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Wie eine russische Bloggerin auf der Flucht vor Putin nach Dresden kam

Natalia Kiseleva ließ sich in Russland den Mund nicht verbieten. Sie nahm dafür Haft, einen Prozess und berufliche Nachteile in Kauf, erträgt Hass-Mails. Dann blieb nur noch die Flucht - nach Dresden.

Von Olaf Kittel
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Eine Russin in Dresden. Die Journalistin und Bloggerin Natalia Kiseleva hat hier politisches Asyl bekommen.
Eine Russin in Dresden. Die Journalistin und Bloggerin Natalia Kiseleva hat hier politisches Asyl bekommen. © Jürgen Lösel

Der 2. März 2014 ist ein historischer Tag für Natalia Kiseleva. Da demonstrierten in Moskau Tausende gegen die gerade vollzogene Besetzung der Krim, ungewöhnlich viele. Sie ahnten wohl, wie die Entwicklung in Russland weitergehen würde.

An jenem Tag wurde Natalia Kiseleva mit 660 anderen auf dem Roten Platz festgenommen und in Awtosaks gezwängt, kleine Polizeibusse, die bei Demonstrationen immer bereitstehen. 24 Stunden musste sie, die Hände auf den Rücken gebunden, ohne Wasser und ohne Nahrung im Polizeigewahrsam verbringen. Den Weg zur Toilette begleiteten zwei schwer bewaffnete Polizisten. So schildert es die heute 39-Jährige.

Ihren Eltern habe sie lieber nichts davon erzählt, sie wollte keinen Streit. Natalia wuchs in einer Offiziersfamilie auf, ihr Vater war Oberst an einer Militärakademie und Professor für Mathematik. Die Familie ihrer früh verstorbenen Mutter aber stammt aus der Ukraine, als Kind verbrachte Natalia jeden Sommer einige Wochen dort auf dem Dorf. Sie sang die ukrainischen Lieder, las die ukrainischen Kinderbücher, lernte die Sprache. Lange Zeit war das ganz normal, auch für den Papa. Erst später meinte er, Natalia solle sich lieber um eine Heirat kümmern, als sich auf der Straße in die Politik einzumischen.

Das Mathestudium absolviert sie noch ihrem Vater zuliebe, aber schon in dieser Zeit beginnt sie mit journalistischer Arbeit. „Meine erste freie Entscheidung“, sagt sie heute. Sie beginnt bei einem lokalen Fernsehsender in Moskau, moderiert Unterhaltungssendungen. Nach und nach spezialisiert sie sich auf Kultur- und Kunstthemen, arbeitet für verschiedene Medien wie den Nachrichtensender Westi.

Nicht mehr für staatsnahe Medien arbeiten

Ab 2011 nimmt sie an Protesten teil, seit der Festnahme und dem folgenden Prozess ist diese Einmischung fester Bestandteil ihres Lebens. Nicht nur die Proteste und ihre Festnahme 2014 haben sie geprägt, auch der folgende Prozess. Ihr wurde vorgeworfen, die Demonstration organisiert zu haben. Sie verteidigt sich mithilfe des prominenten Memorial-Anwalts Ilja Nowikow, der inzwischen selbst als „Auslandsagent“ eingestuft wurde, seit einigen Tagen wird er von der Polizei gesucht und lebt zurzeit in der Ukraine.

Vor Gericht bestreitet Natalia Kiseleva, die Demo organisiert zu haben, und verteidigt vehement ihr Recht auf Versammlungs-, Rede- und Gedankenfreiheit, alles festgeschrieben in der russischen Verfassung. Die wichtigsten Passagen kennt sie auswendig. Doch der Richter, ein treuer Diener des Staates, hört kaum zu und verurteilt Natalia Kiseleva zu einer Geldstrafe von 10.000 Rubel.

Danach steht für sie fest, dass sie nicht mehr für staatsnahe Medien arbeiten wird. Ab und an schreibt sie für unabhängige Medien, auch für ausländische. Und sie gründet, um von ihrer Arbeit leben zu können, eine PR-Agentur, viele kritische Journalisten machen es wie sie. Zu ihren Kundinnen gehört ein in Frankreich lebendes und in Russland sehr bekanntes Model.

