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Abschied und Aufbruch: Wie die Sachsen den Übergang in den Ruhestand meistern

Der Übergang in den Ruhestand ändert vieles. Vertraute Tagesstrukturen fallen weg, und die gewonnene Zeit will genutzt werden. Auf die eine große Frage gibt es viele Antworten: Wie kann ich zufrieden alt werden?

Von Henry Berndt
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Thomas Geipel und seine Frau Steffi haben sich beide gerade aus ihrem Berufsleben verabschiedet. Nun genießen sie ihre neuen Freiheiten, zum Beispiel in ihrer Doppelhaushälfte in Borthen.
Thomas Geipel und seine Frau Steffi haben sich beide gerade aus ihrem Berufsleben verabschiedet. Nun genießen sie ihre neuen Freiheiten, zum Beispiel in ihrer Doppelhaushälfte in Borthen. © SZ/Veit Hengst

Welcher Wochentag ist eigentlich heute? Thomas Geipel muss überlegen. So lange, dass er irgendwann kopfschüttelnd feststellt: „Früher haben wir uns über unsere Eltern lustig gemacht, wenn sie das nicht wussten. Jetzt geht es uns schon genauso.“ Geipel sitzt in seinem Sessel und hat heute Zeit. Am 28. Februar ist er 66 geworden und offiziell in den Ruhestand gegangen. Für den 29. Februar hat er noch seinen letzten Urlaubstag genutzt, denn ein Schaltjahr sei in seiner Planung nicht vorgesehen gewesen, fügt er augenzwinkernd hinzu.

Eben noch ist Geipel regelmäßig 5 Uhr aufgestanden und war 7 Uhr an seinem Arbeitsplatz an der TU Bergakademie in Freiberg. Hier war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Maschinenelemente, Konstruktion und Fertigung, lehrte und forschte unter anderem zum Thema 3-D-Druck. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich mein Leben lang an der Uni bleiben werde, aber es hat mich bis zum letzten Tag erfüllt.“

Zusammen mit seiner Frau Steffi wohnt Thomas Geipel in einer hübschen Doppelhaushälfte in Borthen (Dohna) im Landkreis Sächsische Schweiz. Von ihrem Balkon aus haben sie einen herrlichen Blick in die Natur. Im Vorgarten wachsen Tulpen und Rosen. Hinter dem Haus steht ein buntes Spielhaus für die Enkel.

Gestern 40 Stunden Arbeit, heute null

Thomas Geipel stammt aus dem Vogtland. Mit 20 zog er zum Studieren nach Dresden, promovierte danach und überstand in seinem Fachbereich auch die Wirren der Wendezeit. 2000 wechselte er nach Freiberg und nahm für diese neue Herausforderung einen Arbeitsweg von zweimal 45 Minuten pro Tag in Kauf. 24 Jahre lang

So etwas wie Altersteilzeit wurde für ihn nicht angeboten, sodass Thomas Geipels Weg in die Rente eher ein Sprung war: Gestern 40 Stunden Arbeit, heute null.

„Viele haben mir prophezeit, dass ich da Probleme bekommen würde. Ich selbst habe das aber nie befürchtet und auch jetzt fühlt es sich gut und richtig an.“ Dieses sagenumwobene „Loch“, in das man nach dem Ende der beruflichen Karriere hineinfallen könnte, habe er nie vor Augen gehabt.

Selbstverständlich ist so viel Ausgeglichenheit und Gelassenheit in dieser Lebensphase allerdings nicht, weiß Matthias Wingerter vom Kompetenzzentrum für den Übergang in den Ruhestand (KÜR) in Dresden. Eine groß angelegte Studie über Menschen ab 60 Jahren in der sächsischen Landeshauptstadt habe vor zwei Jahren gezeigt, dass etwa ein Drittel der Befragten den Übergang in den Ruhestand als belastend empfindet. Die Gründe dafür sind verschieden: Die gewohnte Tagesstruktur ändert sich, die Bestätigung durch Leistungen im Beruf fällt weg, man trifft weniger Menschen, hat weniger Geld zur Verfügung und weiß womöglich einfach nicht, was man mit seiner gewonnenen Zeit Sinnvolles anstellen soll.

Tom Motzek (l.) und Matthias Wingerter betreuen das Kompetenzzentrum für den Übergang in den Ruhestand (KÜR) in Dresden, das zur Awo gehört.
Tom Motzek (l.) und Matthias Wingerter betreuen das Kompetenzzentrum für den Übergang in den Ruhestand (KÜR) in Dresden, das zur Awo gehört. © SZ/Veit Hengst

Manch einer bereitet sich auf diese Zeit schon zehn Jahre vor dem Rentenbeginn vor, ein anderer verschwendet bis zum letzten Tag nie einen Gedanken daran. „Die Strategien sind so unterschiedlich wie die Persönlichkeiten“, sagt Wingerter. Idealerweise passt am Ende beides zusammen. Wenn nicht, dann könnte Hilfe nötig sein.

