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Kann man heute noch Pazifist sein?

Die Deutschen und der Krieg: Ein Gespräch mit dem Leipziger Philosophen Thomas Kater und mit Menschen, die über eine Welt ohne Krieg nachdenken. Und die Frage stellen: Ist der Pazifismus tot?

Von Christina Wittig-Tausch
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Die Taube steht für Pazifismus und den Traum einer Welt ganz ohne Krieg und Gewalt. Ist dieses Konzept angesichts des Kriegs in der Ukraine haltbar?
Die Taube steht für Pazifismus und den Traum einer Welt ganz ohne Krieg und Gewalt. Ist dieses Konzept angesichts des Kriegs in der Ukraine haltbar? © dpa-Zentralbild

Herr Professor Kater, seit dem Ukrainekrieg ist der Pazifismus mächtig in der Kritik. In der Öffentlichkeit heißt es oft, er sei zynisch, naiv, gefährlich, überholt. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo sprach von „Lumpen-Pazifisten“. Was meinen Sie als Philosoph und Pazifismus-Forscher: Ist der Pazifismus tot?

Nein, vor allem als Idee sicherlich nicht. Aber leider kommen Pazifisten zu selten zu Wort, sodass sich kein ausgewogenes Bild ergibt. Zudem waren Pazifisten vor allem in Deutschland immer schon eine Minderheit, eine „angefeindete Minorität“, wie es der Literatur- und Kulturwissenschaftler Dietrich Harth genannt hat. Die heutige pauschalisierende Kritik am Pazifismus zeigt eher, dass die Menschen, die so reden, sich nicht wirklich mit Pazifismus befasst haben. Sie gehen davon aus, dass das Wesentliche am Pazifismus die kategorische Ablehnung von Gewalt sei.

Aber ist das nicht so?

Pazifismus gibt es in vielen Spielarten. Hinter dem Begriff, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geprägt wurde, verbirgt sich eine große Vielfalt, von der individuellen Entscheidung bis hin zum ausgefeilten politischen Konzept oder dem Nuklear-Pazifismus nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich gegen das atomare Wettrüsten wandte. Manche Pazifisten sehen durchaus ein Recht zur Selbstverteidigung im Fall eines gewaltsamen Angriffs, andere lehnen dies kategorisch ab.

Wie viele solcher Spielarten des Pazifismus gibt es?

Der Philosoph Max Scheler, der wie nicht wenige Menschen durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten geworden war, beschrieb schon 1927 acht Formen von Pazifismus. Nur eine davon war die aus persönlichen Gründen getroffene Gewissensentscheidung, auf Gewalt in jeder Form zu verzichten. Das aber ist eine schwierige Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen, hinter der eine große Gewissensnot stehen kann. Es gibt keinen Grund, eine solche Entscheidung zu diffamieren. Scheler nannte noch andere pazifistische Ansätze.

Unser Gesprächspartner: Thomas Kater, geboren 1966 in Bottrop, ist Pazifismus-Experte und lehrt seit 2005 Philosophie an der Uni Leipzig. Zum Pazifismus kam er durch seinen im Krieg schwer verwundeten Vater. Und durch Immanuel Kant, über den er seine Dokt
Unser Gesprächspartner: Thomas Kater, geboren 1966 in Bottrop, ist Pazifismus-Experte und lehrt seit 2005 Philosophie an der Uni Leipzig. Zum Pazifismus kam er durch seinen im Krieg schwer verwundeten Vater. Und durch Immanuel Kant, über den er seine Dokt © kairospress

Die Vorstellung beispielsweise, dass man die Bedingungen für Frieden durch kulturellen Austausch oder durch freien Handel schaffen müsse. Die Hoffnung, dass die sozialistische Bewegung zu einer Weltfriedensordnung führen könne. Ein ganz wichtiger Impuls für den deutschen Pazifismus des 19. Jahrhunderts waren die Bemühungen für eine rechtliche Ordnung der internationalen Beziehungen, um die Anarchie der Staatenwelt zu überwinden.

Was verstand man darunter?

Bis zum Ersten Weltkrieg war der Krieg ein legitimes Mittel der Politik. Kein Staat konnte rechtlich dafür verurteilt werden, einen Krieg zu beginnen. Wer damals forderte, entsprechende Institutionen und Organisationen zu schaffen, wurde durchaus als politisch naiv bezeichnet. Heute haben wir solche Institutionen, auch wenn sie noch gravierende Defizite aufweisen.

Gibt es so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner für Pazifisten?

Einig sind sie sich darin, dass Krieg als Mittel der Politik keine Konflikte löst. Das berühmte lateinische Sprichwort „Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg“ wäre im pazifistischen Sinne entsprechend umzuformulieren: „Wenn du Frieden willst, rüste für den Frieden.“

Hat irgendjemand konkrete Vorstellungen, was Frieden ist?

