Die Deutschen und der Krieg: Ein Gespräch mit dem Leipziger Philosophen Thomas Kater und mit Menschen, die über eine Welt ohne Krieg nachdenken. Und die Frage stellen: Ist der Pazifismus tot?
Herr Professor Kater, seit dem Ukrainekrieg ist der Pazifismus mächtig in der Kritik. In der Öffentlichkeit heißt es oft, er sei zynisch, naiv, gefährlich, überholt. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo sprach von „Lumpen-Pazifisten“. Was meinen Sie als Philosoph und Pazifismus-Forscher: Ist der Pazifismus tot?
Nein, vor allem als Idee sicherlich nicht. Aber leider kommen Pazifisten zu selten zu Wort, sodass sich kein ausgewogenes Bild ergibt. Zudem waren Pazifisten vor allem in Deutschland immer schon eine Minderheit, eine „angefeindete Minorität“, wie es der Literatur- und Kulturwissenschaftler Dietrich Harth genannt hat. Die heutige pauschalisierende Kritik am Pazifismus zeigt eher, dass die Menschen, die so reden, sich nicht wirklich mit Pazifismus befasst haben. Sie gehen davon aus, dass das Wesentliche am Pazifismus die kategorische Ablehnung von Gewalt sei.
Aber ist das nicht so?
Pazifismus gibt es in vielen Spielarten. Hinter dem Begriff, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geprägt wurde, verbirgt sich eine große Vielfalt, von der individuellen Entscheidung bis hin zum ausgefeilten politischen Konzept oder dem Nuklear-Pazifismus nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich gegen das atomare Wettrüsten wandte. Manche Pazifisten sehen durchaus ein Recht zur Selbstverteidigung im Fall eines gewaltsamen Angriffs, andere lehnen dies kategorisch ab.
Wie viele solcher Spielarten des Pazifismus gibt es?
Der Philosoph Max Scheler, der wie nicht wenige Menschen durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten geworden war, beschrieb schon 1927 acht Formen von Pazifismus. Nur eine davon war die aus persönlichen Gründen getroffene Gewissensentscheidung, auf Gewalt in jeder Form zu verzichten. Das aber ist eine schwierige Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen, hinter der eine große Gewissensnot stehen kann. Es gibt keinen Grund, eine solche Entscheidung zu diffamieren. Scheler nannte noch andere pazifistische Ansätze.
Die Vorstellung beispielsweise, dass man die Bedingungen für Frieden durch kulturellen Austausch oder durch freien Handel schaffen müsse. Die Hoffnung, dass die sozialistische Bewegung zu einer Weltfriedensordnung führen könne. Ein ganz wichtiger Impuls für den deutschen Pazifismus des 19. Jahrhunderts waren die Bemühungen für eine rechtliche Ordnung der internationalen Beziehungen, um die Anarchie der Staatenwelt zu überwinden.
Was verstand man darunter?
Bis zum Ersten Weltkrieg war der Krieg ein legitimes Mittel der Politik. Kein Staat konnte rechtlich dafür verurteilt werden, einen Krieg zu beginnen. Wer damals forderte, entsprechende Institutionen und Organisationen zu schaffen, wurde durchaus als politisch naiv bezeichnet. Heute haben wir solche Institutionen, auch wenn sie noch gravierende Defizite aufweisen.
Gibt es so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner für Pazifisten?
Einig sind sie sich darin, dass Krieg als Mittel der Politik keine Konflikte löst. Das berühmte lateinische Sprichwort „Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg“ wäre im pazifistischen Sinne entsprechend umzuformulieren: „Wenn du Frieden willst, rüste für den Frieden.“
Hat irgendjemand konkrete Vorstellungen, was Frieden ist?