Eigener Telegram-Kanal "Natasha Daily"

Besonders wichtig ist ihr die Arbeit als Bloggerin. Sie produziert für eigene Kanäle in mehreren sozialen Netzwerken, arbeitet für ukrainische Medien, schreibt Kolumnen für die Website der Maidan-Bewegung. Vom russischen Staat wird sie dafür nicht offiziell verfolgt, aber russische Trolle schießen sich auf sie ein, um sie einzuschüchtern, wie sie glaubt. Bis heute bekomme sie Mails, die sie wahlweise als ukrainische Hure, als Verräterin, als Schwein bezeichnen und zum Verlassen des Landes auffordern. „Aber das macht mir keine Angst“, sagt Kiseleva. „Ich werde dann nur noch wütender auf das Putin-Regime“.

Hat sie geglaubt, dass Putin im Februar den Krieg gegen die Ukraine beginnt?

„Ich habe einige Tage vorher verstanden, dass es wohl losgehen wird. Aber ich wollte es nicht glauben.“

Sie verweist darauf, dass doch auch in Russland alle mit diesem „Nie wieder Krieg!“ aufgewachsen seien, dass fast alle Familien Opfer im Weltkrieg zu beklagen hatten. Ihr Opa verlor bei Berlin beide Beine. „Wir hatten doch so viel getan, dass der schreckliche Krieg endet. Und jetzt beginnen wir einen neuen!“ Am 23. Februar liest sie morgens um vier Uhr die Nachrichten. „Ich konnte es kaum glauben: Kiew wird bombardiert. Die Heimat meiner Mutter.“

Noch am selben Tag benennt sie ihren Telegram-Kanal „Natasha daily“ um in „Natasha daily against war“. Dort hat sie 13.500 Follower. Dann postet sie sieben Puschkin-Porträts mit der Bildunterschrift „19. Jahrhundert“. Ihre Follower wussten, was das bedeutet: Wir treffen uns um 19 Uhr zum Protest auf dem Puschkin-Platz. Viele kommen, aber auch die Polizei ist schon da. Sie rennt immer wieder weg, viele andere werden festgenommen. Schon am nächsten Tag kommt sie nicht einmal mehr aus dem U-Bahnhof raus: überall Polizei. Sie gibt noch Interviews für das ukrainische und das estnische Fernsehen.

Wenige Tage später hätten Polizisten vor ihrer Tür gestanden, berichtet sie. Sie öffnet nicht. Kurz danach wird klar, dass die Duma ein Gesetz beschließen wird, das das Wort „Krieg“ verbietet und angebliche Fake News über die russische Armee mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft.

Visum vom letzten Griechenland-Urlaub

Natalia Kiseleva wird klar: Ich muss weg, rasch. Auch ihre Freunde drängen sie zu diesem Schritt. Eine Freundin gibt ihr die Schlüssel zu ihrer Wohnung im aserbaidschanischen Baku. Am 4. März, als die Duma das Gesetz beschließt, sitzt sie bereits im Flugzeug. Als Abschied von der Heimat hatte sie sich am Abend zuvor noch Tolstois „Krieg und Frieden“ im Theater angesehen. Mit ihrem Freund macht sie Schluss, er habe begonnen auch in persönlichen Schreiben übervorsichtige Sprache zu verwenden. Nicht ihr Ding.

In Baku überlegt sie, wie es weitergehen soll. Aserbaidschan ist ihr damals nicht sicher genug. Sie erwägt: Deutschland oder Frankreich? Und entscheidet sich für Deutschland, weil Kanzler Scholz bereits Ende Februar erklärt hat, russische Dissidenten unterstützen zu wollen. Vielleicht spielt auch ein klein wenig eine Rolle, dass sie in Kindertagen positive Gefühle mit der DDR verband. Offizierskollegen ihres Vaters, die hier stationiert waren, schickten regelmäßig Pakete mit Spielzeug und Kleidung. Jeans waren besonders begehrt.

Überrascht stellt sie in Baku fest, dass plötzlich ihre Kreditkarten nicht mehr funktionieren und sie nicht an das Geld auf ihrem Konto kommt – eine Folge der westlichen Sanktionen, die auch die Falschen treffen. Aber eine Followerin aus der Schweiz bezahlt ihr das Ticket nach Berlin, über Bekannte erhält sie eine Kontaktadresse bei Dresden. Sie reist mit einem Schengenvisum ein, das vom letzten Griechenland-Urlaub noch gültig ist.

