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Warum der Osten Russland besser versteht

Will Putin wirklich Krieg? Viele Ostdeutsche sind da skeptischer als die schrillen Warnungen im Westen. Und dafür gibt es gute Gründe. Ein Kommentar.

Von Olaf Kittel
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SZ-Autor Olaf Kittel fragt sich, warum der Blick auf Russland im Osten und Westen Deutschlands oft so unterschiedlich ist.
SZ-Autor Olaf Kittel fragt sich, warum der Blick auf Russland im Osten und Westen Deutschlands oft so unterschiedlich ist. © A. Zemlianichenko/AP/dpa, SZ

Sie ist geschickt aufgetreten in Moskau, die neue Außenministerin Annalena Baerbock. Sie vermied schrille Töne, betonte Dialog- und Kooperationsbereitschaft und fand zum russischen Truppenaufmarsch den weisen Spruch: "Es ist schwer, dies nicht als Bedrohung zu sehen." Ihr Auftritt hob sich wohltuend ab von vielen harschen Worten und Boykottdrohungen, die sich auch in den Medien niederschlugen. Die Süddeutsche Zeitung behauptete "So steigert Deutschland die Kriegsgefahr" – gemeint ist die zurückhaltende deutsche Politik. Der Spiegel fordert, "Putin als Gegner betrachten – nicht als Partner". Und die FAZ malt gleich den Teufel an die Wand: "Nach der Ukraine ist Europa dran." Wirklich? Im Ernst? Ist es so weit?

Im Osten werden solche Reaktionen bestenfalls mit Ratlosigkeit verfolgt – oder mit Kritik quer durch die politischen Lager. Wie kann es sein, dass sich die Bewertung des gleichen Sachverhalts in Ost und West 30 Jahre nach der Wiedervereinigung so deutlich unterscheiden?

Grund 1

Der Osten kennt die Russen. Viele ältere Bürger hatten einst Kontakte in die Sowjetunion, manche entstanden schon mit Brieffreundschaften in der Schule, andere durch berufliche Beziehungen, wieder andere trafen interessante Leute auf ihren Reisen. Sie lernten oft derb-herzliche Menschen kennen, kulturinteressiert und belesen, unendlich treu. Diese Bindungen haben Freundschaften geschaffen, weitab von Parteigeboten. Diese Bindungen haben, ob sie nun noch bestehen oder nicht, vor allem eines erzeugt: Grundvertrauen.

Ganz ähnliche Erfahrungen haben Westdeutsche mit den USA gemacht. Auch diese Bindungen wirken sich heute auf die Beurteilung aktueller Ereignisse aus, die fast immer positiver ausfallen als die der Ostdeutschen, denen diese alten Bindungen fehlen.

Grund 2

Der Osten ist sich schon immer sicher, dass die Russen keinen Krieg wollen. Der Schriftsteller und Rebell Jewgeni Jewtuschenko dichtete Anfang der 60er-Jahre: "Meinst du, die Russen wollen Krieg?" Das Gedicht kannte in der DDR jedes Kind. Es war ein verzweifelter Ruf gegen die Kriegsrhetorik jener Zeit, als jede Seite der anderen so ziemlich alles zutraute. Er verwies in seinem Gedicht auf die Verwüstungen und das Leid und die vielen Toten, die der Weltkrieg in seinem Land hinterließ. Kein anderes hat mehr gelitten, in keinem anderen ist das "Nie wieder" präsenter. In Ostdeutschland weiß das jeder, mindestens jeder Ältere. Es ist ein Fortschritt, dass diese Tatsache heute in ganz Deutschland auch klar so benannt wird.

Grund 3

Der Osten hat die neue europäische Sicherheitsordnung von Anfang an mit Skepsis begleitet. Sollte es wirklich zukunftsträchtig sein, wenn die Nato sich nach Osten ausdehnt? Wird der Nato-Russland-Rat nicht mehr sein als ein Trostpflaster für Moskau? Leider haben sich die Befürchtungen bestätigt: Russland fühlt sich heute mehr denn je von der Nato eingekreist und bedroht. Dass viele Osteuropäer geradezu unter den Nato-Mantel geflüchtet sind, ist für Russland leider kein Grund, die eigenen Positionen zu überdenken und gute Beziehungen zu den Nachbarn anzustreben.

Ein außenpolitisches Grundprinzip wurde in den 90er-Jahren offensichtlich nicht ausreichend berücksichtigt: Sicherheit gibt es auf Dauer nur, wenn beide Seiten sich sicher fühlen. Nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund für die Zuspitzung der letzten Wochen.

Grund 4

Der Osten findet recht eigene Bezüge zu Wladimir Putin, einige tauchen ihn sogar in ein rosarotes Licht. Putin ist es mit Großmachtgetöse, aber auch vielen kleinen Entscheidungen wie der Wiedereinführung der sowjetischen Nationalhymne gelungen, seinen Landsleuten Selbstbewusstsein zurückzugeben. Dies ist nicht wenig nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den dort viele auch persönlich als Katastrophe empfanden. Dies kann man im Osten nach vielen großen und kleinen Demütigungen ganz gut nachempfinden. Dass Putin sich im Verlauf seiner Amtszeit zum lupenreinen Autokraten entwickelte, der im Stil untergegangener Großmächte Militär an der Grenze auffährt, um andere unter Druck zu setzen, wird dabei von manchem leider ausgeblendet.

Putin wird im Osten zwar unterschiedlich bewertet, die meisten trauen ihm Holzhammer-Aktionen wie auf der Krim zu, aber einen größeren Krieg nicht. Denn: Putin ist gewiss kein Dummkopf. Ein Einmarsch in der Ukraine würde Russland automatisch zum Verlierer in Europa machen, politisch und wirtschaftlich isoliert. Dann wäre es wohl vorbei mit den lukrativen Rohstoffexporten.

Grund 5

Nicht nur der Osten hat gute Erfahrungen mit deutsch-russischer Zusammenarbeit gesammelt, die Wirtschaft baut inzwischen darauf, und die Politik weiß, dass gute Kontakte helfen, über schwierige Zeiten zu kommen. Die neue Bundesregierung zeigt mit ihrem vorsichtigen Agieren, dass sie weiter Mittler sein will und auf die Gegnerrolle gern verzichtet. Dies kommt im Osten gut an.

Eigentlich sollte jetzt die Ostdeutsche Angela Merkel nach ihrer Auszeit eine Mittlerrolle übernehmen. Denn sie verfügt über das, was gerade besonders gebraucht wird, um die schwierige Situation zu entschärfen: Verständnis für die andere Seite.