In der Philosophie gibt es kaum tiefergehende Auseinandersetzungen mit Frieden, obwohl Krieg eine Konstante im menschlichen Leben ist und eine der großen Herausforderungen. Ich weiß nicht, warum Frieden in der Philosophie nicht zu den zentralen Themen gehört. Vielleicht, weil er etwas diffuses, schwer zu Beschreibendes ist. Es gibt eine große Sehnsucht nach Frieden, das durchzieht die Geschichte der Menschheit. Im christlichen Mittelalter hatte man dazu noch recht genaue Vorstellungen. So sah Augustinus im vierten, fünften Jahrhundert den Frieden als Überwindung jeder Form von Feindseligkeit im Sinne des biblischen Psalms, wo der Wolf beim Lamm wohnt. Und man hatte auch Bilder, etwa Pax als Frau mit Ölzweig und Füllhorn, als Sinnbild für die Wohltaten des Friedens. In der bildenden Kunst dieser Zeit sind Friedensdarstellungen erfüllt von Ruhe, Ordnung, Wohlstand, Spiel, Tanz, Harmonie. Andere knüpften an das biblische Bild des Kusses zwischen Frieden und Gerechtigkeit, Pax und Justitia, an. Man dachte die Weltordnung als eine Friedensordnung, in der der Krieg eine Störung ist, zu der der Mensch aber zurückfinden könne.
Im ausgehenden Mittelalter verabschiedete man sich offenbar von der Vorstellung, der Wolf könne beim Lamm wohnen. Da hieß es: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Ja, der Mathematiker und Staatsdenker Thomas Hobbes erschütterte im 17. Jahrhundert mit diesem Satz die harmonistischen Vorstellungen einer friedlichen Weltordnung. Er postulierte, dass der natürliche Zustand der Menschen ein Krieg aller gegen alle sei. Dennoch blieb die Hoffnung auf eine Überwindung des Krieges. Eines der wichtigsten philosophischen Werke zum Frieden bis zum heutigen Tag stammt von Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Für Kant wollen die Menschen zwar Eintracht, die Zwietracht jedoch bringe nicht nur Schrecken, sondern sei zugleich ein wichtiger Beweggrund für zivilisatorischen Fortschritt. Er meinte zwar, dass die Zwietracht nicht aus der Welt zu schaffen sei, ist aber überzeugt, dass es möglich ist, durch die Stiftung einer umfassenden Rechtsordnung die gewaltsame Eskalation von Konflikten zu verhindern. Frieden also durch Recht.
Und wie wird Frieden heute gesehen?
Wenn heute jemand versucht, Frieden zu beschreiben, bildlich zu fassen, dann handelt es sich zumeist um private Idyllen. Ein Nachmittag im sonnenbeschienenen Garten. Ein Vater, dessen Kind im Zug auf seinem Schoß liegt und schläft. Bilder, wie sie auch die Werbung vielfach zeichnet. Der Begriff des Friedens wird zwar vor allem politisch immer wieder beschworen, aber es verbindet sich damit keine politisch greifbare Vorstellung. Er hat keine konkrete bildliche Kraft mit entsprechender Wirkmacht. Das Bild beispielsweise vom Schmied, der ein Schwert umwandelt in eine Pflugschar, beschreibt den Prozess der Überwindung der Waffengewalt. Ebenso wie die verknotete Pistole vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York. Diese Bilder sagen positiv nichts über Frieden als anzustrebende Wirklichkeit. Vielleicht ist Frieden so zwar attraktiv als Gegenstück einer zu verbessernden Welt. Aber zugleich ist er zu wenig greifbar, um politisch breite Wirkmächtigkeit zu entfalten. Möglicherweise ist der Pazifismus auch deswegen die Bewegung von Minoritäten geblieben.
Vielleicht lässt sich mit Krieg auch einfach besser Geld verdienen. Sind Martin Luther King oder Mahatma Gandhi nicht Beispiele für die Kraft, die eine pazifistische Bewegung entwickeln kann? Beide betonten die Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit in der politischen Auseinandersetzung.
