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Sachsens "Schrotter" und ihr Rekordstreik in Espenhain

Seit mehr als drei Monaten streiken Beschäftigte von SRW Metalfloat für einen Tarifvertrag. Das Werkstor wurde Pilgerstätte für zahlreiche Politiker. Hilfe versprachen schon fast alle Parteien – bis auf eine.

Von Gunnar Klehm
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Die rote Fahne der IG Metall ist vom Rauch der Feuertonnen inzwischen rußgeschwärzt. Als Bundestagsabgeordneter Gregor Gysi (Linke) ans Werkstor von SRW Metalfloat in Espenhain kam, sprach er von einem provisorischen Podest zu den Streikenden.
Die rote Fahne der IG Metall ist vom Rauch der Feuertonnen inzwischen rußgeschwärzt. Als Bundestagsabgeordneter Gregor Gysi (Linke) ans Werkstor von SRW Metalfloat in Espenhain kam, sprach er von einem provisorischen Podest zu den Streikenden. © kairospress

Auch an Streiktag 111 hat Kathrin Kroll ihre Zuversicht nicht verloren. Lächelnd begrüßt die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende ihre streikenden Kolleginnen und Kollegen vor dem Werkstor der Firma SRW Metalfloat in Espenhain. „Wir sind wie eine Familie, das schweißt zusammen“, sagt sie. Über ihre Winterjacke hat die 52-Jährige eine noch größere, signalfarbene Weste der Industriegewerkschaft Metall gezogen. „Wir halten durch“, sagt sie entschlossen.

Für Fotos der Pressefotografen blickt sie dann wieder ernst. Nach 16 Streikwochen weiß sie, dass Entschlossenheit, aber auch Aufmerksamkeit wichtige Faktoren sind, um erfolgreich zu sein. Für sie ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Geschäftsführung nicht gesprächsbereit ist.

Stattdessen ist das Werkstor in Espenhain zum Pilgerort für Politiker geworden. Die SPD-Bundesvorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken waren schon vor Ort, ebenso Grünen-Chefin Ricarda Lang, Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) und der neue Linken-Chef im Bundestag, Sören Pellmann. Auch von der FDP sei jemand da gewesen, sagt Kroll. Einzig von der AfD habe man noch nichts gehört. „Die wollen wir hier auch nicht“, springt ihr Betriebsrat Thomas Gerth bei. Weshalb nicht? Darüber wolle er sich jetzt nicht auslassen. Eine Partei der kleinen Leute sei das jedenfalls nicht, ist er überzeugt.

Acht Prozent mehr Lohn gefordert

Mit Beifall wird dagegen Linken-Bundestagsabgeordneter Gregor Gysi bedacht. Gerade ist er in einem Volvo mit Oschatzer Kennzeichen vorgefahren. Erst steigen Fahrer und Begleitpersonen aus dem Auto. Als Letzter zeigt sich Gysi den Wartenden.

Noch bevor er den Streikenden die Hände schütteln kann, wird er schon auf das provisorische Podest gebeten, um zu den Anwesenden zu sprechen. Neben der Journalistenschar sind das etwa 35 der im Ausstand befindlichen Beschäftigten. Für Gysi ist es ein Leichtes, hier Punkte zu sammeln. Das ist für die im Umfrage-Abschwung befindliche Partei auch bitter nötig, schließlich steht am 9. Juni dieses Jahres die Europawahl an und im September sind Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.

Die Forderungen der Beschäftigten seien aus seiner Sicht keineswegs übertrieben. „Wir müssen endlich die Deutsche Einheit herstellen und das bedeutet gleiches Geld in Ost und West“, sagt er und wird dafür erwartungsgemäß gefeiert.