In der Philosophie gibt es kaum tiefergehende Auseinandersetzungen mit Frieden, obwohl Krieg eine Konstante im menschlichen Leben ist und eine der großen Herausforderungen. Ich weiß nicht, warum Frieden in der Philosophie nicht zu den zentralen Themen gehört. Vielleicht, weil er etwas diffuses, schwer zu Beschreibendes ist. Es gibt eine große Sehnsucht nach Frieden, das durchzieht die Geschichte der Menschheit. Im christlichen Mittelalter hatte man dazu noch recht genaue Vorstellungen. So sah Augustinus im vierten, fünften Jahrhundert den Frieden als Überwindung jeder Form von Feindseligkeit im Sinne des biblischen Psalms, wo der Wolf beim Lamm wohnt. Und man hatte auch Bilder, etwa Pax als Frau mit Ölzweig und Füllhorn, als Sinnbild für die Wohltaten des Friedens. In der bildenden Kunst dieser Zeit sind Friedensdarstellungen erfüllt von Ruhe, Ordnung, Wohlstand, Spiel, Tanz, Harmonie. Andere knüpften an das biblische Bild des Kusses zwischen Frieden und Gerechtigkeit, Pax und Justitia, an. Man dachte die Weltordnung als eine Friedensordnung, in der der Krieg eine Störung ist, zu der der Mensch aber zurückfinden könne.

Im ausgehenden Mittelalter verabschiedete man sich offenbar von der Vorstellung, der Wolf könne beim Lamm wohnen. Da hieß es: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Ja, der Mathematiker und Staatsdenker Thomas Hobbes erschütterte im 17. Jahrhundert mit diesem Satz die harmonistischen Vorstellungen einer friedlichen Weltordnung. Er postulierte, dass der natürliche Zustand der Menschen ein Krieg aller gegen alle sei. Dennoch blieb die Hoffnung auf eine Überwindung des Krieges. Eines der wichtigsten philosophischen Werke zum Frieden bis zum heutigen Tag stammt von Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Für Kant wollen die Menschen zwar Eintracht, die Zwietracht jedoch bringe nicht nur Schrecken, sondern sei zugleich ein wichtiger Beweggrund für zivilisatorischen Fortschritt. Er meinte zwar, dass die Zwietracht nicht aus der Welt zu schaffen sei, ist aber überzeugt, dass es möglich ist, durch die Stiftung einer umfassenden Rechtsordnung die gewaltsame Eskalation von Konflikten zu verhindern. Frieden also durch Recht.

Und wie wird Frieden heute gesehen?

Wenn heute jemand versucht, Frieden zu beschreiben, bildlich zu fassen, dann handelt es sich zumeist um private Idyllen. Ein Nachmittag im sonnenbeschienenen Garten. Ein Vater, dessen Kind im Zug auf seinem Schoß liegt und schläft. Bilder, wie sie auch die Werbung vielfach zeichnet. Der Begriff des Friedens wird zwar vor allem politisch immer wieder beschworen, aber es verbindet sich damit keine politisch greifbare Vorstellung. Er hat keine konkrete bildliche Kraft mit entsprechender Wirkmacht. Das Bild beispielsweise vom Schmied, der ein Schwert umwandelt in eine Pflugschar, beschreibt den Prozess der Überwindung der Waffengewalt. Ebenso wie die verknotete Pistole vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York. Diese Bilder sagen positiv nichts über Frieden als anzustrebende Wirklichkeit. Vielleicht ist Frieden so zwar attraktiv als Gegenstück einer zu verbessernden Welt. Aber zugleich ist er zu wenig greifbar, um politisch breite Wirkmächtigkeit zu entfalten. Möglicherweise ist der Pazifismus auch deswegen die Bewegung von Minoritäten geblieben.

Vielleicht lässt sich mit Krieg auch einfach besser Geld verdienen. Sind Martin Luther King oder Mahatma Gandhi nicht Beispiele für die Kraft, die eine pazifistische Bewegung entwickeln kann? Beide betonten die Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit in der politischen Auseinandersetzung.

Es war nicht der diffuse Traum von Frieden, der die Menschen in beiden Fällen mobilisierte. Es waren konkrete politisch fassbare Ziele. Die Gleichstellung der Afroamerikaner in den USA, das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Dagegen hat die Friedensbewegung nie die Massenwirksamkeit erreicht, wie es zum Beispiel die Arbeiterbewegung vermochte. Selbst in den Hochzeiten des Pazifismus, so nach dem Ersten Weltkrieg, waren international wohl nicht viel mehr als 150.000 Menschen in entsprechenden Vereinigungen organisiert. Aber Gandhi und Luther King sind in anderer Hinsicht gute Beispiele. Pazifisten sind, wie es der Schriftsteller Kurt Hiller 1920 ausgedrückt hat, „keine von allen Salben bedingungsloser Menschenliebe triefenden Demutsgeschöpfe. Pazifismus bezeichnet keine Lammesgesinnung“. Kampf ist durchaus Teil pazifistischer Konzepte. Der ist dann aber ein Kampf der Worte und ein Kampf, der auf gewaltfreie soziale Ausdrucksmöglichkeiten setzt, auf Verweigerung wie Streik oder Boykott.