Es war nicht der diffuse Traum von Frieden, der die Menschen in beiden Fällen mobilisierte. Es waren konkrete politisch fassbare Ziele. Die Gleichstellung der Afroamerikaner in den USA, das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Dagegen hat die Friedensbewegung nie die Massenwirksamkeit erreicht, wie es zum Beispiel die Arbeiterbewegung vermochte. Selbst in den Hochzeiten des Pazifismus, so nach dem Ersten Weltkrieg, waren international wohl nicht viel mehr als 150.000 Menschen in entsprechenden Vereinigungen organisiert. Aber Gandhi und Luther King sind in anderer Hinsicht gute Beispiele. Pazifisten sind, wie es der Schriftsteller Kurt Hiller 1920 ausgedrückt hat, „keine von allen Salben bedingungsloser Menschenliebe triefenden Demutsgeschöpfe. Pazifismus bezeichnet keine Lammesgesinnung“. Kampf ist durchaus Teil pazifistischer Konzepte. Der ist dann aber ein Kampf der Worte und ein Kampf, der auf gewaltfreie soziale Ausdrucksmöglichkeiten setzt, auf Verweigerung wie Streik oder Boykott.
Ist das nicht auch eine Form von Gewalt?
Das ist eine Frage der Definition. Wenn man die Besetzung einer Kreuzung als Form von Gewalt gegen Autofahrer sieht, dann ja. Wenn man Gewalt aber so definiert und den Begriff sozusagen immer weiter ausdehnt, dann verengt man den Begriff des friedlichen Kampfes und schränkt die Möglichkeiten zu gewaltfreiem Widerstand ein. Zugleich wird damit aber auch der Begriff des Friedens immer unschärfer und unwirklicher.
Sie bezeichneten sich in einem Artikel selber einmal als Pazifist. Sind Sie noch einer, trotz des Krieges in der Ukraine?
Ja. Mein pazifistisches Credo drückt vielleicht ein Satz von Kant treffend aus. „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein!“ Ich weiß nicht, ob die Menschheit je in einen Zustand gelangt ohne Krieg, ohne Gewalt. Das kann wohl auch niemand wissen, allenfalls hoffen. Erich Kästner sah das eher fatalistisch. 1930 schrieb er das Gedicht „Das letzte Kapitel“. Nachdem die Menschheit komplett ausgelöscht ist durch ein von einer Weltregierung angeordnetes Bombardement aus Gift und Bazillen, hält Kästner lyrisch fest: „Die Erde war aber endlich still und zufrieden und rollte / völlig beruhigt ihre bekannte elliptische Bahn.“ Auch Immanuel Kant schrieb gelegentlich, dass der ewige Friede wohl nur möglich sei „auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung“.
Das sind ja keine guten Aussichten für die menschliche Zukunft.
Ich bin kein Fatalist. Wir sollten uns, auch dies formulierte Kant, um die kontinuierliche Annäherung an das Ideal eines dauerhaften Friedens bemühen, denn Frieden sei keine leere Idee, sondern eine Aufgabe aus Pflicht. Diese Bemühungen müssen sowohl auf internationaler Ebene als auch innergesellschaftlich erfolgen, wieder und wieder. Der einstige UN-Chef Kofi Annan hatte in den Neunzigern eine Reform der Vereinten Nationen angeregt. Sie ist leider aus verschiedenen Gründen kaum vorangekommen. Insbesondere der UN-Sicherheitsrat müsste die Vielfalt der Welt besser abbilden, mehr Mitsprache ermöglichen und eine deutlichere Verurteilung von Rechtsverstößen. Vor allem das Vetorecht von nur fünf Staaten gehört abgeschafft. Zugleich aber ist zu fragen, wie wir mit innergesellschaftlichen Konflikten umgehen. Leider geschieht dies zu oft auf polemische, diffamierende und durchaus unversöhnliche Weise. Weil man nicht akzeptiert, dass jemand nicht nur eine andere Meinung haben kann, sondern das Recht auf eine andere Meinung hat.
Prägt das auch die Debatte zum Krieg in der Ukraine?