Thomas Gerth und Kathrin Kroll sind Betriebsräte bei SRW Metalfloat in Espenhain uns streiken für einen Tariflohn - schon so lange, wie kaum eine Belegschaft vor ihnen.
Thomas Gerth und Kathrin Kroll sind Betriebsräte bei SRW Metalfloat in Espenhain uns streiken für einen Tariflohn - schon so lange, wie kaum eine Belegschaft vor ihnen. © kairospress

Die IG Metall fordert für die Beschäftigten von SRW Metalfloat acht Prozent mehr Entgelt, eine Erhöhung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes auf je 1.500 Euro und eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 38 Stunden. In einer Erklärung der Geschäftsführung heißt es, dass über diese Forderungen im Rahmen mehrerer Verhandlungsgespräche leider keine Einigung erzielt werden konnte.

Streikende haben Hausverbot

Stattdessen erklärte das Unternehmen, den von den Verhandlungen betroffenen Beschäftigten eine Entgelterhöhung von ca. 7 bis 8,5 Prozent mit Wirkung ab dem 1. Januar 2024 anzubieten. Eine Erhöhung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld solle es aber nicht geben, ebenso wenig eine Arbeitszeitverkürzung. Diese sei für die im Dreischichtbetrieb tätigen Beschäftigten auch längst Realität, heißt es.

In drei Schichten wird seit dem Streik gar nicht mehr gearbeitet. Davon gehen jedenfalls die Streikenden aus, die am Werkstor Tag und Nacht Wache halten. Zwar gibt es auch Kollegen, die sich nicht dem Streik angeschlossen haben. Die bisherige Produktionskapazität könne allein mit ihnen aber nicht aufrechterhalten werden. Das sind jedoch nur Mutmaßungen der Streikenden. Auf das Betriebsgelände dürfen sie nicht. Sie haben Hausverbot.

Die Konflikte sind vielschichtig, wie dieses Transparent vor dem Werkstor zeigt.
Die Konflikte sind vielschichtig, wie dieses Transparent vor dem Werkstor zeigt. © kairospress

Am Anfang habe man auch noch versucht, die Streikbrecher zu überzeugen. „Doch je mehr wir gesprochen haben, umso mehr verhärteten sich die Fronten“, sagt Betriebsrätin Kroll. Jetzt schweige man sich nur noch an, wenn man sich am Werkstor begegne. Auf einem meterlangen Banner zwischen zwei Bäumen werden die Streikbrecher als unsolidarische Kollegen, als schäbig und als Trittbrettfahrer tituliert.

Dass es keine handfesten Auseinandersetzungen gibt, darauf achtet seit Streikbeginn Sicherheitspersonal, das vom Unternehmen engagiert wurde. Die Männer in ihren schwarzen Arbeitsuniformen halten sich ein paar Meter abseits im Hintergrund. Sofort schicken sie jedoch mit energischen Ansagen Betriebsfremde vom firmeneigenen Parkplatz oder sorgen dafür, dass die Werkstore nicht versperrt werden.

Ruhe nur zu Weihnachten

Derweil hat sich die IG Metall auf länger eingerichtet. Nach Anmeldung bei der Gemeinde wurde auf dem öffentlichen Gehweg ein beheizbarer Kantinen-Container für die Streikenden aufgebaut. Dahinter brummt ein Notstromaggregat, steht ein Sanitärwagen und sind drei Haufen Brennholz aufgetürmt. Damit können etwa zwei Tage lang die Feuerkörbe befeuert werden, an denen sich die Streikposten vor dem Werkstor aufwärmen. Lediglich über die Weihnachtsfeiertage haben sie Ruhe gegeben und sind zu Hause geblieben. Auch jede Nacht sind sie nun wieder da.

Als Sortierer steht auch der 52-jährige Tino Schleicher bei dem Schrott- und Recyclingunternehmen am Band und pickt Metalle ab: Kupfer, Messing, Blei, Stahl, Aluminium. Es ist spezialisierte Technik im Einsatz, über die nur wenige Recyclingfirmen verfügen. Seit 28 Jahren arbeitet Schleicher in der Firma. Gebrodelt habe es schon länger.

