SZ + Sachsen
Merken

Sonnenwende im Braunkohleland: Der Energie-Genosse von Nochten

In Sichtweite eines der größten Braunkohlekraftwerke Europas glaubt ein 30-jähriger Tiktoker aus der Lausitz an die Kraft der Sonne – und der vielen Gleichgesinnten.

Von Henry Berndt
 10 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Guido Ludwig arbeitet im Kraftwerk Boxberg, setzt zu Hause in Nochten aber auf Solarenergie.
Guido Ludwig arbeitet im Kraftwerk Boxberg, setzt zu Hause in Nochten aber auf Solarenergie. © SZ/Veit Hengst

Aquagufi hat gute Laune. Er strahlt mit der Sonne um die Wette, denn seine Solaranlage macht das, was sie soll. „Herzlich willkommen zum Sonnenrückblick“, sagt Aquagufi in die Kamera. Hinter ihm sind die dampfenden Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Boxberg zu sehen. Stellvertretend für seine Fans stellt er die Fragen zum Tag: „Was haben wir diese Woche auf unserer Anlage ins Netz gespeist? Wie viel haben wir selber verbraucht? Wie hoch ist unser Autarkiegrad? Und wie viel Strom brauchen wir eigentlich von hier hinten?“

Er zeigt auf die Türme, dann blendet er die aktuellen Statistiken ein. Die Woche startete ganz gut, aber der Herbst wirft im wahrsten Sinne seine Schatten voraus. Schon dreimal habe er zuletzt den Ofen angeworfen, um das heiße Wasser im Haus auf Temperatur zu bekommen.

Etwa 2.300-mal ist das Video von Aquagufi bei Tiktok bisher aufgerufen worden. Fast jeden Tag kommt ein neues dazu, denn der junge Mann hinter dem Profil hat viel mitzuteilen. Er heißt Guido Ludwig, auf den ersten Blick könnte er für einen neunmalklugen Abiturienten gehalten werden, doch der 30-Jährige weiß ziemlich gut, worüber er spricht. Sein putziger Tiktok-Name stammt noch aus Zeiten, in denen es auf seinem Kanal vornehmlich um Aquarien und Fische ging. Inzwischen aber hat er ein neues Thema: Energie.

Guido Ludwig ist in Nochten zu Hause, dem Ortsteil der Gemeinde Boxberg im Landkreis Görlitz, dessen Name überregional in der Regel nur in Verbindung mit dem gleichnamigen Tagebau genannt wird. Die Abbruchkante zog in den 90er-Jahren haarscharf an Nochten vorbei. Ein Teil des Ortes ging verloren. Heute leben hier etwa 235 Menschen, zu denen seit anderthalb Jahren auch Guido Ludwig gehört.

Er wurde in Weißwasser geboren, lebte zuletzt aber im Breisgau am Rhein, bevor er sich im April 2022 entschied, mit seiner Familie zurück nach Sachsen zu ziehen und hier ein altes Gehöft zu kaufen. Das Hauptgebäude stammt aus den 1920er-Jahren und hatte zuletzt etwa zwei Jahre leer gestanden. „In Süddeutschland kostet eine vergleichbare Immobilie schnell das Zwanzigfache“, sagt er. „Wir hatten schon länger mit dem Gedanken gespielt und wollten, dass unsere Kinder auf dem Land aufwachsen. Mit viel Auslauf, Erdbeeren und Obstbäumen direkt vor der Haustür.“Die neuen Nachbarn hatte Ludwig schon für sich gewonnen, als er erzählen konnte, dass sein Opa einst als Schmied in Nochten arbeitete. Sein Vater war beim Waggonbau, seine Mutter arbeitete in Boxberg in der Kaufhalle. Einige dieser Verbindungen sind ihm erst nach seiner Rückkehr bewusst geworden.

Ludwig ist gelernter Kfz-Mechatroniker, verdient sein Geld inzwischen aber hauptberuflich als Vermögensberater. Das Thema Energieeffizienz treibt ihn privat schon seit Jahren um. Im Selbststudium bildete er sich weiter, schaute die Youtube-Videos dazu in doppelter Geschwindigkeit. Aus Effizienzgründen. Nun, im eigenen Haus, kann er seine Pläne in die Tat umsetzen.

Das Kraftwerk Boxberg soll bis 2028 um Wasserstofftechnik ergänzt werden.
Das Kraftwerk Boxberg soll bis 2028 um Wasserstofftechnik ergänzt werden. © SZ/Veit Hengst

In Sichtweite eines der größten Braunkohlekraftwerke Europas ist Guido Ludwig geradezu besessen von der Idee, seinen Strom selbst zu erzeugen, um künftig von niemandem mehr abhängig zu sein. Dass er inzwischen sogar selbst im Kraftwerk arbeitet, ändert daran nichts. Zusätzlich zu seinem Vollzeitjob schiebt er 24-Stunden-Schichten bei der Kraftwerks-Feuerwehr. Die nötigen Erfahrungen dafür hat er in vielen Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr gesammelt.

