40 oder KfW 55. Diese Maßnahme ist zwingend, um Bauen wieder preiswerter zu machen und den gerade stattfindenden Absturz der Bauwirtschaft aufzuhalten.
Ihr Parteifreund und Amtskollege, Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU), will die Schuldenbremse reformieren. Sie auch?
Wenn Sie die 60 Milliarden Euro im KTF durch drei teilen, kommen Sie auf 20 Milliarden Euro im Jahr – bei einem Bundeshaushalt von 500 Milliarden Euro. Wir geben dieses Jahr 50 Milliarden Euro für Flucht und Migration aus. Wer sollte diese 20 Milliarden jährlich einsparen können, wenn nicht die Bundesrepublik?
Wenn wir danach feststellen, dass wir immer noch dringend Geld für wichtige Zukunftsprojekte brauchen, können wir über alles reden – vorher nicht.
Kretschmer: "Es ist keine Zeit für Häme. Wir müssen eine Staatskrise verhindern"
Da wird es Sie ärgern, dass für 2023 die Schuldenbremse nachträglich ausgesetzt werden soll, oder?
Die Regeln dieser Schuldenbremse funktionieren. Der Bund kann eine Notlage feststellen, infolge einer Flut, eines Krieges, einer Pandemie. Diese Bundesregierung aber stellt die Notlage fest, nachdem sie Deutschland selbst in diese Notlage gebracht hat.
Werden nach Berlins Bürgermeister Wegner weitere Ministerpräsidenten der CDU der Regierung beispringen und die Schuldenbremse infrage stellen?
Alle Länder sind bereit, der Bundesregierung die Hand zu reichen. Es ist keine Zeit für Häme oder Schadenfreude. Wir müssen eine Staatskrise verhindern. Aber wo lebt diese Regierung? Die Menschen sind zunehmend frustriert, die Ampel hat nur noch jeden dritten Bürger hinter sich.
Verstehen Sie es, dass CDU-Chef Friedrich Merz die Gespräche mit dem Kanzler über den Deutschlandpakt Migration aufgekündigt hat?
Das ging nicht von Merz aus. Die Bundesregierung legt einfach keine Vorschläge zur Migrationspolitik vor. Sie wartet ab, während 16 Länder, Kommunen, Kirchen sagen: So geht es nicht. Wir geben 50 Milliarden Euro für Geflüchtete aus! Das ist das Ergebnis des Zauderns und Zögerns dieser Regierung. Die Bevölkerung will dieses Geld so nicht ausgeben! Diese Politik ist falsch und gefährdet den sozialen Frieden.
Trotzdem hat Scholz zweimal eingeladen.
Aber mit welchem Ziel? Es kann ihm doch nur darum gegangen sein, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für eine Asyl-Grundgesetzänderung zu bekommen. Der Kanzler erklärt nicht, was er will. Er lässt sich für eine Abschiebeoffensive feiern – doch im Gesetz steht, damit ließen sich nur 600 Menschen mehr abschieben. Das ist Verschleiern und Vortäuschen von Politik.
An der Grenze von Sachsen zu Tschechien und Polen hat sich der Bund lange vor Kontrollen gesträubt. Nun wird kontrolliert, Schlepper werden aufgehalten, Einreisen verhindert. Wollen Sie noch mehr Kontrollen?
Es ist eine schwierige Situation. Wir haben 60 Kilometer lange Staus in Frankfurt/Oder, zehn Kilometer lange Staus bei uns in Görlitz.
Die Migration ist um 40 Prozent gesunken – ein Erfolg, aber mit einem riesigen Aufwand und Frust. Natürlich ist es besser, die Sozialleistungen für Asylbewerber deutlich zu kürzen, den Familiennachzug einzuschränken, an den Außengrenzen zu kontrollieren.
Sachsen wird im September 2024 seinen Landtag neu wählen, Sie wollen Ministerpräsident bleiben. Ist das Ihr einziges Wahlziel?
Das Wahlziel ist eine handlungsfähige Regierung aus der Mitte des demokratischen Spektrums, nach Möglichkeit mit einem statt zwei Partnern. Daran arbeiten wir.
Sie regieren jetzt schon mit SPD und Grünen. Müssen Sie wegen der Stärke der AfD damit rechnen, künftig zudem noch mit den Linken und Wagenknecht-Partei zu regieren?
