Die große Enttäuschung nach dem Abitur

"An meinem ersten Tag an der Uni war ich extrem aufgeregt. Ich war sehr unsicher, ob die Informationen, wo was stattfindet und welche Seminare ich habe, richtig sind und mein Stundenplan überhaupt stimmt. Man hat ja keinen Ansprechpartner, wie das Sekretariat in der Schule zum Beispiel", sagt Katharina Z. Das war vor knapp einem Jahr. Nach wenigen Monaten war Schluss. Wie viele andere hat die 20-Jährige ihr Studium abgebrochen.
Es ist ein Trend, der den Arbeits- und Ausbildungsmarkt schon länger prägt. Viele junge Menschen gehen nach dem Abitur direkt zur Universität, häufig ohne zu wissen, ob ein Studium das Richtige für sie ist. Zwar bleibt die Zahl der Studienanfänger laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit seit einigen Jahren auf gleich hohem Niveau. Allerdings liegt dies seit 2009 mit Abstand über dem Niveau der dualen Berufsausbildung.
Dies ist neben dem Geburtenrückgang einer der Gründe, warum viele Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. „Es ist das Megaproblem schlechthin“, sagt der Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer Dresden, Lars Fiehler. „Der Fachkräftemangel wurde bei unseren letzten Konjunkturerhebungen von 68 Prozent der Unternehmen als größtes Risiko ihrer weiteren wirtschaftlichen Entwicklung gesehen, noch vor Energie- und Rohstoffpreisen, Arbeitskosten und vielem anderen mehr.“
Woran liegt es also, dass so viele junge Menschen mit allgemeiner Hochschulreife direkt an die Universitäten strömen?
Lernen abseits der Realität
„Studieren kannte ich aus dem familiären Umfeld“, sagt Katharina. Allerdings wollte sie erst mal ihren Studien- und Berufswunsch bestätigen und begann nach der Schule ein Freiwilliges Kulturelles Jahr (FKJ). Anschließend zog sie von Leipzig nach Dresden und studierte Medienforschung an der Technischen Universität.

Nach zwei Monaten schmiss sie das Studium hin. „Mein Interesse hat mit der zunehmenden Online-Lehre abgenommen.“ Wegen der unübersichtlichen, uneinheitlichen Struktur war der Lehrinhalt für sie nur schwer nachvollziehbar, die rein theoretische Lehre habe sie genervt. „Man lernt viel, was weit entfernt von der Realität beziehungsweise der Praxis ist“, stellte sie enttäuscht fest. Katharina absolviert jetzt eine Ausbildung zur Ergotherapeutin und ist, wie sie sagt, sehr zufrieden.
Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung sind die drei meistgenannten Gründe von Studienabbrechern schlechte Leistungen, mangelnde Motivation und der Wunsch nach einer praktischen Tätigkeit. Cornelia Blum leitet die Zentrale Studienberatung an der TU Dresden.
Viele Studierende hätten Angst vor dem persönlichen Scheitern. Wenn der Start schlecht war, sei, so glauben viele, der Rest des Studiums nicht mehr zu schaffen, sagt sie. Zudem würden sich viele im Verlauf des Studiums umorientieren, die Interessen ändern sich.
Außerdem fehle es an Möglichkeiten, sich abseits der Lehrveranstaltungen zu treffen. Wegen Raummangels sei es schwer, gemeinsam etwas zu erarbeiten oder den Inhalt der Vorlesung zu wiederholen. Dabei sei der Austausch ein wichtiger Grundpfeiler für den Studienerfolg.
Defizite liegen ihrer Ansicht nach auch in den Schulen. „Unter den Schülern herrscht viel Unwissenheit und Desorientiertheit.“ Das stellt auch Prof. Karl Lenz von der TU Dresden fest: „Wenn es sehr viele Studiengänge gibt, ist es ganz natürlich, wenn man am Anfang das Falsche wählt.“ Ein ganz großes Problem sei der Übergang von der Schule zum Studium.
