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Endlich clean

Michaela aus Meißen nahm 20 Jahre lang harte Drogen und trank sehr viel Alkohol. Jetzt hat sie die Sucht überwunden. Ihre Familie hielt zu ihr.

Von Olaf Kittel
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Sie stand lange am Abgrund und bekam gerade noch die Kurve. Mit 37 hat Michaela mit ihren zwei Kindern endlich wieder Hoffnung.
Sie stand lange am Abgrund und bekam gerade noch die Kurve. Mit 37 hat Michaela mit ihren zwei Kindern endlich wieder Hoffnung. © Matthias Rietschel

Den ersten Joint rauchte sie mit 14. Damals, Ende der 90er-Jahre, zog Michaela* mit ihrer Clique um die Häuser, sie krochen in Verstecke, bauten sich Buden. Dort wollten sie ausprobieren, wovon die Älteren schwärmten. Haschisch gab es ziemlich preiswert, sie plünderten dafür ihre Sparschweine, nahmen’s vom Jugendweihgeld oder baten daheim um Zuwendungen für angeblich dringende Einkäufe. Es war der Anfang der Drogenkarriere von Michaela, die in einem christlich-bürgerlichen Haushalt in Meißen wohlbehütet aufgewachsen war.

Mit 15 nahmen sie in ihrer Clique bereits Crystal Meth. Anfangs nur am Wochenende, wenn sie in den Dresdner Discos die Nächte durchtanzten. „Wir wollten damals die neuen Freiheiten ausprobieren und dachten, wir verpassen was. Wir wollten locker und lustig sein.“ Sie nahmen das Zeug dann öfter, weil sie immer locker und lustig sein wollten. Irgendwer brachte immer irgendwoher irgendwas mit. Sie fuhren auch mit dem Zug nach Tschechien und besorgten sich die chemische Droge dort, wo alles so schön billig ist.

Mit den Leistungen in der Schule ging es bergab, nach der 9. Klasse war Schluss, eigentlich hatte sie die erste Zeit sogar auf dem Gymnasium verbracht. Und die Eltern hatten noch immer keine Ahnung, was mit ihrer Tochter los war.

Nur die Chefin merkte manchmal, was los war

Wie so viele ihrer Generation ging Michaela zur Ausbildung in den Westen. Nach drei Monaten allerdings wurde ihr der Ausbildungsvertrag wieder gekündigt, sie kehrte ins Elternhaus zurück, schwanger. „Mama hat geguckt, als hätte sie ein ICE angefahren. Aber Papa meinte, das Kind bekommen wir auch noch groß. Ich war sehr erleichtert.“ Immerhin habe sie während der Schwangerschaft auf Drogen verzichtet, sagt Michaela. Ihre Eltern kümmerten sich um Mutter und Kind, richteten ihnen sogar eine eigene Wohnung ein.

Michaela versorgte und umsorgte zunächst ihren kleinen Sohn und begann dennoch wieder Drogen zu nehmen. Drei Hartz IV-Jahre später begann sie mit 22 eine neue Ausbildung und arbeitete schließlich einige Jahre in Teilzeit als Verkäuferin. Das lief ganz gut, noch immer konnte sie ihre Sucht meistens verstecken. Für ihre Umgebung war sie einfach gut drauf. Nur ihre Chefin merkte manchmal, was los war und schickte sie heim.

In dieser Zeit, zehn Jahre ist das jetzt her, kam ihr zweites Kind auf die Welt. Diesmal eine Tochter. Auch deren Erzeuger war auf Drogen und als Familienvater nicht zu gebrauchen. In dieser Zeit, mit dem Säugling im Arm, begann langsam die Überzeugung zu reifen, dass es so nicht weitergehen kann. „Immer öfter quälte mich die Vorstellung, dass ich irgendwann nachts sterbe und mich morgens meine kleine Tochter findet“, sagt Michaela.

Entgiftungen im Krankenhaus

Sie wollte deshalb die harten Drogen loswerden – und griff als Ersatz zum Alkohol. Am Morgen fing sie damit an und hörte erst am späten Abend auf. Sie wurde zur Spiegeltrinkerin, glaubte, einen bestimmten Alkoholpegel zu benötigen, um zu funktionieren, ihren Job, die Kinder und den Haushalt zu bewältigen. Zwei Flaschen Wodka pro Tag waren die Norm.

Später hat sie ihren erwachsenen Sohn einmal gefragt, was schwerer war für ihn, die Mutter als Drogenkonsumentin oder die Mutter als Alkoholikerin. Er antwortete ganz klar: Der Alkohol war schlimmer.

In dieser ganzen Zeit kam sie insgesamt 17 mal zu Entgiftungen ins Krankenhaus. Jahrelang ging das so, auch eine Langzeittherapie, die sie vor fünf Jahren versuchte, blieb ohne Wirkung. Kaum war sie wieder daheim, ging die Trinkerei weiter.

