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Gemeldeter Prigoschin-Tod: Ein Absturz, der Putin stärkt – und zugleich schadet

Wenn ein Mann stirbt, der einen Putsch anführte, ist es nahezu egal, ob Putin sich tatsächlich gerächt hat. Dass die meisten es für möglich halten, genügt zur Abschreckung. Vorerst. Ein Kommentar.

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Russlands Präsident Wladimir Putin während einer Veranstaltung zum 80. Jahrestag der Schlacht von Kursk im Zweiten Weltkrieg. Ließ Putin das Flugzeug mit Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin abschießen?
Russlands Präsident Wladimir Putin während einer Veranstaltung zum 80. Jahrestag der Schlacht von Kursk im Zweiten Weltkrieg. Ließ Putin das Flugzeug mit Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin abschießen? © Pool Sputnik Kremlin/AP

Von Christoph von Marschall

Jewgeni Prigoschin, Chef der russischen Wagner-Söldner, ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. So viel scheint klar zu sein. War es ein Unglück oder ein Anschlag? Das führt ins Feld der Spekulation.

Und damit mitten hinein in den Bereich, der manchmal grau erscheint, aber in Extremsituationen erfreulich klar ist: Was unterscheidet Rechtsstaaten von Diktaturen? Der Rechtsstaat besteht auf beweisbarer Objektivität. Der Diktatur ist das egal, sie nutzt Spekulation und Unklarheit sogar für ihre Propagandainteressen.

Unfall oder Anschlag? In einer Diktatur nicht so wichtig

Wladimir Putins Russland ist eine Diktatur. Für die Stabilität des Systems ist es zweitrangig, ob Prigoschin durch einen Unfall oder einen Anschlag ums Leben kam. Wenn ein Mann stirbt, der vor zwei Monaten einen Putsch gegen Putin anführte, ist es nahezu egal, ob Putin sich tatsächlich gerächt hat. Es genügt, dass die meisten es für möglich halten. Das dient der Abschreckung aller Systemfeinde.

Prigoschins Absturz als Pointe der Geschichte

Wenn aber Russlands Gegner – vulgo: der Westen – sich erdreisten sollten, nahezulegen, dass Prigoschin durch einen staatlichen Racheakt umgebracht wurde, nutzt das ebenfalls der russischen Propaganda. Wo sind die Beweise? So wird Moskau fragen. Und macht sich die Prinzipien des Westens zunutze, die es selbst nicht befolgt.

In Rechtsstaaten wie Deutschland, den EU-Ländern und den USA wird die Rückfrage Zweifel auslösen. Offene demokratische Gesellschaften haben Skrupel. Darf man offen oder verdeckt eine Anklage erheben, ohne sie belegen zu können?

Selbstverständlich ist es bis zur zweifelsfreien Klärung der Ursache möglich, dass Prigoschin Opfer eines technischen Versagens wurde. Dann hätte der Zufall oder die Weisheit der Geschichte mal wieder seine oder ihre Vorliebe für Pointen bewiesen.

Ein russischer Soldaten bewacht eine Straße in der Nähe des abgestürzten Privatjets in der Nähe des Dorfes Kuschenkino in der Region Twer.
Ein russischer Soldaten bewacht eine Straße in der Nähe des abgestürzten Privatjets in der Nähe des Dorfes Kuschenkino in der Region Twer. © AP

Was für einen Anschlag spricht

Vieles spricht aber dafür, dass es ein Anschlag war, wie ihn Geheimdienste ausführen. Embraer-Jets gelten als sichere Maschinen. Über außerordentliche Wetterprobleme auf der Flugroute ist nichts bekannt.

Hinzu kommt die Symbolik des Zeitpunkts. Der 23. August ist ein geschichtsträchtiges Datum: exakt zwei Monate nach Prigoschins Marsch auf Moskau, dazu Jahrestag der Verteidigung des russischen Vaterlands in der Schlacht von Kursk sowie des Hitler-Stalin-Pakts.

Auch hier demonstriert der Kreml in seiner Propaganda, unabhängig von der Ursache, flexible Doppelzüngigkeit: ob patriotisches Datum, ob Ausweis brutaler Machtpolitik – beides hilft der Selbstdarstellung.

Lange galt er als Freund und „Putins Koch“

Sofern man die Welt mit den Augen des geschulten KGB-Agenten Putin sieht, hat einer wie Prigoschin ein Todesurteil verdient. Er hat sich gegen das System gestellt. Dass Prigoschin lange ein Weggefährte war – dafür steht sein Spitzname „Putins Koch“ –, beschert ihm keine mildernden Umstände, sondern macht die Sache schlimmer. Er gilt als Verräter.

Prigoschins Marsch auf Moskau hatte Putin schwach erscheinen lassen. Die „Lösung“ des Machtkampfs – die Verbannung der Wagner-Söldner nach Belarus – hatte zudem Alexander Lukaschenko, den dortigen Machthaber, gestärkt. Putin musste die Machtverhältnisse klären. In Diktaturen wie Russland ist das wirksamste Mittel dafür die Todesstrafe. Mit Prigoschins Tod wird auch Lukaschenko einen Kopf kleiner.

Diese Art der menschenverachtenden Machtpolitik funktioniert für den Moment – aber nicht ewig. Dissidenten werden im In- und Ausland ermordet, auch in Deutschland. Oder sie erhalten wie Alexander Nawalny immer neue Gefängnisstrafen.

Einerseits festigt das Regime damit seine Herrschaft durch Abschreckung. Andererseits wachsen die Zweifel an seiner Dauerhaftigkeit, wenn immer mehr Opposition aus immer mehr unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen sichtbar wird.

Irgendwann wird sich das System Putin auch mit immer mehr Terror nach innen nicht mehr gegen den Machtverlust stemmen können.