Diese Menge an Angeboten gebe es in der Art und Weise in der Schule nicht. Die Abiturienten stünden außerdem vor einer ganz wesentlichen Lebensentscheidung und müssten nun entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. „Das ist sehr individuell und es ist eine Illusion zu denken, man kann diese schwere Entscheidung zu einer leichten machen.“
„Nach dem Abi wird studiert“
Dies spiegelt sich auch in der Abiturientenstudie wider, an der Lenz seit 1996 arbeitet. Darin geben 42 Prozent aller befragten Studierwilligen an, sie hätten Schwierigkeiten, weil sie in der Schule nicht ausreichend auf diese Auswahlentscheidung vorbereitet worden seien. Im Jahr 2020 geben 63,4 Prozent aller Befragten an, sie hätten sich mehr oder eine bessere Beratung seitens der Schule gewünscht.
An Abiturienten werden hohe Erwartungen herangetragen. Sie haben jetzt die Hochschulzulassung, dann müssen sie an die Universität, glauben viele Eltern und Jugendliche. Lucas T., der an der Bergakademie Freiberg studiert hat, erging es ähnlich wie Katharina. „Nach dem Abi wird studiert“, habe er gedacht. „Niemand hat gesagt, du musst studieren. Als Abiturient nimmst du aber eine typische Rolle ein.“ Lucas suchte sich mit dem Fach Geologie eine Richtung, die seinen Lieblingsfächern Geografie und Chemie am nächsten kam.
Nach sieben Semestern gab er auf. Er sei in ein Tief geschlittert, sah keinen Sinn mehr in dem Studium. Rückblickend hätte er gern mit einer praktischen Ausbildung angefangen, um schon mal einen Abschluss in der Tasche zu haben. „Andererseits war es schon schön, mit 19 ein freies Leben als Student genießen zu können“, erinnert sich Lucas. Nach einem weiteren abgebrochenen Studium der Industriearchäologie und Zeit zur Neuorientierung möchte er jetzt eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger machen.
Jeder dritte bis vierte Studierende in Deutschland bricht das Studium laut Quickstart Sachsen, einem Beratungsangebot für Studienabbrecher, ab. Das sind insgesamt 29 Prozent aller Studienanfänger. Gerade diese Gruppe ist bei Ausbildungsbetrieben sehr beliebt. „Sie sind schon etwas älter und damit in der Regel reifer, sie haben in ihren Studien Wissen erworben, welches ihnen in der Ausbildung nützt“, sagt IHK-Sprecher Lars Fiehler. Die Suche nach Nachwuchskräften für die Lehre ist für Ausbildungsbetriebe sehr schwierig geworden.
Studienabbrecher können die Lücke schließen
In Sachsen sind im Jahr 2020 knapp über 2.200 Lehrstellen unbesetzt geblieben, im letzten Jahr waren es 2.695, jedes Jahr kommen mehr freie Stellen dazu. Es gebe zu wenig interessierte oder passende Bewerber und damit könnten viele Betriebe nicht ausbilden und keine eigenen Fachkräfte entwickeln, sagt Frank Vollgold von der sächsischen Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit.
Studienabbrecher und –zweifler könnten den Mangel an Nachwuchskräften lindern und die Lücke schließen. Sie sollen „frühzeitig und intensiv durch die Berufsberatung und Netzwerkpartner für den Übergang in eine Ausbildung beraten werden“, fordert Vollgold. „Wir sehen in den Studienabbrechern Potenzial für den Arbeitsmarkt.“, sagt er. „Es muss noch mehr gelingen, Studienabbrecher für die sächsische Wirtschaft als Nachwuchskräfte zu gewinnen. Das ist Fachkräftepotenzial, das wir vollständig ausschöpfen müssen.“
Die Zeit an der Uni betrachte sie nicht als Verschwendung, sagt Katharina. „Es war schwer, das Studium abzubrechen, aber für mich war es der richtige Weg, und ich bin froh und stolz, dass ich auf mein Bauchgefühl gehört habe. Denn ansonsten hätte ich mich nie für einen so tollen Beruf wie die Ergotherapie entschieden.“