Ja, viele Debatten dazu sind mir zu holzschnittartig, vor allem moralisch zu vereinfacht. Wir stehen in diesem Krieg vor einem moralischen Dilemma, bei dem gerade auch das Diktum der Gewaltfreiheit an seine Grenzen stößt. Es gibt einen Angreifer, Russland, und einen Angegriffenen, die Ukraine. Im Vorfeld des Krieges sind nicht erst seit 2014 sicherlich Fehler gemacht worden. Gleichwohl müssen wir uns jetzt als Dritte dazu verhalten. Wenn man die Ukraine unterstützt im Sinne der Nothilfe und des Rechts auf Selbstverteidigung, befördert man den Krieg weiter und macht sich moralisch schuldig. Wenn man aber die Hilfe verweigert, macht man sich ebenfalls schuldig, weil man den Angegriffenen ohne eigene Not bloßer Gewalt ausliefert. Beide Positionen laden Schuld auf sich. Somit gibt es in der Haltung der Dritten keine Lösung, die moralisch eindeutig richtig oder falsch ist, kein klares Gut und Böse. Jede der beiden Positionen befindet sich in einem Dilemma.
Sehen Sie eine Lösung für dieses Dilemma?
Auf jeden Fall gibt es darauf keine Antwort, die alle Seiten gleichermaßen zufriedenstellt. Wir haben aus Sicht der internationalen Rechtsordnung einen Rechtsbruch durch Russland, und der darf nicht unsanktioniert bleiben, wenn diese Ordnung nicht bloß unglaubwürdig sein soll. Insofern halte ich die Waffenlieferungen an die Ukraine für gerechtfertigt. Wir müssen jedoch vor allem auch über diesen Krieg hinausdenken. Wir müssen versuchen, die Defizite der internationalen Ordnung zu überwinden, die dieser Krieg erneut offengelegt hat. Denn es wird in Zukunft weiterhin schwerwiegende internationale Konflikte geben, auch bedingt durch die Klimakrise. Und diese sollten ohne Gewalt gelöst werden können. Der Pazifismus ist also ganz und gar nicht unzeitgemäß, sondern sehr aktuell.
Mahnwache Dresden: "Frieden schaffen mit Waffen" ist verrückt
Jeden Freitagabend sitzen wir am Georgentor in Dresden mit unseren Friedensfahnen, bei schönem Wetter sind wir auf dem Neumarkt. Wir, das sind meine Mitstreiterin Vivian Richter und ich. Ich mache das, weil ich vom Frieden träume. Das ist kein leeres Wort für mich. Wenn ich daran nicht glauben würde, könnte ich gleich einpacken. Wir halten keine Reden, sprechen niemanden an, geben kein Thema vor. Das ist nicht nötig. Die Leute sehen unsere Fahnen und sprechen uns an. Meist geht es um den Krieg.
Viele reden über ihre Ängste und sind froh, dass ihnen jemand zuhört, ohne zu urteilen. Manche sagen, dass sie es gut finden, dass wir hier sitzen, weil kaum jemand öffentlich über Frieden als Frieden sprechen würde. Wenn, dann über „Frieden schaffen mit Waffen“. Über „Panzer für den Frieden“. Das ist absurd und verrückt, finde ich. Es gibt natürlich auch Kritik an unserer Mahnwache.
Vergangene Woche war ein Ukrainer da, der diskutierte sehr heftig mit mir über die Kriegsursachen. Ich sehe die alleinige Verantwortung nicht bei Russland. Und wir brauchen dringend Friedensverhandlungen. Ich würde mir wünschen, jemand würde Diplomaten in Ländern einsammeln, die nicht beteiligt sind an dem ganzen Konflikt und möglichst weit weg von Russland und Europa. Vielleicht wären dadurch konstruktive Verhandlungen zwischen Russen und Ukrainern möglich. Vermutlich würde das sehr lang dauern. Aber Helmut Schmidt soll einmal gesagt haben: „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.“
Der Ukrainer und ich diskutierten eine Stunde. Wir waren uns in so gut wie nichts einig. Er hat mir am Ende dennoch die Hand gereicht und sogar gelächelt. Genau das ist mein Ziel: dass wir unterschiedlicher Meinung sein und uns trotzdem als Menschen begegnen können.