Es sei nicht die drohende Klimakatastrophe, die ihn bei seinen Energieplänen antreibt, sondern die Verantwortung seiner Familie gegenüber, sagt er. „Wir erleben doch gerade, wie unberechenbar die Zeiten geworden sind. Da müssen wir selbst was tun, um nicht zum Spielball zu werden.“

Eigentlich wollte er auch heute an seinem freien Tag etwas dafür tun, aber seine anderthalbjährige Tochter ist krank und kann deswegen nicht in den Kindergarten. Deswegen kann Ludwig nur ihren Mittagsschlaf nutzen. Nachmittags will dann auch der Sohn Aufmerksamkeit, der gerade in die Schule gekommen ist. Heute also mal keine Effizienz.

Zwei Tage Strom aus der Batterie

Sofern möglich, lässt Ludwig seine Tiktok-Gemeinde an jedem Schritt zum Aus- und Umbau seines Hauses teilhaben. Als Erstes riss er die Ölheizung aus dem Jahr 1996 raus und bestellte Solarpaneele für drei Dächer, die er nach der Lieferung selbst montierte, um damit 29,7 Kilowatt-Peak (kWp) an Strom zu produzieren. Dieses Maß gibt an, welche Höchstleistung in Kilowatt eine Fotovoltaikanlage erbringen kann – bei voller Sonne, mittags im Hochsommer. „Peak“ steht für Spitze. In einem durchschnittlichen Jahr werden pro kWp etwa 1.000 Kilowattstunden an Strom erzeugt, wobei eine Kilowattstunde etwa für eine Waschmaschinenladung oder einen gebackenen Kuchen im Ofen reicht.

Da die Sonne aber leider nicht immer dann scheint, wenn der Strom gebraucht wird, ist außerdem ein Stromspeicher nötig, um rund um die Uhr versorgt zu sein. Auch den hat Ludwig installiert. Mit der Kapazität von 25,6 Kilowattstunden kann er bei einem kompletten Stromausfall immerhin zwei Tage überbrücken.

Die Prioritäten: 1. Stromversorgung im Haus, 2. Speicher laden, 3. Wasser erhitzen und 4. den Tesla im Hof laden. Wenn dann noch etwas übrig bleibt, wird der Überschuss für 7,5 Cent pro Kilowattstunde ins Netz gespeist.

Ludwigs Anlage ist schon seit einem Jahr fertig, durfte aber erst vor wenigen Wochen in Betrieb gehen. Die Hürden der Bürokratie haben ihn viele Nerven und eine ganze Sommersaison gekostet. Über sein Handy kann er nun jederzeit verfolgen, was gerade an Strom produziert wird.

"Fassade weiß gestrichen"

An diesem Vormittag zieht eine Wasserdampfwolke des Kraftwerks über das Haus und trübt die Sicht. Die Kombination aus hoher Luftfeuchtigkeit und ungünstiger Windrichtung sei aber selten. Dreck spuckten die Türme sowieso keinen mehr. Die Zeiten, in denen die Nochtener draußen keine Wäsche aufhängen konnten, seien Geschichte. „Sonst hätte ich sicher auch nicht meine Fassade weiß gestrichen.“

In einer früheren Scheune hat er einen vier Meter hohen Warmwasserspeicher mit etwa 4.000 Litern Fassungsvermögen platziert, die ständig auf 65 Grad gehalten werden. Wenn die Solaranlage das nicht mehr schafft, kommt der Scheitholzvergaser ins Spiel, der direkt daneben steht und bei Bedarf angefeuert wird. Dank guter Kontakte zu den Waldbesitzern in der Umgebung muss sich Ludwig keine Sorgen um ausreichende Mengen an Käferholz machen. Der Wintervorrat liegt schon bereit. Nur das eigene Waldstück fehlt noch. Um irgendwann idealerweise auch bei der Wärme komplett unabhängig zu werden, scannt Ludwig schon die Kleinanzeigenseiten nach einer geeigneten Wärmepumpe.

Energieversorgung selbst in die Hand nehmen

Schon jetzt spare er im Jahr rund 6.000 Euro für Öl und Strom – und zahle stattdessen 300 Euro für Brennholz. Sonne gibt es kostenlos, wobei die Abschreibungen für die Solaranlage und den Ofen bei der Gesamtrechnung natürlich nicht vergessen werden sollten. Die Solaranlage kostete 37.000 Euro, die Heizung 18.000 Euro. Spätestens in sechs Jahren sollen sich die Investitionen ausgezahlt haben.

