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Radebeul: Der geheimnisvolle Weggang eines Gemeindevorstandes

Eine spannende und berührende Lebensreise erzählt der Roman „Haltepunkt Kötzschenbroda“ der Radebeuler Autorin Anja Hellfritzsch.

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Autorin Anja Hellfritzsch und Verleger Jens Kuhbandner mit dem Buch „Haltepunkt Kötzschenbroda“.
Autorin Anja Hellfritzsch und Verleger Jens Kuhbandner mit dem Buch „Haltepunkt Kötzschenbroda“. © Arvid Müller

Von Lilli Vostry

Radebeul. „Kein lautes Treiben, keine staubige Luft, nur das schöne Landleben …“ Das suchen doch die Ausflügler aus der nahen Residenzstadt Dresden in Kötzschenbroda. Davon ist Woldemar Vogel fest überzeugt. Als Gemeindevorstand wird er das Beste für den Ort sein. Doch er ist hin- und hergerissen von den vielen neuen Ideen. Was war nur los, dass die ganze Welt plötzlich alles verändern wollte?, fragt er sich. In einer Akte der Gemeindeverwaltung zu Kötzschenbroda aus dem Jahr 1889 steht sein plötzlicher Weggang vermerkt. Ohne nähere Angaben. Das mysteriöse Verschwinden des Gemeindevorstandes regte Anja Hellfritzsch an, der Sache nachgehen und war der Auslöser für ihren neuen Roman „Haltepunkt Kötzschenbroda“, der gerade im Notschriftenverlag Radebeul erschienen ist (346 Seiten, 16,90 Euro).

Eine historische Fotografie mit dem Bahnhofsgebäude auf dem Buchtitel stimmt auf die Geschichte ein. Der Bahnhof ist der Anfangs- und Endpunkt einer Lebensreise voller gesellschaftlicher Auf- und Umbrüche und Turbulenzen, die den Leser in die Zeit in Kötzschenbroda Ende des 19. Jahrhunderts und den Beginn der Industrialisierung mitnimmt. Lebhaft, spannend, berührend und anschaulich, zum Schmunzeln und Nachdenken anregend, mit viel Lokalkolorit und originalen Abbildungen erzählt Anja Hellfritzsch die wechselvolle Geschichte des Gemeindevorstandes Vogel und enthüllt sein Geheimnis.

Spur in einer alten Akte im Stadtarchiv entdeckt

Seinen Namen las sie in einer alten Akte im Stadtarchiv Radebeul, als sie an einer Ausgabe des neuen Stadtlexikons mitarbeitete, in dem vergangene, nicht mehr lebende Persönlichkeiten der Lößnitzstadt vorgestellt werden. Sie interessiert sich sehr für Historie und Heimatgeschichte, stöbert gern in Archiven und bringt alte, vergessene Geschichten ans Licht, sagt sie. Mit ihren Büchern holt Anja Hellfritzsch sie in die Gegenwart.

„Haltepunkt Kötzschenbroda“ ist bereits ihr dritter Roman. Ihr erstes Buch „Stolpersteine ​​– ein Familiengeheimnis“ auf den Spuren ihres Urgroßvaters erschien 2015 in einem Thüringer Verlag und das zweite Buch „Der Theatermann“ über das bewegte Leben des königlichen Hofschauspielers Maximus René 2020 im Verlag DDV-Edition. In seinem einstigen Haus in Radebeul wohnt Anja Hellfritzsch jetzt mit ihrer Familie. Sie wurde 1973 in Sachsen-Anhalt geboren, hat Betriebswirtschaft studiert, arbeitet bei einer Krankenkasse und schreibt gern zeithistorische Geschichten.

Recherche zur Ortsgeschichte

Drei Jahre hat sie am Buch „Haltepunkt Kötzschenbroda“ gearbeitet, recherchierte die Ortsgeschichte, zur Familie des Gemeindevorstandes und ihres Umfelds. „Alle Personen im Buch gab es wirklich. Ich erzähle, was passiert sein könnte, vor dem Hintergrund des tatsächlichen Geschehens“, sagt Anja Hellfritzsch. Das Buch spielt von 1882 bis 1889. Damals war Kötzschenbroda von Weinbau und Landwirtschaft geprägt. Bald kamen mit der Dampferanlegestelle und Eisenbahn mehr Leute in den beschaulichen Ort an der Elbe, und die Nähe zur Residenzstadt Dresden löste auch einen Bauboom aus.

Das bringt den Gemeindevorstand und einstigen Besitzer der Löwenapotheke in Kötzschenbroda Woldemar Vogel bald in innere Konflikte im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, Bewahren und Erneuern. „Er hat eine persönliche Tragödie und die Umbrüche zu verkraften, da seine große Liebe Marie bei der Geburt ihres ersten Kindes starb, und versuchte, alle Erinnerungen an die glücklichen Zeiten in Kötzschenbroda zu konservieren. Doch dann kommen unerwartete Sachen ans Licht, die den Gemeindevorstand in Bedrängnis bringen und in einer Katastrophe enden“, so die Buchautorin.

Vogel wohnte mit seiner zweiten Frau Elisabeth und den Kindern Mariechen und Hans in einem schlichten, zweigeschossigen Landhaus, in dessen Erdgeschoss sich das Gemeindeamt seinen Sitz hatte, unweit vom Bahnhof in der Harmoniestraße 3. Direkt vis-à-vis zur Restauration „Harmonieschlößchen“, wo die Gemeinderatsmitglieder oft tagten, um über aktuelle Themen wie Armenfürsorge, die Eröffnung der Sonntagsschule durch den Gewerbeverein oder die Blutlausplage an den Obstbäumen zu beraten und danach bei Bier im tabakgeschwängerten Gastzimmer persönliche Neuigkeiten auszutauschen.

Im Buch kommen auch bekannte Persönlichkeiten vor, Politiker wie Wilhelm Liebknecht und August Bebel, der erfolgreiche neue Apotheker Hermann Ilgen, Spitzname „Ilgen Mäusetod“, und der Schriftsteller Gerhart Hauptmann, der damals noch Kunststudent war und von Vogel mit der wohlhabenden Marie Thienemann vom Hohenhaus getraut wurde. Im Epilog am Ende des Buches steht, was aus den Figuren im realen Leben geworden ist. „Es war ein epochaler Umbruch und braucht Mut, mit den Veränderungen umzugehen, die wir auch heute erleben. Trotzdem muss man nach vorne gehen“, sagt Anja Hellfritzsch. Das Buch zeigt auch, dass es damals einen anderen Gemeinsinn gab, viele Sport- und Gesangsvereine und die Menschen guckten mehr aufeinander. Diesen Gemeinschaftssinn vermisse sie heute etwas.

  • Der Roman „Haltepunkt Kötzschenbroda“ ist überall im Buchhandel und natürlich im Notschriftenverlagsbuchladen auf der Bahnhofstraße erhältlich.