Im Gewerbegebiet Espenhain wird seit Jahren Schrott recycelt.
Im Gewerbegebiet Espenhain wird seit Jahren Schrott recycelt. © Thomas Kretschel

In den 1990er-Jahren mit ihren hohen Arbeitslosenzahlen waren viele froh, dass sie den Job hatten. Manche Sortierer erhalten jetzt gerade mal 13,68 Euro die Stunde, nur wenig über dem gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro. Immer wieder gab es mal Lohnerhöhungen. Zu mehr Wohlstand hätten die aber nicht geführt. Im Gegenteil.

Die jüngste Inflation mit steigenden Preisen sorgte dafür, dass Schleicher und seine Kollegen sich weniger leisten können. Experten sprechen dabei von sinkenden Reallöhnen, obwohl der eigentliche Lohn gar nicht sinkt.

Jetzt sehen die SRW-Beschäftigten, die auch Sachsens „Schrotter“ genannt werden, die Chance gekommen, sich nicht mit Versprechungen abspeisen zu lassen, sondern wollen verbindliche Löhne in einem Haustarifvertrag festgelegt wissen. Zudem wollen sie endlich so viel verdienen wie ihre Kollegen im Westen Deutschlands. Die harte Arbeit bei Hitze, Kälte, Staub, Dreck und Lärm sei das allemal wert.

Einer der längsten Metaller-Streiks in Deutschland

Dass ein Tarifstreit meist auf einen Kompromiss hinausläuft, ist auch dem Verhandlungsführer der IG Metall, Michael Hecker, bewusst. Doch bei einer Sache wollen die Streikenden nicht nachgeben. Es müsse erstmals einen verbindlichen Haustarifvertrag geben.

Das Unternehmen SRW Metalfloat gehört zur Scholz Recycling Gruppe mit Sitz in Essingen in Baden-Württemberg. Ende 2016 übernahm mit der Chiho Environmental Group Limited ein börsennotiertes Schrottrecyclingunternehmen aus China die Scholz Holding GmbH. Die Chiho Environmental Group residiert in Hongkong und ist auf den Cayman Islands registriert. Der CEO der Scholz Recycling GmbH, Yongming Qin, ignoriert nach Angaben der IG Metall seit August 2023 die Gesprächsangebote der Gewerkschaft. „Der Arbeitgeber führt ein Theater auf, das man so selten gesehen hat“, sagt Verhandlungsführer Hecker. Linken-Politiker Gysi will nun einen Brief an den Botschafter Hongkongs schreiben. So etwas müsse nicht aussichtslos sein, erklärt er.

Die SRW-Beschäftigten halten schon so lange durch wie nur wenige vor ihnen. Als einer der längsten Streiks gilt der von Metallarbeitern 1956/57 in Schleswig-Holstein. Damals wurden nach 114 Tagen Streik die Forderungen nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tarifvertraglich geregelt. Heute ist die Lohnfortzahlung in Deutschland zur Selbstverständlichkeit geworden. Der gravierende Unterschied zum Streik in Espenhain ist jedoch, dass damals 18.000 Beschäftigte aus 15 Betrieben in den Ausstand getreten waren. Bei SRW arbeiten dagegen knapp 200 Beschäftigte. „Bei der Urabstimmung stimmten aber mehr als 90 Prozent für den Ausstand“, erklärt Hecker. Wie viele Streikbrecher es genau gibt, könne er nicht sagen.

Die SRW-Beschäftigten sind auf gutem Weg, Deutschlands Rekordhalter in der Länge von Tarifauseinandersetzungen zu werden. Die erst kürzlich angekündigten sechs Tage Streik der Lokführer wirken dagegen fast lächerlich kurz. Sie haben aber Auswirkungen auf mehr Menschen.