Das KÜR in Dresden ist ein Projekt der AWO Sachsen, das 2018 mit einer halben Stelle begann. Inzwischen engagieren sich hier zwei Mitarbeiter mit insgesamt50 Stunden pro Woche. Bedarf gibt es noch weit mehr. „So viele Menschen auf dem Weg in den Ruhestand wissen nicht, wohin sie sich mit ihren Fragen wenden sollen“, sagt Wingerter. „Werde ich noch gebraucht? Wie kann ich die Lücke füllen? Was kann ich tun, um im Alter zufrieden und gesund zu bleiben? Dieses große Feld ist praktisch noch nicht bestellt.“

Immerhin, die Stadt Dresden hat das Thema seit einiger Zeit auf dem Schirm. 2020 gab die Verwaltung einen „Ruhestandskompass“ heraus. Im Vorwort rät Sozialbürgermeisterin Kristin Kaufmann: „Verkriechen Sie sich nicht im Mauseloch, sondern suchen Sie sich Gleichgesinnte – das können auch Jüngere sein, zum Beispiel im Sportverein oder in Ihrer Nachbarschaft. Gemeinsame Erlebnisse und gemeinsames Engagement sind in jeder Lebensphase ein wahrer Jungbrunnen.“

Brigitte Wahl aus Dresden fand beim KÜR Unterstützung und Halt.
Brigitte Wahl aus Dresden fand beim KÜR Unterstützung und Halt. © kairospress

Die Workshops von KÜR richten sich an Menschen, die sich in dieser Lebensphase Orientierung wünschen. Angeboten werden die Kurse an der Volkshochschule, aber auch direkt in Unternehmen. Eine der zentralen Fragen: Welches Bild vom Altern habe ich und was macht das mit mir? Im vergangenen Jahr wurde zum ersten Mal auch ein sogenanntes Naturresilienztraining angeboten, eine Mischung aus Waldbaden und Achtsamkeitstraining. „Es geht um Stressabbau, ums Ankommen bei sich selbst“, sagt Wingerter. Aus Stöcken gestalteten die Teilnehmer zum Beispiel ihr eigenes soziales Netzwerk auf dem Waldboden nach.

Mit im Wald dabei war im Herbst die Dresdnerin Brigitte Wahl, die inzwischen auch bei drei organisierten Wanderungen die Schuhe schnürte. Die langjährige Angestellte der Postbank ging 2022 nach 45 Jahren in Rente. In der Zeitung las sie damals von KÜR und ging einfach mal hin. „Ich habe mich vom ersten Moment an aufgefangen gefühlt. Für mich war das ein Sprungbrett in den Ruhestand, zumal sich dadurch echte Freundschaften ergeben haben.“

Bei KÜR spüre sie den Respekt, werde auf Augenhöhe behandelt und nicht „wie ein Baby“. Sie würde sich wünschen, dass noch viel mehr Menschen von dem Projekt erfahren und die Unterstützung dort dem einen oder anderen den Übergang in den Ruhestand erleichtern könnte.

Stressabbau im Wald: Im Ruhestand einen Gang zurückschalten.
Stressabbau im Wald: Im Ruhestand einen Gang zurückschalten. © Awo

Auch Detlef Henze kam 2022 durch Zufall mit KÜR in Kontakt. Der 76-Jährige ist schon seit zwölf Jahren im Ruhestand. Lange suchte er nach erfüllendem Input, bis ihm ein 30-Stunden-Lehrgang zum Technikbotschafter neue Perspektiven eröffnete. „Ich hab damals mal einen Whatsapp-Anruf auf dem Handy bekommen und wusste nicht, wie ich den annehmen sollte“, sagt er. „Das war der Auslöser, mich mehr damit zu beschäftigen.“ Seit dieser Zeit hilft Detlef Henze anderen Senioren, den Umgang mit Smartphone und Tablet zu lernen. Bei den Lehrgängen der Dresdner Seniorenakademie ist er als Assistent im Einsatz.

Generell seien Ehrenämter eine gute Möglichkeit, sich nach dem Ausscheiden aus dem Beruf weiter sinnstiftend für die Gesellschaft engagieren zu können, sagt Matthias Wingerter.

