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Die Neonazi-Achse Chemnitz – Dortmund ist zur Einbahnstraße geworden

Fünf Jahre nach den schweren Ausschreitungen in Chemnitz muss man der Kulturhauptstadt 2025 bescheinigen: Ihre Wunde ist schlecht verheilt. Ein Gastbeitrag.

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Fünf Jahre nach den Ausschreitungen im Spätsommer 2018 demonstrierten – immerhin – Hunderte Menschen für ein diskriminierungsfreies Chemnitz.
Fünf Jahre nach den Ausschreitungen im Spätsommer 2018 demonstrierten – immerhin – Hunderte Menschen für ein diskriminierungsfreies Chemnitz. © xcitepress/Finn Becker

Von Hanka Kliese

Das Chemnitzer Understatement kann auf Dauer anstrengend wirken. Es verläuft ein schmaler Grat zwischen Bescheidenheit und dem, was man in dieser Region als „Rumningeln“ bezeichnet. Mit dem Slogan „C the Unseen“ (Seht das Ungesehene) hat die Stadt ihr liebevoll gepflegtes Loser-Image kultiviert und zum Erfolg geführt.

Dabei war Chemnitz vor fünf Jahren alles andere als ungesehen. 2. September 2023: Sonnenschein, Seifenblasen und Polizei am „Nischel“. Heute dient der vielseitig strapazierte Bronzekopf als Kulisse für eine Demonstration, die an den Spätsommer 2018 erinnern soll, in dem Horden von Neonazis ungebremst an ihm vorbeimarschierten.

Unsere Gastautorin Hanka Kliese (43) ist Politikwissenschaftlerin und Vize-Vorsitzende der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag. Sie engagiert sich seit Jahren für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Seit 2001 ist Kliese Mitglied im Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC) und seit 2021 Stellv. Präsidentin der Europäischen Bewegung Sachsen.

Etwa 600 Menschen sind gekommen, um an etwas zu erinnern, woran kaum jemand gern erinnert werden will. Vorrangig Jugendliche, einige Vertreter von Linken, Grünen und SPD sind gekommen. Sie folgen dem Aufruf „Kein Vergeben. Kein Vergessen.“ und stellen sich einem denkbar unbequemen Andenken. „Eine Chance für Chemnitz“ sollte aus dem düsteren Kapitel entstehen, so wünschte es sich auch die damalige Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig.

Es darf wieder „geningelt“ werden, und das nicht zu knapp

Mit dem Gewinn des Titels „Kulturhauptstadt 2025“ deutete im Oktober 2020 vieles darauf hin, dass diese genutzt wird. Das Unmögliche schien auf einmal möglich. Chemnitz, das selbst ernannte Aschenputtel, war endlich in seiner inneren Schönheit erkannt worden. Inzwischen ist der Traum verblüht. Es darf wieder „geningelt“ werden – und das beileibe nicht zu knapp.

Die Macher (Macherinnen sind es hier seltener) der Kulturhauptstadt sehen sich mit überbordenden Erwartungshaltungen konfrontiert und müssen einsehen, dass sie vor allem eines nicht können: Wunden heilen. So scheint dieser Tage im medialen Erinnerungsrauschen vor allem eine Einschätzung plausibel, die auch das Bündnis als Schlusssatz für seinen Demo-Aufruf gewählt hat: „Es kann wieder passieren.“ Ist das noch Defätismus oder ist das schon Kapitulation?

Aufarbeitung erfolgte, wenn überhaupt, halbherzig

Zunächst ist es eine völlig realistische Einschätzung der Situation. Die Hooligan-Szene, die 2018 die Erstmobilisierung verantwortete, wurde nicht geschwächt. Im Gegenteil. Schon wenige Monate nachdem man sich in Chemnitz schwor, dass manche Dinge „nie wieder“ passieren dürfen, wurde die Szene durch den von der Stadt gut subventionierten Chemnitzer FC geadelt. Über offizielle Vereins-Kanäle huldigte man im Stadion dem Gründer der „HooNaRa“ (Hooligans, Nazis, Rassisten) Thomas Haller. Seine Organisation besaß in den Neunzigern mindestens deutschlandweit Einfluss.

„HooNaRa“-Mitglieder waren in einen Mordfall verwickelt, bei dem ein Jugendlicher auf dem Heimweg von einem Punkkonzert zu Tode geprügelt wurde. Der bis dahin europaweit einmalige Vorgang einer öffentlichen Machtdemonstration von Hooligans im Stadion brachte in der Szene Ruhm und Aufmerksamkeit. Die Bilder liefen über alle Kanäle. Chemnitz war einmal mehr nicht „the Unseen“, wäre es aber gern gewesen. Aufarbeitung erfolgte, wenn überhaupt, halbherzig.

