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Amtsgericht Pirna verurteilt Schleuser im Akkord

Die erfolgreichen Polizeikontrollen entlang der Grenze zeigen Wirkung. Allein am Amtsgericht Pirna warten 160 Schleuser auf ihren Prozess. Weil fast alle Haftstrafen erwarten können, ist Eile geboten.

Von Gunnar Klehm
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Jede Woche kommen neue Aktenberge von der Staatsanwaltschaft zu Schleuserprozessen an, die Richter Andreas Beeskow und alle anderen Verfahrensbeteiligten am Amtsgericht Pirna zügig abarbeiten müssen, denn über allem schwebt eine Frist.
Jede Woche kommen neue Aktenberge von der Staatsanwaltschaft zu Schleuserprozessen an, die Richter Andreas Beeskow und alle anderen Verfahrensbeteiligten am Amtsgericht Pirna zügig abarbeiten müssen, denn über allem schwebt eine Frist. © kairospress

Mit einem fröhlichen „Guten Morgen, die Damen!“ begrüßt Amtsrichter Andreas Beeskow um 7.30 Uhr zwei Sekretärinnen der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Pirna. Der schlanke Mann mit runder Brille strahlt eine Dynamik aus, die den beiden Frauen kurz ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Dabei müssen sie derzeit schuften, wie lange nicht mehr. Ohne massenhafte Überstunden wäre ein Skandal kaum noch abwendbar. Dauert es von der Inhaftierung bis zur Verhandlung länger als sechs Monate, müssten potenzielle Straftäter aus der Untersuchungshaft freigelassen werden.

Damit das nicht passiert, bleibt für einen kurzen Smalltalk kaum Zeit. Die schweren Aktenordner hat Richter Beeskow noch im Hemd herumgewuchtet. Fürs Foto zieht er schnell das Sakko über. Dann wird sich im Büro nur noch zugerufen: „Wir sehen uns ja gleich“, und weiter geht es im proppevollen Tagesprogramm.

Für den Stress am Gericht hat die Bundespolizei gesorgt. Die Erfolgsmeldungen gingen durch alle Medien. Seit dem Spätsommer gibt es verstärkte Kontrollen in Grenznähe. Dabei haben die Polizisten reihenweise Schleuser festgenommen. Allein die Ermittlungsrichter im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Pirna haben im dritten und vierten Quartal vorigen Jahres 160 Schleuser inhaftiert. „Das ist ein Massendelikt geworden“, sagt Beeskow.

Schleusungen wie diese, die im August bei Bad Schandau von Polizeibeamten gestoppt werden konnte, beschäftigen jetzt die Gerichte.
Schleusungen wie diese, die im August bei Bad Schandau von Polizeibeamten gestoppt werden konnte, beschäftigen jetzt die Gerichte. © Marko Förster

Der Rattenschwanz, den die erfolgreich gestoppten Schleusungen in der Justiz nach sich ziehen, ist enorm. Allein das Personal: Bundespolizei und Gerichte brauchen Dolmetscher. Für jede zusätzliche Richterstelle werden Angestellte fürs Protokoll oder für die Suche nach vereidigten Übersetzern gebraucht – bei steigender Nachfrage. Auf Stellenausschreibungen gibt es nur noch ein oder zwei Bewerbungen. „Und die müssen auch geeignet sein“, sagt Beeskow. Das passe nicht immer.

Sein Amtsgericht hat im Vergleich zum Vorjahr inzwischen die vierfache Arbeit. Und die darf nicht liegenbleiben, weil Schleusungen unter menschenunwürdigen Umständen mit vielen Personen stets Haftsachen sind. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen ebenso zügig arbeiten. Über allem schwebt die Frist der sechs Monate.

Zusätzliche Stellen müssen geschaffen werden

Weil das mit dem normalen Personalbestand nicht mehr zu schaffen ist, hat das Amtsgericht Pirna im vorigen Herbst seine Überlastung gemeldet. Das Justizministerium reagierte umgehend. „Dem Gericht in Pirna wurde eine weitere Stelle zugebilligt“, heißt es aus der Behörde. Zudem wurde ein Proberichter nicht wie geplant abgezogen. „Die aktuelle Situation am Amtsgericht Pirna verdeutlicht, wie enorm wichtig eine gute finanzielle und personelle Ausstattung der Justiz ist“, teilt Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) auf SZ-Nachfrage mit. Im Haushalt müssten deshalb zusätzliche Stellen für Gerichte und Staatsanwaltschaften geschaffen werden.