Als Ludwig im vergangenen Jahr von den Plänen hörte, eine Energiegenossenschaft für Boxberg zu gründen, war er sofort zur Stelle. Die Idee: Bürger der Gemeinde nehmen ihre Energieversorgung selbst in die Hand und schließen sich zu einer Genossenschaft namens „Perspektive Boxberg“ zusammen, die gerade in Gründung ist. Auf der Internetseite wird der Traum schon in Worte gefasst: „Die Energie selbst produzieren. Nicht als gewinnorientiertes Unternehmen, sondern als Genossenschaft, an der jeder teilhaben kann und bei der jeder genau eine Stimme hat.“

Für seine Genossen organisiert Guido Ludwig Balkonkraftwerke und hilft bei Bedarf bei der Installation.
Für seine Genossen organisiert Guido Ludwig Balkonkraftwerke und hilft bei Bedarf bei der Installation. © SZ/Veit Hengst

Die erste Idee dazu sei in der Region schon vor mehr als einem Jahrzehnt entstanden, sagt Helmut Perk, der Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft. Seit zwei Jahren gebe es nun ernsthafte Bestrebungen. Insgesamt werden gleich vier Genossenschaften gegründet, neben Boxberg noch in Rietschen, Weißkeißel und Kodersdorf. „Unser Ziel ist es nicht, viel Geld zu verdienen, sondern Energie in die Region zu bringen“, sagt Perk. Ab einem Anteil ab 50 Euro könne man dabei sein. Glaubt man den Gründern, dann stehen die Investoren Schlange. „Geld ist nicht das Problem. Wir müssen an Gewicht gewinnen“, sagt Perk. Bedeutet: möglichst viele Haushalte vom Mitmachen überzeugen. In Boxberg hat die Genossenschaft derzeit 40 Mitglieder, in Weißkeißel immerhin schon 160.Hauptaugenmerk soll zunächst auf die Sonnenenergie gelegt werden. Dabei geht es weniger um den Strom, der privat auf dem eigenen Dach produziert wird. Vor allem will die Genossenschaft kleine bis mittelgroße Solarprojekte anschieben, beziehungsweise sich daran beteiligen.

"Sie reden doch viel"

„Jetzt in der Anfangsphase geht es vor allem um gegenseitige Hilfe, Austausch und Beratung“, sagt Guido Ludwig. Ein Teil seiner Scheune diente zuletzt als Lagerplatz für Balkonkraftwerke, von denen er schon 35 Stück an die Genossen ausgeliefert hat. Von 675 Euro Anschaffungskosten können sich die Käufer 300 Euro über ein Förderprogramm des Bundes zurückholen, wenn sie es schaffen, sich durch den Antrag zu quälen. Auch dabei hilft Ludwig, kommt auch mal vorbei, wenn es Probleme mit der Installation gibt. Alles ehrenamtlich. Eigentlich hat er dafür gar keine Zeit, aber als sich auf der Gründungsversammlung im vergangenen November alle anschauten und fragten, wer den Vorstand besetze, da hieß es schnell: „Herr Ludwig, Sie reden doch so viel.“ Nun ist er dabei.

Wie schnell die Genossenschaft wächst, wann die ersten Projekte Früchte tragen, ist ungewiss. „Meiner Ansicht nach müsste in Deutschland bald jede versiegelte Fläche, jeder Parkplatz, jedes Gebäude und jede Autobahn für die Stromerzeugung genutzt werden“, sagt Ludwig. Die Gemeinde Boxberg ist bereits im Boot und sogar selbst Mitglied. „Wir unterstützen den Gedanken der bürgerschaftlichen Energiegenossenschaft“, sagt Bürgermeister Hendryk Balko. Er könne sich vorstellen, kommunale Dachflächen für Projekte anzubieten.

Wasserstoff ab 2028

Auch der Kraftwerksbetreiber Leag beobachtet die Entwicklungen interessiert, sieht die Genossenschaft allerdings nicht als Konkurrenz, zumal das Unternehmen ja selbst nicht tatenlos zusieht, wie die Zeit der Braunkohleverstromung zu Ende geht. Längst hat die Leag ihren Wandel vom Bergbau- und Kraftwerksbetreiber zum diversifizierten Energieunternehmen in die Wege geleitet.

Schon ab dem kommenden Jahr soll ein firmeneigener Solarpark auf einer 32 Hektar großen Rekultivierungsfläche des Tagesbaus Nochten bis zu 25 Megawatt-Peak Strom produzieren – das sind fast tausendmal so viel wie Guido Ludwig auf seinen Dächern. Das Kraftwerk Boxberg wird bis 2028 um Wasserstofftechnik ergänzt – in Kombination mit riesigen Batteriespeichern. „Auf diesem umfangreichen Transformationskurs sieht die Leag Energiegenossenschaften als konstruktive Partner, mit denen sich unser Unternehmen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Konstellationen eine ergebnisorientierte Zusammenarbeit vorstellen kann“, sagt Sprecherin Kathi Gerstner.

Auch Guido Ludwig sieht sich nicht in Konkurrenz zur Leag. „Ein so großer Player hat doch gar kein Interesse an kleinen Projekten, wie wir sie planen. Wir wollen genau diese Lücke füllen zwischen den Möglichkeiten einer einzelnen Person und einem großen Unternehmen.“

Für seine neue, alte Heimat sieht er großes Potenzial, nicht zuletzt im Tourismus. Bald will er mit dem Bau von drei Ferienwohnungen auf seinem Hof beginnen. „Ohne diese Perspektive wäre ich sicher nicht zurückgekommen“, sagt er. „Uns steht hier eine gute Zukunft bevor.“ Womöglich eine, in der Nochten irgendwann nicht mehr in einem Atemzug mit Tagebau und Braunkohle genannt wird.