Therapie im Erzgebirge

Die Wende in ihrem Leben nahm wohl ihren Anfang, als ihre Eltern sich aus Sorge um Tochter und Enkel an das Jugendamt wandten. Nach vielen Gesprächen dort stand fest: Michaela wurde aufgenommen in ein betreutes Wohnen im Erzgebirge, wo sie mit anderen alkohol- und drogenabhängigen Frauen zusammen leben und therapiert werden sollte. Die Großeltern übernahmen unterdessen das Sorgerecht für ihre Enkel.

Im Erzgebirge passierte so einiges mit Michaela. Sie, die mit Anfang 30 noch ohne äußerliche Spuren ihrer Sucht geblieben war, sah die Gesichter ihrer meist wesentlich älteren Mitbewohnerinnen und bekam eine Vorstellung, wie sie selbst in einigen Jahrzehnten aussehen könnte. Sie erlebte die Verwüstungen, die Drogen im Kopf und in der Seele anrichten. Zudem nagte es an ihr, nur noch Mutter auf Zeit zu sein. Nur dann nämlich, wenn sie einmal im Monat heimfahren durfte.

„Ich begann jetzt, mir ein neues Leben zu arbeiten“, erzählt Michaela. „Aber der Entzug war hart, es tat sehr weh“.

Corona kam wie gerufen

Nach vollen zweieinhalb Jahren war es 2019 schließlich geschafft. Endlich clean. Als ihr Vater sie zwei Tage vor Weihnachten abholte, war ihr trotzdem ziemlich bange. Schaffe ich das? Halte ich durch? Können meine Kinder wieder Vertrauen zu mir gewinnen? Können wir noch ein normales Leben führen?

Aber dann zu Weihnachten mit der ganzen Familie und in den Monaten danach kam es ihr vor, als wäre alles einfacher als gedacht. Als würden alle Wünsche, die sie hatte, in Erfüllung gehen. Sie konnte wieder in ihre alte Wohnung, für die die Eltern zweieinhalb Jahre lang die Miete weitergezahlt hatten. Sie hatten nicht nur ihre Kinder behütet, sondern auch immer zu ihr gestanden, natürlich auch jetzt. Und ihre Kinder, das war die schönste Überraschung, waren glücklich, ihre Mama wiederzuhaben. „Das Vertrauen war wieder da. Ein tolles Gefühl.“

Corona kam dann 2020 für Michaela und die Kinder wie gerufen, wie sie heute meint: Sie waren jetzt den ganzen Tag zusammen, konnten reden, spielen, Home-Schooling organisieren, sie bekamen sogar Urkunden dafür. Sie gaben ihrem Leben eine feste Struktur, die für alle drei wichtig war nach der langen chaotischen Zeit.

Stiftung Lichtblick half mit Spende

„Eines Tages, beim Gemüseputzen fürs Mittagessen, die Sonne schien durchs Fenster, war ich zum ersten Mal so richtig rundum zufrieden. Ich wusste sofort: Das ist die ,zufriedene Abstinenz‘, von der mir die Therapeuten schon seit Jahren berichtetet hatten.“ Wenn ein Suchtkranker diesen Zustand erreicht, dann hat er es geschafft. Mit einiger Sicherheit jedenfalls.

Inzwischen läuft es in Michaelas Familie. Ihr Sohn hat eine Ausbildung begonnen, er ist sehr selbstständig. Er raucht nicht, er trinkt nicht, schon gar nicht kommen Drogen infrage. Die zehnjährige Tochter ist ehrgeizig und fleißig in der Schule. Michaela selbst hat eine einjährige Ausbildung in der Seniorenbetreuung begonnen und viel Freude dabei. Zu schaffen macht ihr allerdings, dass der Hartz IV-Satz mit dem Lehrlingsgeld ihres Sohnes verrechnet wird. Nicht nur, dass sie alle drei nicht viel Geld zum Leben haben. Schlimmer ist für sie, dass ihr Sohn nur 90 Euro Taschengeld für sich behalten darf.

Unangenehm ist ihr auch, dass die Stiftung Lichtblick mit einer Spende einsprang. Die Waschmaschine war kurz davor, ihren Geist aufzugeben, machte ganz fürchterliche Geräusche. Das hörte ihre Sozialbetreuerin, die sich um einen Antrag bei Lichtblick kümmerte. „Es war unglaublich: Schon nach kurzer Zeit hatte ich das Geld auf dem Konto und konnte eine neue Waschmaschine kaufen. Ich bin so happy!“

Bald schon, im Sommer nächsten Jahres, könnte es vorbei sein mit den vielen Hilfen. Dann will Michaela als Seniorenbetreuerin arbeiten, ihr eigenes Geld verdienen und den Sohn entlasten.

Sieht so aus, dass sie es schafft.

Michaela ist nicht ihr richtiger Name. Ihren Wunsch, nicht erkannt zu werden, um die Chance auf einen Neuanfang nicht zu verbauen, hat die Redaktio selbstverständlich akzeptiert.