Nicht jeder, der an den Angeboten von KÜR teilnimmt, steht gerade unmittelbar vor der Rente. Manch einem wird erst Monate oder Jahre später bewusst, dass ein Stück vom Lebensglück auf der Strecke geblieben ist. Möglicherweise dann, wenn alle Projekte, die man mit so viel Elan angegangen ist, irgendwann abgearbeitet sind. Der Keller ist aufgeräumt, die Fotos sind sortiert, die Fenster geputzt und im ganzen Garten wächst nicht mehr das kleinste Unkrautpflänzchen.

Thomas Geipel kann sich gerade nicht vorstellen, dass er irgendwann mal an diesen Punkt kommen könnte. Allein in seinem Garten in Borthen haben seine Frau und er tausend Projekte auf dem Zettel. Unter anderem wollen sie eine Sandsteinmauer setzen und eine automatische Bewässerung für die Tomaten installieren. Auch eine neue Terrasse ist in Planung. Das wird aber voraussichtlich erst im kommenden Jahr.

Steffi und Thomas Geipel aus Borthen blicken optimistisch in die Zukunft.
Steffi und Thomas Geipel aus Borthen blicken optimistisch in die Zukunft. © SZ/Veit Hengst

Seine Tochter hat ihm kürzlich eine Jahreskarte für den Dresdner Zoo geschenkt. „So etwas ist in den letzten Jahren immer ein bisschen kurz gekommen“, sagt Geipel. Vor allem die Woche über sei neben der Arbeit kaum Zeit für Hobbys geblieben.

Steffi Geipel arbeitete jahrzehntelang in einer Apotheke in Dresden, musste dort zweimal in der Woche bis 19 Uhr arbeiten und manchmal auch am Samstag. Eigentlich hätte sie schon im Sommer 2023 in Rente gehen können, machte aber noch das Jahr voll. Letztlich musste die 64-Jährige dann nur noch zwei Monate auf ihren Mann warten. „Am Ende ist es mir nicht schwergefallen und ich habe mich auf die neuen Freiheiten gefreut“, sagt sie. Die beiden wollen viel reisen, alte Freunde und Verwandte wieder häufiger sehen. Und natürlich wollen sie für ihre Enkel da sein.

Wahrscheinlich fällt ihnen der Schritt in den Ruhestand aber auch deswegen verhältnismäßig leicht, weil sie die Bande zu ihren Arbeitsstellen nicht völlig gekappt haben. Steffi hat sich bereit erklärt, in der Apotheke einzuspringen, wenn dort mal Not am Mann ist. Thomas hält weiter den Kontakt zu seinem Institut in Freiberg, wodurch der wissenschaftliche Nachwuchs von seiner Erfahrung profitieren kann. An diesem Nachmittag steht die nächste Videokonferenz mit einem Studenten an, den er während des Praktikums und beim Schreiben einer Prüfungsarbeit betreut.

Was bis vor wenigen Wochen noch Alltag war, ist für den 66-Jährigen nun eine willkommene Abwechslung zwischen Gartenarbeit, Fotografieren, Wandern und Sportverein. Was lange Zeit organisatorisch oft eine Punktlandung war, kann nun entspannter angefangen werden.

Angela Grummt-Kontek im Fitnessstudio.
Angela Grummt-Kontek im Fitnessstudio. © SZ/Henry Berndt

Ortswechsel: In einem Fitnessstudio in der Dresdner Innenstadt kommt eine Frau mit Handtuch über der Schulter aus der Umkleide, das blonde lange Haar zum Zopf gebunden. Es ist Angela Grummt-Kontek, 64, seit November 2023 nach 45 Arbeitsjahren abzugsfrei im Ruhestand. Den will sie unter anderem dafür nutzen, sich regelmäßig an den Fitnessgeräten zu trimmen. Sogar einen Personal Trainer hat sie engagiert, in der heutigen Session striezt sie sich jedoch allein. In ihrer Trinkflasche hat sie Wasser mit einem Schuss Himbeersaft dabei und steuert für den Anfang direkt auf die Bauchpresse zu.

Nebenbei erzählt Angela Grummt-Kontek, dass sie seit 1986 bei der Landeshauptstadt Dresden angestellt gewesen sei. „Ich habe erst Zootechnikerin gelernt und auch mal in der Kinderkrippe gearbeitet, war dann aber 30 Jahre Schulsekretärin am beruflichen Schulzentrum für Agrarwirtschaft und Ernährung.“ Als dort immer mehr Personal eingespart wurde und sie irgendwann allein für drei arbeiten musste, sei ihr die Kraft ausgegangen. Anderthalb Jahre blieb sie krank zu Hause, bevor sie ins Hochbauamt wechselte und sich mit 60 Jahren noch einmal fachlich komplett neu orientierte. Sie habe das nie bereut, sagt sie, habe den Job dann aber doch nicht so sehr geliebt, um bei vollen Bezügen noch länger als nötig zu arbeiten, wie es ihr angeboten wurde. Sie gab sich zwei Wochen Bedenkzeit, dann entschied sie: „Nein, du hast genug Kraft investiert. Jetzt kannst du die Welt auch nicht mehr retten.“