Am Amtsgericht Pirna hört man das gern. Ohne Überstunden können die Haftsachen in Pirna aber trotzdem nicht mehr abgearbeitet werden.

Im Eilschritt gehen Richter Beeskow und die Protokollantin von der Geschäftsstelle zwei Etagen tiefer in den Verhandlungssaal Nummer 1. Der heutige Fall: Zwei Männer aus Polen sollen im September 14 Syrer mit einem Kleintransporter nach Deutschland gebracht haben. Vor der Verhandlung widmet sich Richter Beeskow noch wenige Minuten den neuen Schöffinnen, die seit diesem Jahr im Amt sind. „Für lange Einweisungen ist heute leider keine Zeit“, sagt er mit Blick auf die Uhr. Eine dringend benötigte neue Protokollantin wird unterdessen von einer Kollegin eingearbeitet.

Am Amtsgericht Pirna werden gerade zwei polnische Schleuser zu Haftstrafen verurteilt und abgeführt.
Am Amtsgericht Pirna werden gerade zwei polnische Schleuser zu Haftstrafen verurteilt und abgeführt. © kairospress

In wenigen Minuten steht der Prozess gegen die zwei Schleuser an. Die vorhin begrüßte Obersekretärin ist auch die Protokollantin im Gerichtssaal. In Pirna spult Beeskow jede Woche zwei solcher Verhandlungen gegen Schleuser ab, manchmal sogar drei. Das bedeutet auch, jeweils zwei bis drei große Aktenberge durchzuarbeiten. Tausende Seiten Ermittlungsakten zu lesen, ist fast immer der größte Teil der Richterarbeit.

Bis April werde man noch verstärkt mit Schleusungen zu tun haben, sagt Beeskow. Der Amtsrichter hofft, dass sich dann die Urteile zu Haftstrafen herumgesprochen und bei möglichen Tätern genug Abschreckung hervorgerufen haben. Eine ähnliche Situation habe es zuletzt vor fünf Jahren gegeben, als plötzlich in Tschechien die Droge Crystal Meth massenhaft billig angeboten und nach Deutschland geschmuggelt wurde.

Beeskow schätzt die Kosten für jedes Verfahren auf mindestens 5.000 Euro. Würden Gutachten nötig, sind die Ausgaben schnell fünfstellig. Zu den Personalkosten kommen für den Steuerzahler meist noch die Verfahrenskosten hinzu. Die werden zwar den Verurteilten aufgebrummt. Doch von denen ist meist nichts zu holen.

Verstörende Chatnachrichten

In der Verhandlung lässt sich der Richter von den Angeklagten berichten, wie die Schleusung abgelaufen ist. Er will mehr zu Hintermännern wissen, die es nach Auswertung der Chatprotokolle eines der Handys der beiden Schleuser gegeben haben muss. Die beiden Angeklagten wollen bis zuletzt nicht gewusst haben, dass es bei der Fahrt um eine Schleusung ging.

Bei Fällen mit dem roten Aufkleber auf den Akten ist besondere Eile geboten.
Bei Fällen mit dem roten Aufkleber auf den Akten ist besondere Eile geboten. © kairospress

Beeskow hört sich eine Weile die Erzählungen des ersten Angeklagten an, eine Dolmetscherin übersetzt. Dann bittet er den Pflichtverteidiger des 39-Jährigen, Einfluss zu nehmen, damit der Mann endlich die Wahrheit sage. „Bis jetzt sind das für das Gericht Grimms Märchen“, sagt Beeskow merklich ungehalten.

Nach dem Gespräch zwischen Anwalt und Angeklagtem passen die Aussagen schon mehr zu den Ermittlungen und vorgelegten Beweisen. Über eine Zeitungsannonce hätten die Drahtzieher der Schleusung Fahrer gesucht. Das ist der heikelste Job, wegen der hohen Gefahr, gefasst zu werden – dank der guten Arbeit der Bundespolizei und des aufgestockten Personals. Mit dem wohnungslosen Macin S. und dem vorbestraften Pawel D. wurden schließlich zwei willige Fahrer gefunden.

