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Warum wir Sanktionen als Druckmittel auch künftig brauchen werden

Noch nie wurden so häufig wirtschaftliche Zwangsmittel gegen Staaten, Firmen und Verantwortliche verhängt. Das muss trotz allem auch so bleiben. Ein Gastbeitrag.

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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Reaktion des Westens drohen den Trend zu mehr Sanktionen weiter zu befeuern.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Reaktion des Westens drohen den Trend zu mehr Sanktionen weiter zu befeuern. © www.imago-images.de

Von Christian von Soest

Seit dem Beginn von Russlands völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 ist das Thema Sanktionen wieder in aller Munde, werden ihre Wirkungen kontrovers diskutiert. Die Debatte scheint dabei oft nur zwei unversöhnliche Lager zu kennen: Einerseits diejenigen, die Sanktionen für anmaßend, teuer und völlig nutzlos halten. Demnach sollten wir am besten ganz auf die Zwangsmittel verzichten. Auch in der Forschung ist die Skepsis weitverbreitet. Während eine prominente Studie des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Gary Hufbauer mit Kolleginnen und Kollegen ungefähr zwei Drittel aller Sanktionen für Fehlschläge hält, gehen andere von einer noch viel höheren Misserfolgsquote aus.

Die Gegenseite verbindet mit der Wirtschaftswaffe dagegen völlig überzogene Erwartungen. Wie ist es anders zu erklären, dass Kritiker wiederholt die harten Sanktionen gegen Russland anzweifeln, weil diese offensichtlich nicht den russischen Vormarsch in der Ukraine stoppen und Russlands Präsidenten Putin zum Rückzug zwingen konnten? Doch sowohl die „Pessimisten“ als auch die „Optimisten“ zeichnen ein Zerrbild dieses zentralen Machtmittels der internationalen Politik.

Sanktionen haben mit Menschen zu tun, sie betreffen uns

Zunächst sind Sanktionen nicht nur Mittel, um einen Kurswechsel beim Gegenüber zu erzwingen. Die Forschung bezeichnet diese Wirkung als „Coercing“. In der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Großmacht Russland waren die Aussichten, den Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine mit Wirtschaftssanktionen zu erzwingen von Anfang an verschwindend gering. Allerdings beschränken die Strafen des Westens massiv den Handlungsspielraum Moskaus – in der Forschung „Constraining“ genannt – und senden ein kostenträchtiges Signal über zentrale völkerrechtliche Normen wie die territoriale Integrität eines Landes („Signaling“).

Dies muss neben den humanitären Kosten in die Bewertung der westlichen Maßnahmen einbezogen werden. Wichtig ist: Sanktionen haben immer mit Menschen zu tun, sie betreffen uns direkt. Sie bestrafen gravierendes Unrecht und von Machthabern verursachtes unermessliches Leid, wie 2014 den Abschuss des Passagierflugzeugs MH-17 durch russisch kontrollierte Truppen über der Ukraine. Bei dem Absturz kamen mehr als 300 Menschen ums Leben, die auf dem Weg von Amsterdam-Schiphol in den Urlaub nach Malaysia waren.

Sogar Flugzeuge werden zur Landung gezwungen

2018 wurde der Regimekritiker Jamal Khashoggi in Saudi-Arabiens Konsulat in Istanbul grausam ermordet, während seine ahnungslose Verlobte vor dem Gebäude stundenlang und zunehmend verzweifelt auf ihn wartete. Der Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek La Belle riss Mitte der 1980er-Jahre drei junge Menschen aus dem Leben, weit mehr als 100 wurden schwer verletzt. Mit Sanktionen antworten westliche Staaten auch auf die erzwungene Landung des Ryanair-Flugs 4978 in der belarussischen Hauptstadt Minsk am 23. Mai 2021.

Damals leiteten belarussische Sicherheitsbeamte den Linienflug um, holten den regimekritischen Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin sofort nach der Landung aus dem Jet und nahmen sie fest. Der damals 26-Jährige hatte es gewagt, den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko öffentlich zu kritisieren und von ihm demokratische Reformen und den Schutz der Menschenrechte zu fordern.

Sämtliche Machtstaaten der Welt greifen zu Sanktionen

Jedoch werden Sanktionen nicht nur als Reaktion auf wahrgenommenes Unrecht genutzt: Im Großmachtkonflikt zwischen den USA und China etwa setzen sie beide Seiten zunehmend als wirtschaftliches Machtmittel ein. Die Kritik an der Wirkung und Legitimität von Zwangsmaßnamen ist weitverbreitet. Mehrmals verlangte die Mehrheit der UN-Generalversammlung – und hier vor allem Staaten des Globalen Südens – ein Ende von einseitigen Sanktionen, also jener Maßnahmen, die hauptsächlich von Washington und Brüssel verhängt werden.

Allerdings verbietet das internationale Völkerrecht nicht ausdrücklich die Verhängung dieser unilateralen Zwangsmittel. Zudem greifen andere Staaten wie Russland und zunehmend China ebenfalls zu eigenen Sanktionen. Ich forsche seit mehr als zehn Jahren zum Einsatz und zur Wirkung von internationalen Sanktionen. Mithilfe eines Datensatzes habe ich Hunderte Sanktionsfälle untersucht und mit Interviews die Perspektive in sanktionierten Ländern nachverfolgt, zum Beispiel in Simbabwe im südlichen Afrika.