Neonazi-Achse Chemnitz–Dortmund ist jetzt Einbahnstraße

Die bereits damals florierende Neonazi-Achse Chemnitz – Dortmund hat sich unterdessen zur Einbahnstraße entwickelt. Bekannte, teils vorbestrafte Importe aus dem rechtsextremen Spektrum stärken heute die regionalen Strukturen, die auch im Stadion des Chemnitzer FC Präsenz zeigen. In Dortmund haben inzwischen sowohl Polizeikräfte als auch der Fußballverein eine härtere Gangart im Umgang mit Rechtsextremen eingeschlagen, mit der in Chemnitz aktuell noch nicht zu rechnen ist.

Während sich der Dortmunder Neonazi Michael Brück montäglich mit Chemnitzer Querdenkern in freundlich-wohlwollender Atmosphäre tummelt, bei denen auch mal ein Polizist einen Ordner duzt und umgekehrt, wurde bei einer Demonstration zum Andenken an die 2009 in Dresden von einem Rassisten ermordete Marwa El-Sherbini ein Transparent mit der Aufschrift „Björn Höcke ist ein Nazi“ vor dem Chemnitzer Rathaus konfisziert und gegen die Trägerinnen und Träger ermittelt. Dass diese Aussage bereits zuvor von mehreren Gerichten deutschlandweit als zulässig beurteilt wurde, hatte sich offenbar noch nicht bis Chemnitz herumgesprochen.

In Chemnitz singt man gern Loblieder auf das Unpolitische

Schwerer als der Ballast rechtsextremer Netzwerke wiegt in der Aufarbeitung der Ereignisse von 2018 die unveränderte Grundhaltung aus Teilen der Stadtgesellschaft und Verwaltung. In Chemnitz singt man gern ein Loblied auf das Unpolitische. Ob aus mangelnder Diskursfähigkeit oder starkem Harmoniebedürfnis; unpolitisch sein gilt als erstrebenswert. Erst unlängst betonte ein namhafter Sportfunktionär der Stadt, man müsse eben die Politik aus dem Fußball raushalten, sie habe da nichts zu suchen.

Was zunächst zustimmungsfähig klingt, offenbart ein typisches Problem: das Dulden von Alltagsdiskriminierung. Unpolitisch sein heißt eben auch, im Rahmen der Konfliktvermeidung über Ungerechtigkeiten zu schweigen. Und in dieser Behaglichkeit wächst, was eigentlich vermieden werden sollte. So folgt Chemnitz immer wieder dem Beispiel der antiken Tragödie, indem es das Unheil heraufbeschwört im Versuch, es abzuwenden.

"Wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt“

Auch Jahre nach 2018 tut sich die Stadt immer noch schwer, öffentlich zu bekennen, welche Verbindungen hier zum NSU vorlagen, oder rechtsextreme Übergriffe zu benennen. Als gäbe es noch ein Image, das damit beschädigt werden könnte. „Ich trage dich, wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt“ – an diese Zeilen Gottfried Benns an seine Mutter denke ich, wenn ich an den Sommer vor fünf Jahren erinnert werde.

Ich denke an das tägliche Brummen der Helikopter über meiner Wohnung, an die bedrückende Katerstimmung nach dem „Wir-sind-mehr“-Konzert. Als die hippen Großstädter wieder in ihre hippen Großstädte fuhren, beseelt von dem guten Gefühl, „etwas gegen rechts“ getan zu haben.

Wir brauchen viele kleine „Wir sind mehr“-Momente

Ich möchte nicht zynisch sein, ich bin dankbar für das großartige Engagement der Künstler, die uns an jenem Abend so viel Kraft geschenkt haben. Ich bin glücklich, in einer Stadt zu leben, in der die Band Kraftklub zu Hause ist und nicht müde wird, daran zu erinnern, wie es sich anfühlt, wenn Rechtsextremismus mehr Mainstream ist als Antifa.

Ich bin überzeugt, dass es weder für ein Gelingen der Kulturhauptstadt noch für eine gute Aufarbeitung von 2018 – beides ist untrennbar verknüpft – zu spät ist. Wir brauchen viele kleine „Wir sind mehr“-Momente, aus eigener Kraft, und einen Kulturwandel im Umgang mit rechtsextremen Bedrohungen. „The Unseen“ wird 2025 gesehen. Als was, das liegt noch in unserer Hand.