Propaganda: Der Westen will angreifen

Am 16. März kommt sie in Dresden an. Eine Zeit lang wohnt sie privat, dann monatelang in einer Flüchtlingsunterkunft. Sie stellt einen Asylantrag, wird zum Interview in die Flüchtlingsbehörde eingeladen, es dauert über zehn Stunden. Sie erzählt ihre ganze Geschichte. Aber die Entscheidung dauert und dauert, es lag wohl an dem Griechenland-Visum. Vielleicht auch daran, dass aus Russland Geflüchtete besonders unter die Lupe genommen werden. Das Leben in der Sammelunterkunft und die Warterei bringen die starke Frau an ihre Grenzen. Heute weiß sie, dass viele Flüchtlinge oft viel länger warten müssen als sie, und dass sich hier auch viele melden, die in der Heimat nicht in Gefahr sind.

Ende Oktober und nach Überprüfung ihrer Angaben kommt endlich die erlösende Nachricht: Sie erhält politisches Asyl.

Nun wohnt sie in Dresden in einer eigenen Wohnung, die sie sich mit einer anderen Geflüchteten teilt. Sie ist erleichtert und froh. „Jetzt lebe ich in Sicherheit und kann endlich frei sprechen. Dafür bin ich Deutschland sehr dankbar. Ich darf jetzt gefahrlos sagen: Putin ist der Verantwortliche für den Krieg – und die russische Armee begeht Kriegsverbrechen.“ Sie hält weiter den Kontakt zu ihrer Familie. Nicht alle verstehen sie, eine Cousine hat sie „Verräterin“ genannt, einige Freunde antworten nicht mehr. Und die Trolle wissen auch schon Bescheid: „Man kann dich auch in Dresden finden“, schrieb ihr bereits einer.

Natalia Kiseleva treibt um, warum so viele ihrer Landsleute den Krieg und die Freiheitsbeschränkungen einfach hinnehmen. Ja, Angst spielt eine große Rolle. Ja, die Propaganda ist mächtig. Ja, Menschenrechte waren in Russland noch nie bedeutsam, Russen nehmen sich traditionell nicht so wichtig. Ja, kritisches Denken ist nicht sehr verbreitet. Deshalb will sie, nun von Dresden aus, weiter zur Aufklärung beitragen, berichten, dass die Deutschen keineswegs die Russen hassen, wie es die staatliche Propaganda behauptet. Dass der Westen keineswegs ihr Land überfallen und ihnen ihre Kultur aufzwingen will.

In die Heimat zurück? Nur ohne Putin

Deshalb ist Natalia Kiseleva weiter als Bloggerin unterwegs und beschreibt ihr Leben hier. Deshalb plant sie ein Buch mit dem Arbeitstitel „Frau mit Untertiteln“ – weil sie jetzt so viel erklären muss, wenn sie sagt, dass sie Russin ist. In diesem Buch will sie die Gefühlswelt von Schriftstellern, die über den Zweiten Weltkrieg geschrieben haben – Böll, Döblin, Remarque, Fallada – mit ihrer Gefühlswelt vergleichen. Sie will die deutsche Nazi-Propaganda mit der russischen heute ins Verhältnis setzen. Und sie will vor allem zeigen, wie unterschiedlich sich die deutsche und die russische Gesellschaft entwickelt haben.

Ein Beispiel hier hat sie besonders beeindruckt: Dass Schüler mit ihren Lehrern zusammen ehemalige Konzentrationslager besuchen, um aus diesem schrecklichen Geschehen zu lernen. In Russland dagegen, meint Natalia Kisileva, sei es undenkbar, dass Schüler mit ihren Lehrern zusammen in einen Gulag fahren.

Und, was glaubt sie, wann sie zurück in ihre Heimat kann? Natalia Kiseleva zögert mit der Antwort. Wohl erst, wenn Putin weg ist. Wenn die Grundrechte in Russland gesichert sind. Wenn der Krieg vorbei ist. Wenn die politischen Gefangenen frei sind.

Aber das kann dauern. Ihr ist klar geworden, dass sie auch nicht zeitweise zurück in ihre Heimat kann, ohne ihren Status als Asylantin in Deutschland zu verlieren. „Ich liebe doch meine Heimat, auch wenn ich meinen Staat hasse.“