Die ausgewerteten Nachrichten auf dem Handy eines Angeklagten zeugen von allem, nur nicht von deren Ahnungslosigkeit. „Ich liebe dieses Adrenalin“, schrieb etwa ein „PD“. Vor Gericht gibt Pawel D. zu, dass diese Nachricht von ihm stamme. Ein anderer schrieb: „Lasst uns die Mauer durchbrechen und Geld verdienen.“

Erfolgreiche Bundespolizei

Zwei Polizeibeamte werden als Zeugen gehört. An der Autobahn A17 sei eine Streife der Bundespolizei auf den Transporter aufmerksam geworden, weil der so tief hing und offenbar schwer beladen war, erläutern sie. Die Polizisten folgten dem Transporter und winkten ihn am Rastplatz Heidenholz aus dem Verkehr. Erst hätten Fahrer und Beifahrer nichts verstehen wollen, dann hätten sie auf Drängen der Polizisten das Fahrzeug geöffnet.

Auf der Ladefläche waren 14 Syrer eingepfercht. Die atmeten erst mal kräftig durch, berichtet ein Polizist vor Gericht. Schon bei der ersten Begutachtung stellen die Beamten fest, dass die Türdichtungen von innen herausgerissen waren. Die Flüchtlinge brauchten Luft. Die Umstände der Fahrt waren schlechter als in einem Viehtransport. Ungesichert saßen die Syrer in dem fensterlosen Fahrzeug. Ohne Halt wurde von der Slowakei bis nach Deutschland durchgefahren, auch wenn die Syrer immer wieder an die Bordwand pochten und laut riefen, wie die Angeklagten vor Gericht einräumen mussten.

Obwohl beide Pflichtverteidiger eine Bewährungsstrafe fordern, wird es ein hartes Urteil. Zwei Jahre und vier Monate Haft ohne Bewährung verhängt das Gericht. Die menschenunwürdigen Umstände ließen keinen anderen Spielraum.

„Ich staune immer wieder, wie überrascht die Schleuser sind, dass sie direkt in Haft müssen“, sagt Beeskow. Etwas verunsichert blickt einer der Verurteilten seinen Pflichtverteidiger, Ronald Mayer, an. Es ist nicht der erste Schleuser-Prozess des Rechtsanwalts. „In den letzten drei Monaten hatte ich rund 40 Fälle in Pirna und Dresden“, sagt Mayer. Seine Kanzlei ist wie viele andere mit der Vertretung von Schleusern gut beschäftigt.

Sogar Toilettengang muss organisiert werden

Auch die Wachleute haben derzeit am Gericht mehr zu tun. Die zwei gerade Verurteilten werden wegen der Fluchtgefahr mit Hand- und Fußfesseln abgeführt. Vier Justizwachtmeister bewachen die zwei Polen auch im Gerichtssaal in Pirna, behalten die beiden den gesamten Prozess über im Blick. Jeder Toilettengang muss genau abgesprochen und organisiert werden. Die Kollegen sind derweil besonders aufmerksam, zählen fast die Sekunden runter, bis wieder alle vollzählig sind. Eine Flucht der Angeklagten wäre der Super-Gau. Bei normalen Verfahren am Amtsgericht ohne Haftstrafen sitzt dagegen nie ein Wachmann dabei.

Die Schleuser-Delikte sind seit Wintereinbruch zwar abgeebbt, die Welle der folgenden Gerichtsverfahren kommt aber erst drei, vier Monate später bei den Gerichten an. Weil beispielsweise in Pirna etwa zwei Drittel der Verfahren in die Berufung gehen, dürfte eine nächste – wenn auch abgeschwächte – Welle auch bald das Landgericht Dresden erreichen, wo die Pirnaer Berufungen verhandelt werden.

Normale Verfahren bleiben liegen

Am Landgericht Görlitz, der zweite Schwerpunktbereich für Schleuserkriminalität in Sachsen, sieht das offenbar anders aus. „Bislang ist kein signifikanter Anstieg von Berufungsverfahren zu verzeichnen. Besondere Vorkehrungen sind bisher nicht geplant“, heißt es dort vom Gericht.

Möglicherweise liegt das daran, dass in Pirna schärfer geurteilt wird. Rechtsanwalt Mayer hat aber festgestellt, dass fast alle Gerichte „zur Verteidigung der Rechtsordnung“ immer härter urteilen. Zuletzt wurde ein Mandant wegen Schleusung von sechs Personen zu acht Monaten Haft verurteilt und wurde direkt in die JVA abgeführt. Früher wäre in solchen Fällen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden.

Noch schaffen sie es am Gericht in Pirna, die gesetzlich vorgeschriebenen sechs Monate von Inhaftierung bis zur Verhandlung einzuhalten. Die Anzahl normaler Gerichtsverhandlungen ohne Haft ging parallel zurück. Dass es weniger Kleinkriminelle gibt, ist eher unwahrscheinlich. Die Bearbeitung ist nur nicht so dringend.