Computer, Rücken, Bürostuhltanz

Traurig findet sie es dagegen, wenn ihr junge Leute zuraunten: „Du hast es gut, du musst nicht mehr arbeiten.“ Das sage viel über den Stellenwert des Berufs in unserer Gesellschaft aus. Sie selbst habe auch in ihren letzten Arbeitsjahren immer alle Seminare und Weiterbildungen mitgenommen: Computer, Rücken, Bürostuhltanz. „Ich wollte mich immer weiterentwickeln. Dafür ist man nie zu alt.“ Aus ihrer Sicht sei es jedoch kein Wunder, dass ältere Arbeitnehmer heutzutage so früh wie möglich gehen wollten. Sie fühlten sich nicht wertgeschätzt und hätten das Gefühl, von den Chefs keine Rücksicht erwarten zu können.

Für diese Entwicklung spricht, dass Handy-Apps wie „Renten Countdown“, die die rein rechnerisch verbliebenen Arbeitstage runterzählen, hunderttausendfach heruntergeladen werden. „Wir müssen wieder dahin kommen, dass die Leute sagen: Schade, dass ich aufhören muss“, sagt Angela Grummt-Kontek. Bis dahin sei es jedoch ein weiter Weg.

Sie blickt zufrieden auf ihr Berufsleben zurück, die kleineren Ärgernisse im letzten Drittel mal ausgeklammert. Mit genauso viel Herzblut will sie nun ins Abenteuer Ruhestand starten. „In den letzten zwei, drei Arbeitswochen habe ich sehr bewusst darüber nachgedacht, wie das wohl werden wird, und dabei festgestellt: Ich freue mich.“ Aus ihrem Büro mitgenommen hat sie nur die Weiterbildungsdokumente. Bei ihr war der Abschied endgültig. Eine gemeinsame Weihnachtsfeier? „Ehrlich gesagt interessieren mich die Probleme im Amt nicht mehr.“Mit ihrer Patchwork-Familie lebt Angela Grummt-Kontek glücklich in zweiter Ehe in Dresden, ist Mitglied in drei Sportvereinen.

"Rasenmähen kann ich schon mal"

Langeweile ist nicht in Sicht. Im Dezember starb ihr Vater mit 91 Jahren, und sie musste seine Wohnung ausräumen. Auch ihre Enkel werden nicht zu kurz kommen, wenngleich sie nicht die „typische Oma“ sei, die sich nur noch als Oma definiere. Zur Dauer-Nanny werde sie sicher nicht werden. „In der Not bin aber ich da und lasse alles stehen und liegen, keine Frage.“

In Glashütte bewirtschaftet sie mit ihrem Mann ein Wochenendgrundstück mit Datsche und Gewächshaus. „Rasenmähen kann ich schon mal. Der Rest kommt von allein.“ Einen Hund hat sie nicht mehr, weil sie noch viel reisen will. Am liebsten in ihre „zweite Heimat“ Ägypten. Als Abschiedsgeschenk von den Kolleginnen und Kollegen im Amt gab es eine Kiste mit einem Kamel als gefülltem Sparschwein und einer Pyramide aus Rocherkugeln.„Es gibt auch im Ruhestand so viele Möglichkeiten, ein erfülltes Leben zu haben“, sagt Angela Grummt-Kontek. „Man muss sich nur kümmern.“ Auch sie hatte vor einigen Monaten Kontakt zum Kompetenzzentrum für den Übergang in den Ruhestand, war unter anderem bei einer Wanderung durch den Zschonergrund dabei und lernte neue Menschen kennen.

Zahlreiche Anlaufstellen

Neben KÜR gibt es in Sachsen auch zahlreiche andere Anlaufstellen für angehende Ruheständler. Fast jede Gemeinde hat beispielsweise Seniorenbegegnungsstätten zu bieten. Das Problem laut Matthias Wingerter: „Menschen, die in den Ruhestand gehen, sehen sich meist nicht als Senioren.“ Deswegen hafte auch den Begegnungsstätten noch immer das Image „Kaffeekränzchen ab 80“ an. Eines der Ziele von KÜR sei es, in den Einrichtungen künftig mehrere Generationen zu vereinen.

Eines sei nämlich klar, sagt Wingerter: Nur über Kurse, Workshops und organisierte Wanderungen wird sich der gewaltige Bedarf an sozialem Miteinander für angehende Ruheständler nicht annähernd decken lassen. „Am Ende liegt es an jedem selbst, wie er Kontakte knüpft und seine neuen Freiheiten nutzt.“