Was war noch meine Antwort auf Ihre vorherige Frage?
Sie wollen mit nur noch einem Koalitionspartner regieren. Aber Politik ist ja kein Wunschkonzert.
Ich habe mein Wahlziel genannt. Daran arbeiten wir.
Umfragen zufolge ist Ihr Wunsch nach einer Zweier-Koalition von den Aussichten weit entfernt. Was muss also passieren?
Die CDU muss noch etwas stärker werden. Dann ist dieses Ziel erreichbar.
Schließen Sie eine Koalition mit oder eine Duldung durch die AfD oder die Wagenknecht-Partei aus?
Ich habe dazu in der Vergangenheit alles gesagt.
Kennen Sie einzelne AfD-Politiker in Land oder Kommune, von denen Sie sagen: „Das sind eigentlich ganz vernünftige Leute“?
Nein.
Ihr Parteifreund Marco Wanderwitz will die AfD verbieten. Was halten Sie davon?
Nichts.
Sie reisen viel durch Ihr Land, reden mit allen, die das wollen. Welches Bild haben Sie von denjenigen, die AfD wählen oder das erwägen?
Alle Umfragen zeigen: Die Menschen sind unzufrieden mit wirtschaftlicher Lage, Migration, Gebäudeenergiegesetz. Sie fühlen sich gegängelt. Mit der AfD müssen wir es so machen wie einst mit NPD, DVU, Republikanern: Man muss diesen Extremisten den Nährboden entziehen. Die Politik muss handeln.
Wie?
Am besten so, wie das der Kanzler schon einmal absolut richtig gemacht hat: Als es großen Unmut über die Gasumlage gab, berief Olaf Scholz eine Kommission, die vor einem Jahr die Energiepreisbremsen geschaffen hat. Damit war die Stimmung im Land sofort ganz anders. Die Leute haben gemerkt, dass die Politik verstanden hatte, dass es in die richtige Richtung ging.
Nach den Wahlen in Bayern und Hessen hatte ich ein ähnliches Gefühl, umso größer ist jetzt meine Enttäuschung. So wie die Bundesregierung gerade handelt, werden wir den Rechtsextremismus nicht einhegen. Dann wird die Europawahl 2024 eine Protestwahl. Das sollten wir gemeinsam verhindern.
Wird auch Sachsen eine Protestwahl?
Trotz Frust über die Ampel geht es am 1. September in erster Linie um die Zukunft des Freistaats Sachsen. Bildung, Sicherheit, kommunale Stärke. Es gibt viel zu tun.
Der Vorschlag für eine Kommission zur Migrationspolitik, der schon im Frühjahr von Ihnen kam, findet sich im Beschluss der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz. Haben Sie keine Hoffnung, dass daraus etwas wird?
Ein gesamtgesellschaftlicher Migrationskompromiss ist aus meiner Sicht der einzige Weg, wenn der Kanzler das Problem lösen will, ohne seine jetzige Regierung zu beenden. Alle Ministerpräsidenten haben sich hinter den Vorschlag gestellt. Daraus muss etwas werden. Sonst sehe ich nicht nur für diese Regierung schwarz.
Hat Olaf Scholz noch die nötige Kraft dafür?
Ich halte viel vom Bundeskanzler, setze großes Vertrauen in ihn. Ich wünsche ihm Erfolg. Wenn Olaf Scholz diese Krise beenden kann, ist das erstmal gut fürs Land.
Wie weit gehen Sie, um Scholz zu unterstützen? In der Union wird ja debattiert, ob man notfalls in eine Koalition unter ihm eintritt oder auf Neuwahlen setzt.
Wir in der Union sind Bürger mit staatspolitischer Verantwortung und zur Mitwirkung auf allen Ebenen bereit. Scholz ist der gewählte Kanzler. Er muss führen und sich nicht immer nur treiben lassen. Die Union hat viele Vorschläge unterbreitet, wie wir Deutschland aus der Krise führen können.
Wo ist in dieser Gleichung Friedrich Merz? Sie sind seit Ende 2017 Ministerpräsident und haben damit sechs Jahre mehr Regierungserfahrung als er. Sollte in diesen Zeiten jemand regieren, der noch nie ein Ministerium oder gar ein Land geführt hat?
