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War das jetzt die Zeitenwende?

Wenn Krisen allgegenwärtig sind, scheinen große Worte wenig hilfreich. Gedanken zum Ende eines außergewöhnlichen Jahres.

Von Karin Großmann
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© Michael Kappeler/dpa

Als Sachsens letzter König noch nicht wusste, dass er Sachsens letzter König sein würde, weihte er in Dresden-Kaditz einen Flugplatz ein. Das war im Oktober 1913. Mein Großvater hielt dort als junger Soldat das Seil eines Zeppelins. Als er starb, war der erste Mensch längst im All gewesen und der erste Mensch auf dem Mond. Wenn ein Düsenjet durch die Schallmauer schoss, klirrten die Gläser im Küchenbüffet. Alles passte in dieses eine Großvaterleben. Zwei Kriege. Vier Staatssysteme. Sechs Währungen. Das Flugwesen entwickelte sich. Es entwickelte sich allmählich.

Die meisten Veränderungen schleichen sich langsam in den Alltag ein. Soziologen bezweifeln deshalb, dass man als Zeitgenosse die Tragweite der aktuellen Ereignisse wirklich begreifen kann. Ahnte Johannes Gutenberg, dass er mit der Erfindung des Buchdrucks die Thesen des Franziskanermönchs Luther verbreiten half und damit die päpstliche Allmacht stürzen würde? Ahnte der Londoner Eisenwarenhändler Thomas Newcoman, dass er mit der Konstruktion einer Dampfmaschine Industrie und Stadtentwicklung befeuern würde und den Aufschwung der Grünen gleich mit? Ahnte der Computerexperte Tim Berners-Lee, dass er mit der Idee vom weltweiten Netz die Kommunikation völlig neu definieren und endlose Debatten anzetteln würde über Datenschutz und digitale Demokratie? Nein, diese Männer konnten die Folgen nicht absehen. Das ging ihren Vorläufern und den Nachfolgern beiderlei Geschlechts ähnlich.

Nur bei rigorosen Ursachen werden die Wirkungen sofort spürbar. Plötzlich geschieht etwas Einschneidendes. Mit dem Bankrott des Deutschen Reiches wirft der sächsische König die Brocken hin. Mit dem Fall der Berliner Mauer endet die DDR. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine stockt der Bundeskanzler den Wehretat um hundert Milliarden Euro auf. Und kündigt auch offiziell die allgemeine Geschäftsgrundlage der Republik, wonach Waffen nicht in Kriegsgebiete geliefert werden. So sehen Zeitenwenden aus. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat die Zeitenwende, die Olaf Scholz am 27. Februar bei einer Sondersitzung des Bundestags postulierte, überraschungsfrei zum Wort des Jahres erklärt.

Der Großvater erzählte vom Zeppelin und dass er auf dem Flugplatz in Kaditz nicht rauchen durfte. Er rauchte gern und viel bis zu seinem Tod, Salem und F6. Von einer Zeitenwende sprach er nie. Nicht von Paradigmenwechsel, Epochenbruch oder neuer Ära, auch nicht von einem Game Changer, obwohl er des Englischen leidlich mächtig war.

Erich Honeckers Formulierung, es sei mit jähen Wendungen in der internationalen Politik zu rechnen, hat ihm im hohen Alter wohl bestenfalls ein Schulterzucken entlockt. Der Großvater war kein Freund großer Worte. Außerdem war er vollauf mit den Widrigkeiten des Alltags beschäftigt. Alle Veränderungen seiner Zeit erlitt er am eigenen Leib: Historie hautnah. Irgendwie überstand er den immer neuen Schlamassel.

Angesichts eines solchen Lebens könnte sich manche heutige Sorge relativieren. Leider funktioniert das kaum. Die Erzählungen von langen, beschwerlichen, aber letztlich erfolgreich absolvierten Fußmärschen über Stock und Stein trösten wenig, wenn der Schuh drückt. Und er drückt gerade gewaltig. Die Krisen scheinen allgegenwärtig zu sein: Ukrainekrieg, Rechtsruck und Fichtensterben, Corona, Demokratiedefizit und das Ding mit den Lieferketten, sämtliche Konflikte spitzen sich offenbar zu.

Die Versprechen der vergangenen Jahrzehnte zerplatzen

Die Versprechen der vergangenen Jahrzehnte für Wachstum, Wohlstand und Freibier für alle zerplatzen. Das haben Versprechen so an sich. Von Luftblasen erwartet auch niemand eine Haltbarkeitsgarantie. Oder hat wirklich jemand geglaubt, es könnte in diesem Jahrhundert immer so weiter aufwärtsgehen, nur weil es mit der Menschheit im Allgemeinen aufwärtsgeht seit dem ersten Höhlenfeuer? Konkret sieht die Realität immer anders aus. Gletscherwärter finden Feuer fatal.

Dinge ändern sich. Diese Lebenserfahrung des Großvaters potenziert sich heute. Denn die Konflikte spitzen sich nicht mehr nur weit hinten in der Türkei zu wie noch zu Goethes Zeiten. Jedes Land der Welt liegt direkt vor der globalen Haustür. Das Wort Schwellenangst bekommt eine neue Bedeutung. Es ist die Angst vor einem atomaren Krieg. Ältere Generationen kennen das Gefühl. Für Jüngere war diese Angst bislang so real wie die Fieslingshorde in der Fantasywelt von Mittelerde. Wenn jetzt jedoch in China ein Sack Reis umfällt, sind die Erschütterungen fast überall spürbar. Aber, und das ist der optimistische Teil, Dinge können sich auch zum Guten ändern.

Die nächste Zeitenwende hat der Bundeskanzler für den 15. April 2023 angekündigt. Bis dahin sollen alle deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Das könnte die Notwendigkeit erneuerbarer Energien verstärken.

Warum es ausgerechnet dieser Tag sein soll? Ein solches Datum wird doch sicher mit Absicht gewählt. Denn Zufälle gibt es in der Geschichte genug. Rein zufällig kollidierte zum Beispiel ein Passagierschiff auf seiner Jungfernfahrt kurz vor Mitternacht mit einem Eisberg. Am 15. April 2023 jährt sich der Untergang der Titanic zum 111. Mal.

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