Das hat mich schon in der Corona-Zeit beschäftigt. Ich war bei vielen sehr unterschiedlichen Corona-Protesten. Bei so einer Demo habe ich Vivian getroffen. Dort fiel mir auch eine junge Frau auf. Sie hatte ein riesiges Transparent selber bemalt mit der Aufschrift „Einladung zum friedlichen Dialog“. Woche für Woche setzte sie sich einfach mitten zwischen Querdenker und Antifa. Irgendwann kam sie nicht mehr, aber wir haben das Transparent von ihr geschenkt bekommen. Das war im Prinzip der Beginn unserer Aktion. Wir setzten uns einfach mit dem Transparent in die Stadt. Außer an Freitagabenden findet man uns montags bei der Friedensmahnwache am Gomondai-Platz. Auch am Ostermarsch in Dresden werde ich teilnehmen.
Ich weiß nicht, ob ich mich als Pazifistin bezeichnen darf. Das ist ein hoher Anspruch, finde ich. Gegen jeden Krieg, gegen jede Gewalt eintreten und selbst entsprechend leben. Gewalt wird ja nicht nur militärisch oder körperlich ausgeübt, sondern auch über Worte und die Art, wie man diskutiert und redet. Es gelingt mir leider nicht immer, ruhig zu bleiben, mich in das Gegenüber zu versetzen, tolerant zu sein. Aber ich arbeite daran.
Abiturient aus Tharandt: Sieht den Pazifismus kritisch
Wenn dir jemand auf die Wange schlägt, dann halte auch die andere hin. So ähnlich steht das in der Bergpredigt. Ich war 15, als wir das in der Schule in Religion besprochen haben. Ich bin nicht gläubig, aber ich fand, dass das ein schöner Gedanke ist. Ich sah mich schon als eine Art Pazifist.
Kurz nach Kriegsbeginn haben wir in Geschichte über Pazifismus geredet. Der Lehrer verwies auf die Forderung, Frieden zu schaffen ohne Waffen. Er hielt das angesichts des Krieges in der Ukraine nicht für realistisch. Ich widersprach und zitierte die Bergpredigt. Fragte: „Wäre das nicht eine wunderbare Welt, wenn es keine Waffen gäbe?“ Er meinte, ja, aber die Betonung liegt auf „gäbe“.
Daraus hat sich eine Diskussion entwickelt, die sich über mehrere Wochen zog. Ich habe viel über mein Welt- und Menschenbild nachgedacht. Ich bin behütet aufgewachsen, im Frieden, ohne Hunger und Not. Mein Menschenbild basierte auf der Annahme, dass jeder Mensch gut und auf Frieden aus ist. Aber in der Natur des Menschen liegen auch Gier und das Streben nach Macht. Ich kann mich gut erinnern, wie es sich anfühlte, auf dem Computer Minecraft zu spielen. Ich konnte machen, was ich wollte. Das war ein tolles Gefühl.
Die große Frage ist, wie geht man damit um? Was hindert in der Wirklichkeit einen Menschen, sich rücksichtslos, illegal und sogar mit Gewalt das zu nehmen, was er will? Ich kann nicht genau sagen, ab wann ich anders dachte. Heute sehe ich Pazifismus eher wie mein Lehrer: kritisch angesichts der Realität, auch wenn ich nach wie vor kein Freund des Militärs bin. Pazifismus ist eine schöne Weltvorstellung. Eine Welt ohne Waffen und ohne kriegerische Auseinandersetzung. Aber wenn nicht alle mitmachen, kann es nicht gehen. Und wie hätte die Bergpredigt in Bezug auf die Ukraine funktionieren sollen? Sollten die Ukrainer sagen: Okay, nehmt all diese Gebiete und macht, was ihr wollt, wir machen nichts?