Finanzielle Einbußen trotz Streikgelds

Wie hält man die Kollegen so lange bei Laune? Von der Gewerkschaft gibt es zwar Streikgeld, doch das entspricht nicht annähernd dem Lohn. Der Auszahlbetrag ist auch nicht einheitlich für jeden. Eine Beispielrechnung macht die IG Metall auf ihrer Homepage auf. Wer mehr als fünf Jahre Gewerkschaftsmitglied ist und zuletzt einen durchschnittlichen Monatsbeitrag von 25 Euro gezahlt hat, erhält pro Woche 350 Euro Streikunterstützung. Das kann sich jeder online individuell ausrechnen lassen.

„Klar haben wir Einbußen. Dass das nicht leicht werden würde, war uns allen vorher klar“, sagt Betriebsrätin Kroll. Ihr Mann und ihre Familie stünden aber voll hinter ihr und den Forderungen der Kollegen. Das habe auch nach über 100 Tagen Streik nicht nachgelassen. Nun leben sie vom Gehalt ihres Mannes und dem Streikgeld. Dass dieses auch nicht ausgehen wird, versichert Hecker jedem Zweifler.

Bundestagsabgeordneter Gregor Gysi (2.v.r.) spricht mit Beschäftigten im Kantinen-Container, den die Gewerkschaft vor dem Betriebsgelände von SRW Metalfloat aufgestellt hat.
Bundestagsabgeordneter Gregor Gysi (2.v.r.) spricht mit Beschäftigten im Kantinen-Container, den die Gewerkschaft vor dem Betriebsgelände von SRW Metalfloat aufgestellt hat. © kairospress

„Woanders würde ich als Schichtleiter viel mehr verdienen“, sagt Betriebsrat Gerth. Allerdings wäre es ein Drama für den Zusammenhalt der Streikenden, würden jetzt Kollegen kündigen. Das habe es aber schon gegeben, erklärt Gerth.

Ministerpräsident kommt als nächster Politiker

Für Gewerkschafter Hecker ist der Ausstand in Espenhain mehr als ein Tarifkonflikt. Er glaubt, dass der Unwille des Unternehmens zu Verhandlungen sogar Auswirkungen auf deutsch-chinesische Wirtschaftsbeziehungen insgesamt haben könnte. Dabei ist es nicht so, dass mit chinesischen Investoren per se nicht verhandelt werden könnte. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo Tarifeinigungen erzielt worden sind. „Diese Herr-im-Haus-Mentalität des Herrn Yongming Qin ist nicht zeitgemäß, was Deutschland betrifft“, sagt Hecker.

Er ist täglich vor Ort und stehe jederzeit für Gespräche bereit. Von den Chefs halte aber niemand an, wenn sie in ihrem Auto an den Streikenden vorbei aufs Werksgelände rollen. Im Vorbeifahren gibt es höchstens mal ein Winken, heißt es. Die Muttergesellschaft soll dem SRW-Geschäftsführer bereits im August 2023 die Befugnis entzogen haben, Tarifverhandlungen zu führen. Das erklärt die IG Metall.

Als nächster Politiker hat sich am Donnerstag Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) angekündigt. Ob es dann zu Gesprächen mit der Geschäftsführung kommt, ist unklar.

Zusammen mit Heike Ermel und Michael Schwarze sitzt Tino Schleicher jetzt im Streik-Container der Gewerkschaft an einer der fünf Bierzeltgarnituren. Es riecht nach frisch gebrühtem Kaffee und Würstchen. Auf dem Tresen stehen gespendete Süßigkeiten. Die Wände sind mit Dutzenden Grußbotschaften beklebt. „Diese Unterstützung motiviert enorm“, sagt Betriebsrätin Kroll. Neben zahlreichen Gewerkschaftsorganisationen hängen auch Durchhalte-Grüße etwa von Möbelwerkern aus Niesky oder den Windradherstellern von Vestas.

Deren Beschäftigte hatten erst voriges Jahr im Sommer nach 123 Tagen Streik erstmals Tarifverträge durchgesetzt. Das gilt als längster Ausstand in der Geschichte der IG Metall. Die „Schrotter“ von Espenhain würden gern darauf verzichten, neue Rekordhalter zu werden.