Ist das nicht auch eine Form von Gewalt?

Das ist eine Frage der Definition. Wenn man die Besetzung einer Kreuzung als Form von Gewalt gegen Autofahrer sieht, dann ja. Wenn man Gewalt aber so definiert und den Begriff sozusagen immer weiter ausdehnt, dann verengt man den Begriff des friedlichen Kampfes und schränkt die Möglichkeiten zu gewaltfreiem Widerstand ein. Zugleich wird damit aber auch der Begriff des Friedens immer unschärfer und unwirklicher.

Sie bezeichneten sich in einem Artikel selber einmal als Pazifist. Sind Sie noch einer, trotz des Krieges in der Ukraine?

Ja. Mein pazifistisches Credo drückt vielleicht ein Satz von Kant treffend aus. „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein!“ Ich weiß nicht, ob die Menschheit je in einen Zustand gelangt ohne Krieg, ohne Gewalt. Das kann wohl auch niemand wissen, allenfalls hoffen. Erich Kästner sah das eher fatalistisch. 1930 schrieb er das Gedicht „Das letzte Kapitel“. Nachdem die Menschheit komplett ausgelöscht ist durch ein von einer Weltregierung angeordnetes Bombardement aus Gift und Bazillen, hält Kästner lyrisch fest: „Die Erde war aber endlich still und zufrieden und rollte / völlig beruhigt ihre bekannte elliptische Bahn.“ Auch Immanuel Kant schrieb gelegentlich, dass der ewige Friede wohl nur möglich sei „auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung“.

Das sind ja keine guten Aussichten für die menschliche Zukunft.

Ich bin kein Fatalist. Wir sollten uns, auch dies formulierte Kant, um die kontinuierliche Annäherung an das Ideal eines dauerhaften Friedens bemühen, denn Frieden sei keine leere Idee, sondern eine Aufgabe aus Pflicht. Diese Bemühungen müssen sowohl auf internationaler Ebene als auch innergesellschaftlich erfolgen, wieder und wieder. Der einstige UN-Chef Kofi Annan hatte in den Neunzigern eine Reform der Vereinten Nationen angeregt. Sie ist leider aus verschiedenen Gründen kaum vorangekommen. Insbesondere der UN-Sicherheitsrat müsste die Vielfalt der Welt besser abbilden, mehr Mitsprache ermöglichen und eine deutlichere Verurteilung von Rechtsverstößen. Vor allem das Vetorecht von nur fünf Staaten gehört abgeschafft. Zugleich aber ist zu fragen, wie wir mit innergesellschaftlichen Konflikten umgehen. Leider geschieht dies zu oft auf polemische, diffamierende und durchaus unversöhnliche Weise. Weil man nicht akzeptiert, dass jemand nicht nur eine andere Meinung haben kann, sondern das Recht auf eine andere Meinung hat.

Prägt das auch die Debatte zum Krieg in der Ukraine?

Ja, viele Debatten dazu sind mir zu holzschnittartig, vor allem moralisch zu vereinfacht. Wir stehen in diesem Krieg vor einem moralischen Dilemma, bei dem gerade auch das Diktum der Gewaltfreiheit an seine Grenzen stößt. Es gibt einen Angreifer, Russland, und einen Angegriffenen, die Ukraine. Im Vorfeld des Krieges sind nicht erst seit 2014 sicherlich Fehler gemacht worden. Gleichwohl müssen wir uns jetzt als Dritte dazu verhalten. Wenn man die Ukraine unterstützt im Sinne der Nothilfe und des Rechts auf Selbstverteidigung, befördert man den Krieg weiter und macht sich moralisch schuldig. Wenn man aber die Hilfe verweigert, macht man sich ebenfalls schuldig, weil man den Angegriffenen ohne eigene Not bloßer Gewalt ausliefert. Beide Positionen laden Schuld auf sich. Somit gibt es in der Haltung der Dritten keine Lösung, die moralisch eindeutig richtig oder falsch ist, kein klares Gut und Böse. Jede der beiden Positionen befindet sich in einem Dilemma.

Sehen Sie eine Lösung für dieses Dilemma?

Auf jeden Fall gibt es darauf keine Antwort, die alle Seiten gleichermaßen zufriedenstellt. Wir haben aus Sicht der internationalen Rechtsordnung einen Rechtsbruch durch Russland, und der darf nicht unsanktioniert bleiben, wenn diese Ordnung nicht bloß unglaubwürdig sein soll. Insofern halte ich die Waffenlieferungen an die Ukraine für gerechtfertigt. Wir müssen jedoch vor allem auch über diesen Krieg hinausdenken. Wir müssen versuchen, die Defizite der internationalen Ordnung zu überwinden, die dieser Krieg erneut offengelegt hat. Denn es wird in Zukunft weiterhin schwerwiegende internationale Konflikte geben, auch bedingt durch die Klimakrise. Und diese sollten ohne Gewalt gelöst werden können. Der Pazifismus ist also ganz und gar nicht unzeitgemäß, sondern sehr aktuell.