Ich denke, es ist richtig, dass Deutschland der Ukraine Waffen liefert. Es ist juristisch abgedeckt, weil es ein Recht zur Selbstverteidigung gibt. Die große Frage ist, wie man das moralisch bewertet. Wenn man der Ukraine Waffen gibt, heizt man den Krieg weiter an. Wenn man zuschaut, tut man nichts, um die Gewalt zu verhindern. Die Welt ist einfach nicht wie in den Computerspielen oder in den Disney-Filmen, wo klar ist, wer gut und wer böse ist.
Trotz allem finde ich, dass die Menschen nach anderen Wegen suchen müssen, um Kriege zu vermeiden. Kapitalismus und Sozialismus sind Dinge, die mich sehr beschäftigen. Nicht der Sozialismus, wie er wohl in der DDR war. Aber wichtig ist mir die Frage nach Gerechtigkeit in einer Welt, in der ganze Länder ausgebeutet werden, um bei uns Waren noch billiger zu machen und noch mehr zu verkaufen. Um die Menschen dort und die Zerstörungen der Umwelt kümmert sich niemand wirklich, ist mein Eindruck. So sieht eine friedliche Welt nicht aus.
Der Dresdner Pfarrer und die Zweifel
Ich kann nicht genau sagen, seit wann ich mich als Pazifist bezeichne. Ich bin aufgewachsen in einer Stadt, die voller Kriegsnarben war. Wohin wir gingen, waren Ruinen. Mein Vater hat den Angriff auf Dresden erlebt. Für meine Eltern war es selbstverständlich, dass wir Kinder ohne Spielzeugwaffen aufwachsen. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, weil vor dem Pionierpalast ein Panzer stand, auf dem die Kinder klettern durften. Einmal sahen wir, wie vor der sogenannten Russenkaserne in Dresden-Übigau ein sowjetischer Soldat zusammenbrach. Ein Offizier ging zu ihm hin und trat ihn im Liegen. Das hat mich tief verstört.
Ich gehöre zum letzten Jahrgang, der noch keinen Wehrkundeunterricht in der Schule hatte. Aber in der elften Klasse mussten wir zwei Wochen ins GST-Lager, eine Art vormilitärische Ausbildung mit Übungen für den Atomschlag. Wenn die Bombe explodiert, sollte man eine Zeitung über den Kopf halten, aufstehen, den radioaktiven Staub abschütteln und weiterkämpfen. Das klingt heute absurd. Aber der ständig spürbare Militarismus in der DDR, der immer den Frieden beschwor, befremdete mich genauso wie die Unfreiheit des Systems.
Ich war in der Jungen Gemeinde und auch in der Friedensbewegung, die sich unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ unter dem Dach der Kirche bildete. Ich hatte viel Glück, ich konnte trotz meiner christlichen Haltung das Abitur ablegen und studieren, ohne zur Armee zu müssen. Als die Wende kam, dachte ich, jetzt beginnt ein Zeitalter des Friedens. Es war schnell klar, dass es nicht so kommt. Mein Pazifismus ist wiederholt herausgefordert worden, beispielsweise beim Kosovo-Krieg 1999.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine weckt erneut große Zweifel. Es gibt in diesem Konflikt kaum eindeutige Antworten. Ich habe keine. Wenn mich Menschen in meiner Gemeinde ansprechen oder ich darauf in meinen Predigten eingehe, sage ich das auch.
Ich halte das Prinzip der Gewaltlosigkeit und des Austragens von Konflikten ohne Waffen für wichtig. Dieser Krieg hat eine Vorgeschichte, die man mit bedenken muss bei der Bewertung des Krieges. Andererseits ist für mich klar, dass Putin in die Schranken gewiesen werden muss. Man sollte alles tun, um einen Frieden auszuhandeln. Aber wenn nicht beide Seiten Frieden wollen, ist das schwer. Einer allein kann keinen Frieden machen. Dann kann Verteidigung notwendig werden. Es ist leider sehr viel zerstört worden in diesem Krieg. Leben, Städte, ein Land, Vertrauen. Es wird schwer werden, dieses Vertrauen wieder aufzubauen.