Friedrich Merz hat die Bundestagsfraktion geeint. Unter seiner Führung ist das neue Grundsatzprogramm entstanden. Er ist der unangefochtene Oppositionsführer. Er hat sehr viel Arbeit und Leidenschaft investiert, dass es für die Union so läuft, wie es das gerade tut.
2021, als es noch zwischen Ministerpräsidenten Armin Laschet und Markus Söder um die Kanzlerkandidatur ging, verwiesen Sie auf Söders viele Fürsprecher in Sachsen, ohne selbst einer zu sein. Ist das immer noch so?
Markus Söder ist sehr beliebt in Sachsen. Er ist ein wichtiger Partner für mich, Hendrik Wüst ebenso. Aber Friedrich Merz ist unser Parteivorsitzender, der in Berlin die Dinge ordnet.
Ihre Positionen in der Russlandpolitik könnten kaum unterschiedlicher sein, da scheinen Sie mehr mit Sahra Wagenknecht zu vereinen. Ihnen wird vorgehalten, Sie würden sich für Verhandlungen mit Wladimir Putin einsetzen, obwohl der nicht über Frieden in der Ukraine sprechen will.
Ich habe meine Haltung zu diesem Krieg immer sehr deutlich gesagt und sehe meine Befürchtungen bestätigt. Statt diplomatische Initiativen zu ergreifen, sagt die deutsche Außenministerin, es sei nicht die Zeit für Diplomatie. Frau Baerbock will immer nur Waffen liefern, das ist zu wenig.
Der Kanzler wird von der Ukraine und von Ihrer Union dafür kritisiert, dass er keine Taurus-Marschflugkörper liefert.
Es ist gut, dass Olaf Scholz bei den Taurus-Raketen seine vorsichtige Linie hält. Ich habe ihm das neulich auch gesagt.
"Ostdeutschland ist ein Seismograf für gesellschaftliche Stimmungen"
Wie sähe die diplomatische Initiative, die Sie von fordern, aus?
Zuerst braucht es den Willen, diesen Krieg zu beenden. Dafür braucht es diplomatische Allianzen mit China, der Türkei und anderen Ländern, damit sie den Druck auf Putin erhöhen. Und es braucht den Willen, diesen Konflikt einzufrieren – zu akzeptieren, dass wir ihn in dieser Generation vielleicht nicht endgültig lösen können, dass nicht jeder Quadratmeter ukrainischen Gebietes sofort befreit werden kann, wofür ein unglaublicher Blutzoll zu entrichten wäre.
Fordern Sie, dass die Ukraine auf die Krim verzichtet?
Nein. Die Krim ist ukrainisches Territorium, worauf wir seit 2014 völlig zu Recht pochen. Die Frage ist nur, ob Kiew darauf beharrt, die Krim sofort zurückzubekommen, oder auf ein strategisches Zeitfenster in der Zukunft zu warten bereit ist. Weder Russland noch die Ukraine können diesen Krieg gewinnen.
Damit aber würde ein völkerrechtswidriger Angriff zumindest mit einem vorübergehenden Landgewinn belohnt. Russland würde auf Jahre ein Gebiet und die Menschen darin beherrschen.
Wir können nicht alle Fehler der Vergangenheit sofort beheben. Nach 2014, als die Krim besetzt wurde, hätten wir viel stärker auf die Umsetzung des Minsker Abkommens pochen müssen – auch durch die Ukraine. Das sagt heute niemand mehr. Wir hätten schon damals die Bundeswehr wieder richtig ausstatten sollen, um uns so verteidigungsbereit zu machen.
„Kriegstüchtig“ soll Deutschland sein, sagt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Was dachten Sie, als Sie davon gehört haben?
Deutschland soll in keinen Krieg hineingezogen werden. Deutschland soll wehrhaft sein, sich verteidigen können. Zum Glück hat Boris Pistorius den Begriff inzwischen etwas eingeordnet. Denn ich schätze ihn, er ist ein Glücksfall für die Bundeswehr, die große Hoffnungen auf ihn setzt.
Wenn Sie in derzeit Bürger auf der Straße treffen: Was hören Sie da?
Ostdeutschland ist ein Seismograf für gesellschaftliche Stimmungen. Das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat erodiert. Viele Menschen drohen uns verloren zu gehen. Ihre Probleme muss man lösen. Politikverschleierung und nette Worte reichen dafür nicht aus.