Der Krieg könnte den Trend zu Sanktionen weiter befeuern

Grundsätzlich gilt aus meiner Sicht: Es geht nicht ohne Sanktionen. Sie sind einerseits Machtmittel, erfüllen andererseits aber eine wichtige Ordnungsfunktion. In Washington, London, Berlin, aber auch in Peking, werden politisch Verantwortliche in Zukunft noch häufiger zu wirtschaftlichen Strafen greifen. Vor allem in drei Bereichen müssen wir weitere Zwangsmittel erwarten: bei der Unterbrechung von internationalen Finanzströmen, der Lieferung von Hochtechnologien und den individuellen Sanktionen gegen Personen und Organisationen.

Die Vereinigten Staaten und China werden ihre Großmachtkonkurrenz zunehmend mit Sanktionen und Exportkontrollen ausfechten, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Reaktion des Westens drohen den Trend zu mehr Sanktionen weiter zu befeuern. Aber sie sind kein Wundermittel und keine Lösung für jede außenpolitische Auseinandersetzung. Es ist deswegen umso wichtiger, dass die Anwendung von Sanktionen klaren Grundregeln folgt.

Menschenrechtsverstöße gegen die Uiguren bekämpfen

Erstens sollten wir Sanktionen als letztes und nicht als erstes Mittel begreifen. In schwerwiegenden Fällen wie Russlands Angriff auf die Ukraine oder den kriminellen Handlungen der Regierungen Nordkoreas und Syriens, die offensichtlich am internationalen Waffen- und Drogenhandel beteiligt sind, führt kein Weg an harten wirtschaftlichen Zwang vorbei. In anderen Fällen müssen wir uns dagegen fragen, ob einzelne Sanktionen die beste Reaktion sind.

Im März 2021 belegte die EU vier lokale chinesische Politiker und eine Organisation wegen Menschenrechtsverstößen gegen die uigurische Bevölkerung in der Region Xinjiang mit Einreiseverboten und verbot den wirtschaftlichen Austausch mit ihnen. Selbstverständlich ist der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte ein zentrales Ziel westlicher Außenpolitik. Jedoch dürften die wenigen Listungen in diesem Fall weder als Druckmittel noch als Zeichen an die chinesische Regierung einen großen Unterschied machen.

Maßnahmen müssen besser umgesetzt werden

Zweitens sollten sich die politisch Verantwortlichen über die Schattenseiten der Zwangsmittel im Klaren sein. Harte Sanktionen schaffen immer ein humanitäres Dilemma: Je schmerzhafter ihr Druck ausfällt, desto eher trifft er die Ärmsten, die oft die Politik ihrer autokratischen Regierung nicht beeinflussen können. Die humanitären Ausnahmen für Lebensmittel und Medikamente oder bei dramatischen Krisenfällen wie dem verheerenden Erdbeben in Nordsyrien (und der Südtürkei) im Frühjahr 2023 haben diesen Trend noch nicht umkehren können.

Die Strafmaßnahmen des Westens sollten deswegen vor allem auf politische Verantwortliche, ihre Helfer und ausgewählte Wirtschaftsbereiche zielen. Umfangreiche Zwangsmittel sollten Extremfällen wie Russlands Angriffskrieg oder der brutalen Gewalt in Syrien vorbehalten bleiben. Schließlich müssen beschlossene Instrumente besser umgesetzt werden, sonst bleiben Sanktionen bloße Ankündigungen. Sanktionierte nutzen alle Tricks, um wirtschaftlichem Druck zu entgehen. Dies sehen wir an den Russlandsanktionen. Zwar haben Deutschland und seine Nachbarn den direkten Import von russischem Öl und Gas gestoppt und den Export von Luxusgütern und Hochtechnologie verboten.

Die internationale Politik wird stürmischer und frostiger

Gleichzeitig verzeichnen die Ausfuhren von Maschinen und Autos in Russlands Nachbarschaft wie Belarus, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan jedoch enorme Wachstumsraten, die sich nicht mit einem höheren Bedarf in den Staaten selbst erklären lassen. Deutsche Kfz-Exporte nach Kirgistan stiegen seit 2021 um über 9.500 Prozent. Zudem bezieht Europa nun offensichtlich ursprünglich aus Russland stammendes LNG-Gas und fordert bislang kaum wirkliche Nachweise, dass von westlichen Schiffen transportiertes Öl nicht mehr als die Grenze von 60 Dollar pro Fass kostet.

Um glaubwürdig zu bleiben, müssen Deutschland und Europa dringend die Umgehung ihrer wirtschaftlichen Zwangsmittel auch auf eigenem Boden stärker verfolgen. Dazu soll auch das nun nach langen Diskussionen verabschiedete zwölfte EU-Sanktionspaket gegen Russland dienen. Die internationale Politik droht in den kommenden Jahren noch stürmischer und frostiger zu werden. Ob wir wollen oder nicht, Sanktionen werden in diesem Umfeld eine bedeutende Rolle spielen. Wichtig ist dabei aber, dass westliche Regierungen diese Zwangsmittel sparsam und zielgerichtet einsetzen und ihre Wirkung ständig überprüfen.

Unser Gastautor Christian von Soest leitet am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg den Forschungsschwerpunkt „Frieden und Sicherheit“ und ist Honorarprofessor an der Universität Göttingen. Vor Kurzem ist sein Buch „Sanktionen: Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?“ bei Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.