Dennoch, ich hoffe, dass wir bald dahin kommen, wieder über Verhandlungen und Frieden zu sprechen, nicht nur über Panzer und Waffenproduktion. Ich will mir meinen Traum vom Frieden unter den Menschen nicht nehmen lassen. Es mag ein Traum sein. Aber im Sommer 1989 hätte ich auch niemals gedacht, dass wir nur Monate später die Wiedervereinigung haben und ein demokratisches System.
Pazifistin - und trotzdem für Waffenlieferungen
Es wäre schön, wenn wir weltweit in Frieden und in Respekt voreinander leben könnten, ohne Krieg. In diesem Sinne sehe ich mich als Pazifistin. Aber die Welt funktioniert leider nicht immer so.Bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine habe ich mir nie die Frage gestellt, ob ich Pazifistin bin oder nicht. Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen. Auch in meiner Familie gab es Erzählungen vom Weltkrieg, aber das war auf gewisse Weise doch eher fern. Ich bin zwar schon lange politisch interessiert und verfolge, was für Kriege herrschen und warum. Aber ich dachte häufig, es ist ja weit weg.
Das hat sich im Februar 2022 gründlich geändert. Die Frage, wie ich zu Krieg, Frieden und Pazifismus stehe, beschäftigt mich sehr. Pazifismus heißt für mich nicht, dass wir den Frieden bei uns erhalten und uns ansonsten heraushalten in der Welt. Es gibt auch heute ganz offensichtlich Situationen, wo das nicht möglich ist.
Wenn jemand angegriffen wird, sollte man versuchen, zu helfen, Haltung zu zeigen. Das ist hier vor Ort nicht anders als international. In meinen Augen ist dies das kleinere Übel, als zuzugucken, wie ein Land ein anderes überfällt und den Menschen Unrecht und Leid zufügt. Deshalb halte ich als Pazifistin die Lieferung von Waffen und Panzern in diesem Fall für richtig. Und deshalb gehört für mich nicht unbedingt der Verzicht auf Waffenlieferungen zum Pazifismus. Ebenso wichtig ist das Recht auf Notwehr und Selbstverteidigung. Das gewährleisten das deutsche Recht und die UN-Charta.
Ich bin seit einiger Zeit Mitglied bei den Grünen. Viele Leute werfen den Grünen vor, dass sie ihren Pazifismus über Bord geworfen hätten und Kriegstreiber wären, weil sie die Waffenlieferungen befürworten. Ich sehe das anders. Ich finde es richtig, dass sie auf die veränderten Bedingungen reagieren und nicht an alten Dogmen festhalten.
Heute ist mir erst klar, was für ein Privileg es war, im tiefsten Frieden aufzuwachsen und zu leben. Ein Garant für diese Friedensordnung ist meiner Ansicht nach die Europäische Union. Das ist, fürchte ich, vielen nicht bewusst. Mich beschäftigt überdies, wie wir als Gesellschaft mit Konflikten umgehen. Es ist mir wichtig, mich dafür zu engagieren. Ich bin Vorsitzende des Naturschutzbundes in Sebnitz, gebe geflüchteten Frauen Deutschunterricht und gehöre einem Verein an, der sich um Dialog zu politischen Themen hier vor Ort bemüht. Das hat nicht immer so funktioniert, wie ich mir das erhofft habe. Das Miteinander-Diskutieren hat in bestimmten Situation der Angst und der Krise offenbar Grenzen.
Vergangenes Jahr haben wir uns am Stadtfest beteiligt. Das war eine schöne Erfahrung, weil durch das gemeinsame Feiern wieder Menschen zusammengebracht wurden, die sehr konträr eingestellt waren und sind. Auch das ist für mich ein Stück Pazifismus: der Friede, der in einer Gesellschaft herrscht. Unterschiedlicher Meinung sein können, aber zu einer Gemeinsamkeit finden.